25. März 2020
In vielen Seniorenheimen dürfen die Bewohner keinen Besuch mehr empfangen. Ist das ethisch vertretbar? Ein Psychotherapeut erklärt, wie man ihr Leben und Sterben auch während der Pandemie human gestalten kann.
Von Katja Ridderbusch
Ausgangssperre, Heimquarantäne, Isolation. Mauern quer durch Familien. Alte Menschen, die in Pflegeheimen verwahrlosen. Ärzte, die aus Mangel an Beatmungsgeräten entscheiden müssen, wer eine Chance aufs Überleben bekommt und wer nicht. Die Corona-Krise stellt Menschen vor Extremsituationen, die noch vor wenigen Wochen kaum denkbar waren. Was sind die psychischen Auswirkungen dieser Krise?
Am Telefon erklärt der Essener Neurologe und Psychotherapeut Prof. Dr. Elmar Busch, ob Panik oder Nachsicht gefährlicher ist. Und er gibt eine Antwort auf die Frage, wie auch in Zeiten der Pandemie ein humanes Sterben zu ermöglichen ist.
WELT: In Europa und den USA sind Kontaktverbote und Ausgangssperren in Kraft. Welche psychischen Auswirkungen hat eine soziale Isolation längerfristig auf die Menschen?
Elmar Busch: Der Mensch kann sich erstaunlich schnell an veränderte Situationen anpassen. Wenn wir den besten Fall annehmen, dann gibt es auch in der Phase einer Isolation guten Zusammenhalt – über soziale Medien, über das Telefon oder persönlich in der Familie. Man gibt seinem Tag eine Struktur, hält sich zu Hause fit, wird möglicherweise kreativ. Dann kommt man gut zurecht mit dieser Situation.
Aber andere entwickeln auch so etwas wie einen Lagerkoller, mit Folgen bis hin zur häuslichen Gewalt. Wenn man vorbelastet ist mit Depressionen und Ängsten, dann ist das Risiko zur Verschlechterung groß. Dann braucht man Hilfe von einem Arzt oder Psychologen, und die sind ja meistens trotz Ausgangssperre zugänglich. Arztbesuche sind erlaubt, und diese Hilfe sollte dringend wahrgenommen werden.
WELT: Haben Sie Patienten in Ihrer Praxis, die unter einer Corona-Depression leiden?
Busch: Ich denke vor allem an eine Patientin, die ihren Ehemann vor einigen Monaten verloren hat und die durch diese Isolation ihrer Kompensationsmöglichkeiten beraubt ist. Sie hatte sehr stark auf bestimmte soziale Mechanismen gebaut, wie die Teilnahme an Gruppenaktivitäten. Die Corona-Krise hat sie zurückgeworfen in dem Prozess, ihre Trauer zu verarbeiten.
WELT: Alte Menschen sind in besonderer Weise betroffen. Diejenigen, die in Pflegeheimen leben, werden von ihren Familien getrennt, angeblich zu ihrem eigenen Schutz. Doch wie Berichte aus Spanien jetzt zeigen, sind diese Menschen schutzloser als je zuvor …
Busch: Ja, alte Menschen, vor allem in Pflegeheimen und Krankenhäusern, leben in einer gefängnisartigen Situation. Besuche von Familienmitgliedern sind verboten. Und tatsächlich hört man die grausigen Berichte aus Spanien, wie es aussehen kann, wenn die Versorgung in Heimen komplett kollabiert.
Wenn sich diese Menschen dann mit dem Virus infizieren, werden sie wie von einem Wasserfall mitgerissen. Wir sehen die Bilder aus Italien: Der Mensch kommt in ein überfülltes Krankenhaus und landet ein paar Tage später in einem Sarg, der anonym per Militärtransport in eine andere Stadt gebracht wird, und es findet ein Begräbnis unter unwürdigen Bedingungen statt.
Und da sollten wir überlegen, ob wir für einen Teil dieser Menschen diese Situation verbessern können, ohne dabei das übergeordnete Interesse, die Eindämmung der Pandemie, zu vernachlässigen.
WELT: Welche Möglichkeiten sehen Sie denn?
Busch: Es gibt bei vielen sehr alten und kranken Menschen den Punkt, an dem das Überleben gar nicht mehr höchste Priorität hat, sondern es geht um den guten Abschied. Und diese Möglichkeit zu einem guten Abschied sehe ich derzeit in akuter Gefahr.
Deswegen halte ich es durchaus für sinnvoll zu diskutieren, ob in dieser Situation Familien, wenn sie die Möglichkeit haben, ihre alten Angehörigen für eine begrenzte Zeit nach Hause nehmen können. Im Fall der Fälle würden sie ihnen damit ermöglichen, zu Hause zu sterben.
WELT: Sollte auch ein alter Mensch, der bereits mit Sars-CoV-2 infiziert ist, nach Hause kommen können?
Busch: Das wäre eine extrem große Belastung durch den Transport und für die Menschen, die diesen Transport begleiten. Und es würde ja automatisch die Infektion in das häusliche Umfeld tragen.
Aber ich bin der Meinung, dass man sehr wohl alte Menschen, die nicht infiziert sind, nach Hause holen kann. Wenn sie dennoch an Covid-19 erkranken, käme die Infektion aus der Familie, die insgesamt betroffen ist. Der alte Mensch würde möglicherweise daran sterben.
Aber vorausgegangen wäre eine Entscheidung, die die gesamte Familie, einschließlich der alten Angehörigen, gemeinsam und sehr bewusst getroffen hat. Und im Fall einer schweren Infektion könnte man dann mit den üblichen Maßnahmen der Palliativmedizin, zum Beispiel mit der Gabe von Opiaten, dem Menschen ein gutes Sterben zu Hause ermöglichen. Auch mit Covid-19 sollte Sterben zu Hause möglich sein.
WELT: Der israelische Verhaltensforscher Ido Erev erklärte jüngst in der „New York Times“, in Krisensituationen sei die Nachlässigkeit häufig verbreiteter als die Panik. Stimmen Sie zu?
Busch: Ja, das Problem der Panik wird meines Erachtens in der Berichterstattung übertrieben. Wir sehen das zwar beim Klopapier, aber das ist ja mittlerweile eher zum Running Gag geworden. Ich erlebe in meinem Umfeld eigentlich keine Panik bei den Menschen. Aber ich sehe Nachlässigkeit. Die Leute tun sich eben schwer, sich von ihren sozialen Reflexen zu verabschieden. Das haben wir beim Händeschütteln eingangs gesehen, und jetzt bezieht sich das auf das Treffen von Freunden in Wohnungen, auch in größeren Gruppen.
Die Infektionen passieren ja gar nicht unter freiem Himmel, sondern in geschlossenen Räumen. Das heißt, das Versammlungsverbot unter freiem Himmel ist sicher notwendig, aber wichtiger wäre es, Regeln für das Treffen in Räumen zu geben. Da gibt es noch viel Nachlässigkeit, und das befördert die Epidemie.
WELT: Ist es gerechtfertigt, Angst einzusetzen, um Menschen zur Einhaltung vernünftiger Maßnahmen – wie der sozialen Distanz – zu bewegen?
Busch: Es gibt ein gesundes Maß an Angst, und das ist wichtig, um schnell zu den richtigen Entscheidungen zu kommen. Angst gerät dann aus dem Ruder, wenn die Bedrohungsszenarien vage sind, die Zeitdauer der Bedrohung beispielsweise unklar ist. Wenn Angst lähmt, ist sie kontraproduktiv.
Die eigentliche Frage ist: Wie energisch müssen Botschaften sein? Und da sollten sich Ton und Inhalt an dem Ernst der Pandemie orientieren. Ja, eine klare und energische Ansprache kann Ängste bei den Menschen verursachen, das muss man dann auch in Kauf nehmen. Aber bewusst übertriebene Dinge zu äußern, um Ängste zu schüren und Verhaltensweisen zu steuern – das ist gefährlich, weil es das Vertrauen untergräbt.
WELT: Die Corona-Krise stellt vor allem Ärzte vor extreme ethische Fragen. Wenn die Intensivstationen immer voller werden und die Beatmungsgeräte immer knapper, müssen sie entscheiden, wer die besten Überlebenschancen hat …
Busch: Es geht dabei immer um das Verhältnis zwischen den aktuell vor Ort verfügbaren Ressourcen und dem Zustand der Patienten, die eingeliefert werden. Und das variiert zwischen den jeweiligen Orten. Dort, wo es mehr Ressourcen gibt, können diese großzügig zum Einsatz kommen, aber wenn Fälle an Orten mit großer Unterversorgung auftreten, dann muss man ganz anders vorgehen.
Das ist wie bei einem großen Unfallgeschehen, dort teilen die Ärzte die Patienten nach Sichtungskategorien ein, die den Zustand der Verletzten und die Ressourcen vor Ort berücksichtigen. Außerdem werden Prioritäten für den Transport verteilt. Analog müssen bei Covid-19 und einem überlasteten Gesundheitssystem Prioritäten für die Beatmung verteilt werden. Notfallmediziner werden in ihren Kursen zu Massenunfällen darin auch geschult.
WELT: Halten Sie die Einführung von Maßzahlen bei der Behandlung von Covid-19-Patienten für sinnvoll, vergleichbar dem Sofa-Score, der den Grad des Organversagens bei Patienten mit einer Sepsis misst und damit deren Überlebenschancen?
Busch: Allgemeine Scores helfen immer dann, wenn ausreichende Ressourcen zur Verfügung stehen, um die aus der Situation abgeleiteten Konsequenzen auch umzusetzen.
WELT: Wie sieht es längerfristig mit der psychischen Gesundheit der Ärzte aus, die jetzt an der vordersten Front im Einsatz gegen das neuartige Coronavirus arbeiten?
Busch: Am wichtigsten ist es, dass die Kollegen auch Erholungszeiten bekommen, das gilt sowohl akut während der Krise als auch danach. Ich halte es für möglich, dass manche der Ärzte, die in diesen Wochen rund um die Uhr um das Leben von infizierten Patienten ringen, in einigen Monaten unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden.
Sie müssen ja ständig in Überforderungssituationen handeln, in Situationen, in denen Patienten versterben, die sie unter anderen Bedingungen hätten retten können. Das kann Schuldgefühle verursachen, und diese Schuldgefühle wiederum können auf persönliche Dispositionen treffen, sodass psychische Störungen entstehen. Zum Glück gibt es für posttraumatische Belastungsstörungen mittlerweile wirksame Behandlungsmöglichkeiten.
Zur Person:
Der Essener Neurologe und Psychotherapeut Prof. Dr. Elmar Busch hat an der Stanford-Universität in den USA geforscht und war Chefarzt mehrerer neurologischer Kliniken in Deutschland. Er hat lange mit älteren Patienten und mit Demenzkranken gearbeitet.
© WeltN24 | Katja Ridderbusch