Foto: Emory University 

09. März 2019

Der Roboter DaVinci führt das Skalpell ruhiger als jede Medizinerhand und kommt auch bei kritischen Eingriffen immer häufiger zum Einsatz, vor allem in den USA. Unsere Autorin war bei einer Operation am Herzen dabei.

Von Katja Ridderbusch

Im Operationssaal von Dr. Douglas Murphy wird wenig gesprochen. Und wenn, dann nur in Halbsätzen und Stichworten, nie mehr als nötig. Das Team ist seit Jahrzehnten eingespielt, jeder weiß genau, wer was als Nächstes tut. „Die Choreografie ist so flüssig und präzise wie bei einem Broadway-Stück“, sagt Murphy.

Der große, hagere Mann strahlt die Gelassenheit einer langen Karriere aus. Mit seinem OP-Assistenten und dem Kardiotechniker arbeitet der 69-Jährige seit fast 40 Jahren zusammen, Tausende Eingriffe am offenen Herzen haben sie durchgeführt, darunter die erste Herztransplantation in Atlanta 1987. Pioniergeist bewies Murphy auch vor 17 Jahren, als er ein höchst ungewöhnliches Mitglied in sein OP-Team aufnahm: den Roboter DaVinci.

Weltweit sind heute mehr als 4400 DaVincis im Einsatz, die meisten in den USA, immer mehr aber auch in Deutschland. OP-Roboter helfen bei Prostataoperationen, Gebärmutterentfernungen, Darmoperationen sowie Eingriffen im Mund- und Rachenraum, und zunehmend auch bei Herz-OPs.

Der OP-Saal der Zukunft, so scheint es, gehört den Chirurgen aus Metall und Plastik. Doch der Schein trügt: Auch mit Robotern entscheiden menschliches Geschick und Erfahrung über den Ausgang einer Operation.

Douglas Murphy, leitender Herzchirurg am St. Joseph’s Hospital der Emory-Universität in Atlanta, hält inzwischen einen Weltrekord: Mit gut 3000 Eingriffen hat er mehr Herz-OPs mithilfe eines Roboterassistenten durchgeführt als jeder andere Herzchirurg. Hat Herzklappen repariert und ersetzt, Tumoren entfernt, Löcher geschlossen und Bypässe gelegt. Ein bis zwei Operationen führt Murphy jeden Tag durch. Sein OP-Plan ist drei Monate im Voraus ausgebucht, die Warteliste ist lang. Manchmal kommt noch ein Notfall hinzu.

An diesem Mittwoch zum Beispiel. Murphy steht um drei Uhr morgens am OP-Tisch, stillt eine schwere Blutung nach einer Herzoperation, ganz ohne Roboter. Gegen sieben Uhr schaut er dann im Vorbereitungsraum bei seinem nächsten Patienten vorbei. Scott Nelson ist 37 Jahre alt, schlank, blass, wortkarg. Der Landschaftsgärtner lebt in Hawaii, mehr als 7000 Kilometer hat er zurückgelegt, um in Atlanta operiert zu werden. Im letzten Jahr entzündete sich in seinem Herzen die Mitralklappe. Als eines von vier Ventilen im Herzen verbindet die Herzklappe linken Vorhof und linke Herzkammer. Mit ihren beiden „Klappensegeln“ ähnelt sie in ihrer Form einer Bischofsmütze.

Seit der Entzündung schlägt Nelsons Herz nicht mehr richtig, nur durch eine Operation hat er noch eine Chance auf ein normales Leben. „Der Plan ist, Scotts eigene Herzklappe zu reparieren, anstatt sie durch eine künstliche zu ersetzen“, erklärt Murphy. Patienten mit künstlich-mechanischen Herzklappen müssen für den Rest ihres Lebens hoch dosierte Blutverdünner einnehmen und haben ein erhöhtes Schlaganfallrisiko. Nach einer Reparatur reicht in der Regel eine tägliche Dosis Aspirin. Doch mit einem konventionellen, also offen-chirurgischen Eingriff lasse sich eine derart defekte Mitralklappe nur schwer retten. „Mit dem Roboter stehen die Chancen besser – weil der Roboter präziser arbeiten kann.“

Murphy lehnt an der Bettseite, erklärt seinem Patienten den Ablauf der Operation. Zeigt ihm, wo er mithilfe des Roboters die Instrumente einführen wird, auf der rechten Seite, zwischen den Rippen. Er sei nicht besonders nervös, sagt Nelson, nicht mehr. Als er im letzten Jahr krank wurde und nicht wusste, was passieren würde, da hatte er Angst. „Die Operation ist der leichteste Teil.“

Riesenoktopus aus Stahl und Kunststoff

Gegen neun Uhr schieben Pfleger Nelson in den OP-Saal, einen gekachelten Raum, vollgepackt mit Maschinen, Monitoren, Kabeln, und Schläuchen. An den Wänden reihen sich Flachbildschirme, darauf werden später die Kamerabilder vom Operationsgebiet zu sehen sein. Noch steht auch der Roboter an der Wand, ein schlafender Riesenoktopus aus Stahl und Kunststoff, die Arme eingefaltet und mit sterilen Plastikhüllen umwickelt.

Die Anästhesistin leitet die Narkose ein, legt anschließend einen zentralen Venenkatheter an Nelsons Hals. Ein Assistent klebt eine antiseptische Folie auf das Operationsgebiet. Der Patient, wachsgelb und seltsam abstrakt, ist bereit für den Eingriff.

Die Roboteroperation beginnt manuell. Murphy, vollständig vermummt, steht unter kalten Deckenstrahlern, fordert mit leiser Stimme Skalpell, Klemme, Tupfer. Elektrisches Surren, der Geruch von verbrannter Haut, das rhythmische Piepen der EKG-Monitore. Der Chirurg setzt fünf Schnitte auf der rechten Körperseite, jeder etwa zwei Zentimeter lang. Fünf Löcher. Eines für eine endoskopische Kamera, um in den Brustkorb hineinsehen zu können. Drei für die Roboterarme mit OP-Besteck. Eines, durch das sein Assistent, der direkt neben dem Patienten steht, in die Operation eingreifen kann.

Das DaVinci-Operationssystem besteht aus zwei Elementen: dem Roboter mit seinen vier Armen und einer Steuerkonsole, etwa drei Meter von OP-Tisch entfernt, an der der Chirurg sitzt und über zwei Steuergriffe und zwei Fußpedale den Roboter lenkt. Die Roboterarme hängen jetzt über dem Patienten. Der Assistent koppelt die Instrumente an und führt sie in den Körper ein. Murphy tritt vom OP-Tisch zurück, streift sich den sterilen Kittel und die Handschuhe ab, schlüpft aus seinen OP-Schuhen und setzt sich in Socken vor die Konsole. Er schiebt Daumen und Zeigefinger durch weiße Schlingen an den Steuergriffen, legt das Kinn auf die Stütze vor dem Bildschirm – und erweckt den Roboter zum Leben.

Murphy sieht das Operationsgebiet jetzt in 3-D und bis zu zehnfacher Vergrößerung. Auf den Monitoren sieht man, wie das Skalpell den Herzbeutel öffnet und das zuckende Herz freilegt. Murphys Hände bewegen sich fließend, mit kleinen Drehungen aus dem Handgelenk. Synchron dazu heben und senken sich die Roboterarme, rotieren über dem Patienten wie an starken, unsichtbaren Fäden.

Alle Macht dem Menschen

„Der Begriff Roboter ist eigentlich irreführend“, sagt Murphy. Lasse an ein Science-Fiction-Szenario denken, wo Computer die Macht über den Menschen erlangen, oder auch an die Fertigung, wo Roboter autonom bestimmte Tätigkeiten ausführen. Doch das DaVinci-System ist nicht programmiert, um intelligent zu sein. Der Roboter ist Befehlsempfänger, und die Machtverhältnisse sind klar: „Die Kontrolle liegt bei mir“, sagt der Chirurg. Der Computer liest die Bewegungen seiner Hände und sendet die Signale an die Roboterarme. Telemanipulation wäre der treffendere Begriff, sagt Murphy.

Und die bringt eine Reihe von Vorteilen. Der Chirurg hat eine bessere Sicht als mit dem bloßen Auge oder einer gängigen endoskopischen Kamera mit 2-D-Bildern. Er hat mehr Beweglichkeit und einen größeren Radius im Operationsgebiet, weil der Roboter mit dem OP-Besteck in Winkel vordringen kann, die der Chirurg sonst nicht erreicht. Hinzu kommt: Der Roboter hat eine Software, die das leiseste Zittern der Hände oder auch unwillkürliche Bewegungen ausgleicht. All das erlaubt präziseres Arbeiten, kann zum Beispiel den Unterschied zwischen der Reparatur und dem Ersatz einer Herzklappe ausmachen.

Inzwischen hat der Kardiotechniker die Herz-Lungen-Maschine in Gang gesetzt. Er wirft Informationen in den Raum, Blutvolumen, Bluttemperatur, Sauerstoffsättigung. Murphy legt die Hände in den Schoß. Warten. 14 Minuten später hört Scott Nelsons Herz auf zu schlagen. Das EKG zeigt eine Nulllinie. Es ist 10:10 Uhr.

Die Infektion hat ein Loch in das vordere Segel von Nelsons Mitralklappe gefressen. Die Sehnenfäden am hinteren Segel sind zerstört, ausgefranst. Murphy schneidet einen winzigen Lappen aus dem Herzbeutel und beginnt, damit das Loch zu flicken. Eine gekrümmte Nadel quält sich Stich für Stich durch das helle Muskelgewebe, das zäh aussieht, gummiartig. Er könne das Operationsgebiet durch die Vergrößerung sehr gut sehen, sagt Murphy. „Aber ich kann das Gewebe nicht fühlen. Das ist ein kleiner Nachteil.“

Murphy befestigt nun die ausgefransten Sehnenfäden und stabilisiert die beiden Klappensegel mit einem Kunststoffring. Er kontrolliert das Operationsgebiet, spült das Herz mit einer Kochsalzlösung – ein Testlauf für die reparierte Herzklappe. Er gibt dem Kardiotechniker das Signal, den Blutfluss zum Herzen wieder in Gang zu setzen. Scott Nelsons Herz erwacht bei der ersten Berührung mit dem Blut, der Rhythmus ist noch chaotisch, stabilisiert sich aber schnell. Es ist 12:05 Uhr.

115 Minuten stand das Herz des Patienten still. Das sei etwa doppelt so lang wie bei einer durchschnittlichen roboterassistierten Mitralklappenoperation, erklärt der Chirurg, weil beide Klappensegel stark beschädigt waren. Im Operationssaal war der Patient insgesamt fünf Stunden.

Bessere Chancen für Patienten

Die Chancen stehen gut, dass Nelsons reparierte Herzklappe ihren Operateur überlebt. Und selbst wenn sie irgendwann durch eine künstliche Klappe ersetzt werden müsse, dann würden die Prothesen besser sein als heute, sagt Murphy. „Wir versuchen, Patienten so viel Zeit wie möglich mit ihrem eigenen Organ und den eigenen Organteilen zu verschaffen.“

Douglas Murphy versteht allerdings auch die Einwände gegen DaVinci. „Ein Roboterprogramm macht nur Sinn in großen Klinikzentren, die die finanziellen Möglichkeiten, das Patientenvolumen und die Bereitschaft haben, in die Zukunft zu investieren und sich zu spezialisieren.“ Anschaffungs-, Instandhaltungs- und Operationskosten sind hoch: Ein DaVinci kostet rund zwei Millionen Dollar; die Wartung kann bis zu 100.000 Dollar pro Jahr verschlingen. Die Schulung der Operateure ist zeitintensiv, die anschließende Lernkurve lang.

Am Nachmittag nach Nelsons Operation sitzt Murphy in seinem Büro, noch immer in hellblauer OP-Kleidung, nur seine Augen wirken müde. Er hat in den vergangenen 40 Jahren rund 8500 Herzen operiert, darunter waren auch einige Kunstherztransplantationen. „Wenn man diese menschengemachten Maschinen sieht, die versuchen, die Funktion des Herzens zu imitieren, dann merkt man erst, wie einzigartig das echte Herz ist, wie anpassungsfähig und komplex.“

Über die Jahre hat er immer mehr Respekt vor dem Organ gewonnen, an dem er arbeitet, sagt er. Und ihm sei bewusst geworden: Als Herzchirurgen seien er und seine Kollegen lediglich Mechaniker, Feinmechaniker vielleicht, die versuchten, Schäden so gut wie möglich zu reparieren.

Der Roboter könne Chirurgen helfen, länger durchzuhalten. Zwar bringen ältere Ärzte meist ein sicheres Urteilsvermögen und hohe technische Fertigkeiten mit. Aber der Körper gebe halt immer mehr nach, sagt Murphy und zuckt die Schultern. „Man sieht schlechter, man hört schlechter, der Rücken tut weh.“ Der Roboter gleicht das aus, mit vergrößerten Bildern und einem Audiosystem. Außerdem sitzt der Chirurg auf einem ergonomischen Hocker, anstatt über Stunden am OP-Tisch zu stehen.

Was aber passiert, wenn nicht der Chirurg, sondern der Roboter schwächelt, wenn es zu einem Funktionsausfall kommt? Das sei in den 17 Jahren, in denen er mit dem DaVinci arbeite, nur dreimal passiert, sagt Murphy. Dann versucht das Team einen Systemneustart, wechselt den Roboter aus – Murphys Klinik hat vier davon – „oder wir müssen die Operation konventionell zu Ende bringen“.

Zwei Tage nach dem Eingriff sitzt Scott Nelson in seinem Krankenhausbett, schaut ein Basketballspiel im Fernsehen. Es geht ihm gut, sagt er. Die Wunden müssen heilen, und der Hals tut weh vom Beatmungsschlauch. Aber sein Herz schlägt wieder normal. Noch im Aufwachraum hat er die Schwester um ein Stethoskop gebeten, weil er sein Herz hören wollte. Vor der Operation habe es im Wechsel zwischen einem Klopf- und einem Wischton geschlagen, sagt er. Jetzt klingt es klar, gleichmäßig und stark.

Der Landschaftsgärtner hatte Glück im Unglück: Er ist über seinen Arbeitgeber krankenversichert, seine Krankenkasse übernimmt die Kosten für die Operation, die in den USA 30.000 bis 45.000 Dollar kostet. Er freut sich nun auf zu Hause, auf seine Arbeit und seinen Alltag und darauf, nicht jeden Tag Angst um sein Herz zu haben. „Auf das Leben halt.“

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Hintergrund: DaVinci in Deutschland

Die erste roboterassistierte Bypass-Operation wurde 1998 am Herzzentrum in Leipzig durchgeführt, doch bis heute begegnen deutsche Herzchirurgen dem Roboter mit Skepsis. Sein Einsatz für Herz-OPs sei zu teuer, zu langsam, habe zu wenig Mehrwert für den Patienten, heißt es.

Die größte Hürde „ist die sehr lange Lernkurve“, sagt Christian Schlensak, Ärztlicher Direktor für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie am Universitätsklinikum Tübingen. Solange ein Chirurg keine intensive Erfahrung mit der Technologie habe, könne ein roboterassistierter Eingriff doppelt so lange dauern wie eine herkömmliche Operation. „Und wenn in Deutschland ein OP-Saal nicht mit zwei oder drei Fällen pro Tag ausgelastet ist, haben wir ein Problem.“

Doch auch deutsche Herzchirurgen sind überzeugt: Der Roboter wird kommen. Weil er eine bessere Sicht auf das Operationsgebiet, eine flexiblere Bewegung der Instrumente und eine höhere Präzision bietet als selbst minimalinvasive Verfahren, wie sie in Deutschland mittlerweile Standard sind. Vor allem bei komplexeren Bypass-Operationen könnte DaVinci hilfreich sein.

An deutschen Kliniken stehen derzeit rund 90 DaVincis, mit denen bislang vor allem Urologen arbeiten. „Der Zeitpunkt ist da, die Operationsroboter auch für bestimmte Eingriffe am Herzen zu nutzen“, meint Schlensak. Der Tübinger Herzchirurg hat sich bereits in den USA schulen lassen, noch in diesem Jahr will er den DaVinci bei seinen Operationen nutzen.

© WeltN24 / Katja Ridderbusch