03. August 2019

Reproduktion durch Sex wird in der Zukunft als Risiko für die Kinder betrachtet, prophezeit Jamie Metzl. Im Gespräch erklärt der US-Forscher, wieso die chinesischen Designerbabys „unverantwortlich“ sind – und er verrät, wie wir den Klimawandel mithilfe der Gentechnik überleben.

Von Katja Ridderbusch

Ein Besuch in einer Fortpflanzungsklinik im Jahr 2045. Bei sanftem Licht, plätschernder Musik und starkem Espresso besprechen die künftigen Eltern mit der Ärztin die Ergebnisse des genetischen Screenings ihrer Eizellen, Spermien und Embryos und entscheiden, welche aussortiert, welche genchirurgisch bearbeitet und welche eingepflanzt werden sollen, je nach Mutationen für bestimmte Krankheiten, je nach Anlagen für bestimmte körperliche und charakterliche Eigenschaften.

Das ist eine Szene aus Jamie Metzls neuem Sachbuch „Hacking Darwin. Genetic Engineering and the Future of Humanity“. Metzl, Forscher beim Atlantic Council in Washington, D.C. und im Nebenjob erfolgreicher Science-Fiction-Autor, zieht den großen Bogen von Darwins Evolutionstheorie und Mendels Vererbungslehre über den Einsatz von genetischen Technologien zur Behandlung von Krebs und anderen Krankheiten bis hin in die Zukunft, in der die Menschen Kontrolle über ihr eigenes Design übernehmen. Dabei, schreibt Metzl, gehe es um nichts Geringeres als das Überleben der Menschheit. Mit WELT hat Jamie Metzl über sein Buch, über Sex ohne Fortpflanzungsdruck und über Fluch und Segen der genetischen Revolutiongesprochen.

 

WELT: „Hacking Darwin“ – das klingt nicht so vertrauenerweckend …

Jamie Metzl: 3,8 Milliarden Jahre lang hat sich das Leben auf der Erde durch zufällige Mutation und natürliche Selektion entwickelt. Das ist der Kern von Darwins Evolutionstheorie. Aber jetzt übernehmen wir Menschen zum ersten Mal die Kontrolle über die Hebel der Biologie. Wir gewinnen die Fähigkeit, den biologischen Code des Lebens zu lesen, zu schreiben – und eben zu hacken. 

Das heißt: Von diesem Moment an werden wir Menschen die Evolution steuern. Was vorher mit uns geschah, werden wir von jetzt an mitbestimmen. Das wird in rasantem Tempo nicht nur die Medizin ändern, sondern auch die Art, wie wir uns fortpflanzen und wie wir unseren Nachwuchs für das Leben ausstatten – kurz: die gesamte weitere Evolution unserer Spezies. Und deshalb ist es so existenziell wichtig, dass wir jetzt, nicht erst in fünf oder zehn Jahren, eine breite öffentliche Diskussion über die Zukunft unseres Lebens beginnen, darüber, wie wir diese neuen Technologien am besten einsetzen, wie wir die Vorteile optimieren und den Schaden begrenzen.

WELT: Sind Gesellschaft und Politik auf die genetische Revolution vorbereitet?

Metzl: In verschiedenen Ländern gibt es verschiedene kulturelle, ideologische oder religiöse Hürden, wenn es um die Anwendung von Wissenschaft und Technologie geht. In den USA macht zum Beispiel das Thema Abtreibung jede Diskussion um genetische Selektion von Embryos enorm schwierig, weil sich die Leute sofort hinter Denkbarrieren verschanzen. In Europa schnappt ein ähnlich irrationaler Reflex bei der Debatte um gentechnisch veränderte Lebensmittel, sogenannte GMOs, zu. Ein anderes Problem ist die Regulierung. Die Herausforderung ist, dass sich die Wissenschaft exponentiell in die Zukunft entwickelt, dass aber das öffentliche Verständnis der Wissenschaft und die rechtliche und regulatorische Infrastruktur mit diesem Tempo nicht mithalten können.

WELT: Sie schreiben, dass genetisches Screening, genetische Selektion und genchirurgische Technologien in der Zukunft zu gesunderen Menschen führen werden.

Metzl: Genetische Technologien werden unsere Gesundheitsversorgung tief greifend verändern, und zwar zum Besseren. Wir werden von unserem gegenwärtigen System der generalisierten Medizin, das auf durchschnittlichen Bevölkerungsdaten beruht, zu einem System der personalisierten Medizin übergehen, das auf dem individuellen molekularen Profil der Menschen und ihrer entsprechenden Krankheiten basiert. Teilweise ist das schon heute Realität.

So hat genetisches Screening dazu geführt, dass die Erbkrankheit Tay Sachs, die das Gehirn von Säuglingen und Kleinkindern zersetzt und zu einem frühen und qualvollen Tod führt, deutlich zurückgegangen ist. Auch bei modernen Krebstherapien kommen genetische Technologien bereits zum Einsatz. Bei der CAR-T-Therapie zum Beispiel werden die körpereigenen Abwehrzellen, die sogenannten T-Zellen, gentechnisch so verändert, dass sie Krebszellen besser aufspüren und töten können. Der Mensch wird dann sozusagen mit krebsbekämpfenden Kräften ausgestattet.

WELT: Wie sieht es mit der Prävention von Krankheiten aus?

Metzl: In nicht allzu ferner Zukunft werden wir die Genome der Menschen noch vor ihrer Geburt sequenzieren, und wenn wir Milliarden von Genomen sequenziert haben, werden wir den Menschen nicht nur als Individuum, sondern auch als Spezies in seiner Komplexität besser verstehen. Das wird dann von einem System der personalisierten Medizin zu einem System der voraussagenden Medizin führen. Soll heißen: Zahlreiche Krankheitsdispositionen, genetische Mutationen also, werden bereits im embryonalen Zustand genchirurgisch entfernt oder vorher herausselektioniert.

WELT: Heißt das, wir werden irgendwann unsterblich sein?

Metzl: Die Menschen werden dank der neuen Technologien deutlich länger leben, und zwar in gutem Gesundheitszustand. Aber ich glaube nicht, dass wir je die Sterblichkeit überwinden können.

WELT: Apropos Leben. Sie gehen davon aus, dass Sex zum Zwecke der Fortpflanzung in Zukunft passé sein wird.

Metzl: Das ist doch eigentlich schon heute so, oder? Wenn Sie sich anschauen, wie viel Sex die Menschen haben und wie viel davon mit dem bewussten Ziel der Fortpflanzung geschieht, dann ist der Prozentsatz winzig. Ich bin tatsächlich davon überzeugt, dass Reproduktion durch Sex in naher Zukunft als ein unnötiges Risiko für die Kinder gesehen wird. Wenn Kinder durch In-vitro-Fertilisation, also durch künstliche Befruchtung im Labor entstehen, haben wir die Chance, durch die Selektion und durch gezielte genchirurgische Eingriffe schwere Krankheiten auszuschließen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Eltern das ablehnen.

WELT: Und wenn doch? Was ist mit denen, die weiter Kinder auf dem ganz altmodischen Weg bekommen, mit allen Risiken und allen Überraschungen?

Metzl: Die werden vermutlich einem wachsenden gesellschaftlichen Druck ausgesetzt sein. Ganz ähnlich wie heute die Menschen, die sich weigern, ihre Kinder impfen zu lassen. Die tun ja auch etwas ganz Natürliches, indem sie ihre Kinder nicht impfen, aber die meisten Leute – ich schließe mich ein – finden, dass die sogenannten Anti-Vaxxers, die Impfgegner, ihre eigenen Kinder und die Menschen in ihrem Umfeld einer Gefahr aussetzen.

WELT: Im vergangenen Jahr präsentierte ein chinesischer Forscher die weltweit ersten genchirurgisch manipulierten Babys. Die Zwillingsmädchen wurden resistent gegen HIV gemacht. Ist das die Zukunft?

Metzl: Das war extrem unverantwortlich. Der Biophysiker He Jiankui hat in großer Geheimhaltung und außerdem überaus schlampig gearbeitet. Die erste Anwendung von genchirurgischen Instrumenten am Menschen hätte von den höchsten ethischen Standards geleitet sein müssen, aber das war leider nicht der Fall. Dennoch: Die gesellschaftlichen Normen werden sich ändern. In der nahen Zukunft wird es normal sein, winzige genchirurgische Eingriffe an Embryos vor der Implantation vorzunehmen. Zunächst wird es zwar nur darum gehen, einzelne, schwere Krankheiten zu eliminieren. Aber dabei wird es nicht bleiben. Und deshalb müssen wir diesen Weg mit großer Demut und Vorsicht gehen.

Eine der größten Gefahren bei der Anwendung der CRISPR-Technologie, der Genschere, am Menschen sind die sogenannten Off-Target-Effekte, wenn nämlich Manipulationen an einer bestimmten Mutation zu anderen, unbeabsichtigten und potenziell gefährlichen Mutationen führen. Die gute Nachricht ist, dass die Präzision der genchirurgischen Technologien ständig zunimmt, und damit wird das Risiko der Off-Target-Effekte sinken.

WELT: Genetische Technologien werden es künftig auch möglich machen, Anlagen wie Größe und Haarfarbe, aber auch Intelligenz, Begabungen und Charaktereigenschaften zu manipulieren. Und verschiedene Gesellschaften dürften verschiedene Vorstellungen davon haben, was ein „verbesserter Mensch“ ist. Ist das nicht gefährlich nah an der Eugenik des 19. Jahrhunderts und der perversen „Rassenlehre“ der Nationalsozialisten?

Metzl: Ja, und das ist für mich auch persönlich eine extrem sensible Frage. Mein Vater kommt aus Österreich, er und seine Eltern haben den Holocaust knapp überlebt und sind 1948 in die USA ausgewandert. Vor dem Hintergrund unserer Geschichte müssen wir besonders behutsam mit der Anwendung dieser Technologien umgehen – und mit der Entscheidung, wer die Chance hat zu leben und wer nicht. Denn genau diese Entscheidung müssen wir bei der Auswahl von Embryos, die in den Mutterleib eingesetzt werden, treffen. Und diese Entscheidung ist nicht einfach und selten eindeutig.

WELT: Sie schreiben, dass genetische Technologien trotz ihrer Anfälligkeit für Missbrauch das Überleben der Menschheit sichern könnten. Wie soll das gehen?

Metzl: Unser Planet wird immer wärmer, und die Pflanzen, die uns ernähren, verändern sich. Wir werden uns anpassen müssen, um zu überleben – nicht nur auf der Erde, sondern auch, wenn unsere Sonne in fünf bis sieben Milliarden Jahren explodiert und das Leben auf der Erde endet. Ich sehe die Zukunft der Menschen als interstellare Spezies, aber wir sind mit unserer jetzigen biologischen Struktur jenseits unseres Planeten nicht lebensfähig, also werden wir uns gezielt gentechnisch verändern müssen, wenn wir weiterexistieren wollen.

WELT: Etwas tagesaktueller gefragt: Macht das Argument, der Mensch werde sich mithilfe genetischer Technologien schon an die Erderwärmung anpassen, es den Klimaskeptikern und Klimalethargikern nicht arg einfach? Eine Lizenz zum Nichtstun?

Metzl: Wir haben einen wunderbaren Planeten und viele von uns, leider nicht alle, leben im Moment sehr gut auf der Erde. Wenn wir diesen Planeten zerstören, würden wir dann einen Weg finden, zu überleben? Wahrscheinlich. Aber warum sollen wir dieses Risiko eingehen?

WELT: Sie scheinen optimistisch zu sein, dass die Menschen insgesamt verantwortlich mit den Instrumenten der genetischen Revolution umgehen. Woher die Zuversicht?

Metzl: Die genetischen Technologien werden sich weiterentwickeln, und zwar rasend schnell. Sie bringen so viele Vorteile bei der Prävention, der Diagnose und der Therapie von Krankheiten, dass die Menschen sie einfordern werden. Und unser Ziel sollte auch gar nicht sein, diese Technologien zu stoppen. Vielmehr müssen wir dafür sorgen, dass wir ein robustes Wertesystem entwickeln, das ihre Entwicklung und Anwendung lenkt und einhegt.

Die Geschichte der genetischen Revolution ist eine zu 90 Prozent positive Geschichte, aber das Ende ist noch nicht geschrieben. Schließlich bin ich auch Science-Fiction-Autor, und ich kann mir viele düstere Zukunftsszenarien vorstellen, in denen sich eine genetische Zweiklassengesellschaft entwickelt, in denen sich eine Gruppe als die genetisch höherwertigen Menschen sieht und die Herrschaft über andere übernimmt, in denen es zu sozialen Unruhen, zu Klassenkämpfen und Bürgerkriegen kommt. All diese Mechanismen sind nicht neu, und die Erfahrungen der Geschichte sollten uns besonders wachsam machen.

Copyright: WeltN24 / Katja Ridderbusch