17. Juli 2020
Seit Wochen schnellen die Fallzahlen in den USA in immer neue Rekordhöhen, die Intensivstationen füllen sich. Experten nennen dafür viele Gründe – darunter auch eine kulturelle Besonderheit, die jetzt im Sommer voll zum Tragen kommt.
Von Katja Ridderbusch
In Phoenix, Arizona, reiht sich in glühender Hitze Auto an Auto auf Parkplätzen mit hastig errichteten Covid-Teststationen, die Schlangen reichen bis weit auf die Straße. In Houston, Texas, in Miami, Florida und in Los Angeles, Kalifornien, sind die Intensivstationen der Krankenhäuser voll, die Schutzausrüstung für das Personal wird knapp, immer mehr Ärzte und Pfleger infizieren sich mit dem Virus. In South Carolina helfen Soldaten der Nationalgarde bei der Erstversorgung von Patienten. In Georgia ordnete der Gouverneur wie bereits im April an, ein Feldkrankenhaus im Kongresszentrum von Atlanta aufzubauen.
Die Zahl der täglichen Neuinfektionen in den USA liegt nach jüngsten Zahlen der Nachrichtenagentur Reuters bei 75.255, mehr als je zuvor seit Beginn der Krise. Allein in Florida wurden am vergangenen Sonntag gut 15.000 Menschen positiv auf Covid-19 getestet. Am schlimmsten Tag in New York, dem ersten Epizentrum der Pandemie, waren es Anfang April 12.274.
„Es ist eine Höllenshow“, schreibt Dr. Richard Loftus, Internist beim Eisenhower Medical Center in Rancho Mirage in der Nähe von Los Angeles im Facebook-Post einer Ärzte-Gruppe.
Bilder, Berichte und Zahlen wie aus einer Wiederholungsschleife der Corona-Pandemie, nur noch extremer als vor einigen Wochen. Während in den meisten Ländern Europas und Asiens die Fallzahlen sinken, schnellen sie in den USA seit Ende Juni in neue Rekordhöhen. Und viele Beobachter auf beiden Seiten des Ozeans fragen: Warum?
„Die erste Welle wurde nicht voll ausgebremst“, sagt Rafael Mikolajczyk, Epidemiologe und Infektionsmediziner am Universitätsklinikum Halle (Saale). Die Zahlen in den USA deuteten auf eine unkontrollierte Ausbreitung hin, aber auch auf eine regionale Verlagerung – vom pazifischen Nordwesten um Seattle und dem Nordosten um New York und Massachusetts Richtung Süden und den Südwesten. Diese neue Welle „wird sich auch nicht so bald von selbst ausbremsen“, setzt Mikolajczyk hinzu. „Die Prävalenz bereits infizierter Menschen ist davon noch weit entfernt.“
Die USA seien als Land zu groß, demografisch, politisch, sozial und ökonomisch zu vielfältig, um wie viele europäische Staaten mit national klar koordinierten Maßnahmen gegen das Coronavirus vorzugehen, betont Arthur „Art“ Reingold, Epidemiologe an der University of California, Berkeley, bei San Francisco. „Die USA sind ein durch und durch föderalistisches Land, und ein Großteil unserer Gesundheitspolitik ist Sache der Einzelstaaten.“
Dennoch zeigen die steigenden Corona-Fallzahlen vor allem im Süden und Südwesten ein bestimmtes Muster: Es handelt sich vor allem um Staaten, in denen zunächst nur laxe oder gar keine Maßnahmen zur Einhaltung von Abstandsregeln und zum Tragen von Gesichtsmasken getroffen wurden – wie Arizona oder Texas. Hinzu kommen Staaten, die bereits früh, während die Infektionszahlen der ersten Welle noch im Ansteigen waren, ihre Wirtschaft wieder öffneten.
Georgia war Pionier, als Gouverneur Brian Kemp am 1. Mai den Startschuss gab – und zwar ausgerechnet für Friseure, Fitnesscenter, Tattoo-Läden und Massagestudios. Die neue Infektionswelle gehe zum Großteil auf das Konto von Leuten, „die nicht begreifen oder nicht begreifen wollen, dass wir unser Verhalten fundamental ändern müssen, um das Virus unter Kontrolle zu bringen“, sagt Reingold.
Doch selbst im liberalen Westküstenstaat Kalifornien schnellen die Zahlen nach oben – obwohl Kalifornien als erster US-Bundesstaat einen strengen Shutdown verhängt und zunächst als Vorbild für mustergültige Pandemie-Krisenreaktion galt. Doch mit Beginn des Sommers und den ersten Lockerungen strömten auch hier die Menschen an die Strände und in die Bars. Hinzu kommt: „Kalifornien ist kein Monolith“, sagt Reingold. Der bevölkerungsreichste und flächenmäßig drittgrößte US-Bundesstaat sei geografisch wie demografisch extrem vielfältig, mit Metropolen wie San Diego, L. A. und San Francisco sowie dünn besiedeltem Farmland.
Entsprechend unterschiedlich seien auch die Maßnahmen gegen Corona lockerer in Südkalifornien, strikter in Nordkalifornien. Doch selbst im Norden, in der Bay Area um San Francisco, steigen die Infektionszahlen seit Kurzem wieder an. „Die Botschaft ist wohl einfach schwer zu vermitteln“, sagt Reingold, „dass eine Rückkehr zu den guten alten Tagen auf absehbare Zeit nicht möglich ist“.
Sandro Galea ist Mediziner, Epidemiologe und Dekan der Fakultät für Public Health an der Boston University. Er hat noch eine weitere Erklärung für den rapiden Anstieg der Covid-19-Fallzahlen im Süden und Westen des Landes. Sie hat mit dem Klima zu tun – und mit einem kulturellen Unterschied zwischen den USA und Europa. Das erneute Anschwellen der Infektionen falle mit dem Beginn des Sommers zusammen, sagt Galea, der ursprünglich aus Malta kommt. „Die Sommer sind heiß in diesen Regionen, und Amerikaner neigen dazu, sich im Sommer mehr drinnen, in klimatisierten Räumen aufzuhalten als draußen“, sagt er – anders als die meisten Europäer.
Tatsächlich gibt es deutliche Hinweise darauf, dass sich das Virus draußen weniger schnell verbreitet als in Innenräumen. Zusammen mit einer Lockerung der Restriktionen könne dieser Trend – die Verlagerung des sozialen Lebens nach drinnen – also durchaus eine Rolle beim Hochspringen der Fallzahlen spielen, sagt der Epidemiologe.
Deshalb warnt er auch davor, öffentliche Erholungsgebiete zu schließen, so wie es zuletzt einige Küstenstädte von Los Angeles bis Miami taten – aus Angst vor Überfüllung. „Schließt die Bars, aber öffnet die Strände und öffnet die Parks“, sagt Galea. Dabei müssten selbstverständlich die Abstandsregeln eingehalten werden. In den USA beträgt der empfohlene Abstand für Social Distancing sechs Fuß, knapp zwei Meter.
Public-Health-Experten wie Galea und Reingold sind sich einig: Dass das Sars-CoV-2-Virus in den USA so besonders gedeihen kann, habe viel mit den strukturellen Schwächen des Sozial- und Gesundheitssystems zu tun. Trotz der Fortschritte durch „Obamacare“, der Gesundheitsreform des früheren Präsidenten, ist das Land von einem allgemeinen Krankenversicherungsschutz für alle Bürger weit entfernt.
Noch immer sind Arzt- und Krankenhausrechnungen der Hauptgrund für Privatinsolvenzen. Hinzu kommt eine mangelnde soziale Absicherung. Regelungen wie der Schutz des Arbeitsplatzes und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sind, wenn sie überhaupt bestehen, oftmals lückenhaft. Das führe dazu, „dass in den USA Erkrankte mit leichten Symptomen nicht so einfach zu Hause bleiben können wie in Deutschland“, sagt Infektionsmediziner Mikolajczyk aus Halle. Und damit erhöht sich das Verbreitungsrisiko des Virus.
Auch vertiefe und verstärke die Pandemie die ohnehin bestehenden sozialen Ungleichheiten in der amerikanischen Bevölkerung, ergänzt Galea. Insbesondere ärmere Bevölkerungsgruppen, darunter viele Afroamerikaner und Latinos, leiden häufiger an chronischen Erkrankungen wie Diabetes, Übergewicht und hohem Blutdruck – Erkrankungen, die wiederum empfänglicher für Covid-19 machen. Wer nicht oder schlecht krankenversichert ist und um seinen Arbeitsplatz fürchten muss, lässt sich häufig gar nicht oder erst spät testen.
Auch haben Menschen aus unterprivilegierten sozialen Gruppen seltener Jobs, die ihnen eine Arbeit von zu Hause ermöglichen; zudem leben sie oft in beengten Wohnverhältnissen und können sich, wenn sie krank werden, weniger effizient isolieren. Das heißt: „Soziale Ungleichheiten können sich ganz konkret auf die Virusübertragung auswirken“, sagt Galea. „Und umgekehrt leiden ärmere Menschen auch besonders unter den Folgen der Pandemie. Das ist ein fataler Teufelskreis.“
Bei aller Vielfalt des Landes – und der Notwendigkeit, Maßnahmen wie die Öffnung von Geschäften, Kirchen und Schulen auf kommunaler Ebene zu entscheiden – könnten nationale Richtlinien für Klarheit sorgen, die Krisenreaktion verbessern und so manche Debatte im Keim ersticken, sagt Epidemiologe Galea. „So würde beispielsweise ein landesweites Gebot zum Tragen von Mund- und Nasenschutz in öffentlichen Räumen die Maske destigmatisieren.“ Doch die Regierung von Donald Trump „ – in einer Mischung aus Inkompetenz und ideologischer Verbohrtheit – ist unfähig, das zu tun“, sagt Galea.
Dringend notwendig seien auch einheitlichere Standards und eine straffere Koordinierung beim Testen auf Covid-19, setzt er hinzu. Seit dem Anstieg der Fallzahlen haben sich die Wartezeiten auf Testergebnisse wieder verlängert: eine Woche oder auch länger ist derzeit keine Seltenheit.
Mittlerweile haben 26 der 50 Bundesstaaten sowie zahlreiche Kommunen Maskengebote verhängt, darunter auch Texas, wo noch bis Ende Juni nur wenige Menschen Masken trugen. Rund 30 Bundesstaaten, darunter auch Kalifornien, nahmen ihre Lockerungen zurück; dort müssen Bars, Restaurants, Kirchen, Fitnessstudios, Friseure und Museen bis auf Weiteres wieder schließen.
In einigen Staaten wie Georgia kommt es sogar zum Streit zwischen Kommunen und bundesstaatlicher Regierung. Der spielt sich mitunter auf offener politischer Bühne ab. So verfügte die demokratische Bürgermeisterin von Atlanta, Keisha Lance Bottoms, die gerade ihre eigene Covid-19-Infektion bekannt gab, eine Maskenpflicht für ihre Stadt sowie eine Rückkehr zu einem strengen Lockdown. Doch der republikanischer Gouverneur Brian Kemp erklärte die Anordnung zur Maskenpflicht am Mittwoch für nichtig.
Und selbst bei gutem Willen seien Maßnahmen wie Quarantäne und Contact Tracing „kaum noch wirksam, wenn die Ausbreitung des Virus so weit fortgeschritten ist und die Infektionsketten nicht mehr zurückzuverfolgen sind“, sagt Art Reingold, der Public-Health-Professor aus Berkeley.
Immerhin geht Reingolds Kollege Sandro Galea davon aus, dass Krankenhäuser in den USA – trotz knapper Ressourcen bei Personal und Ausrüstung – heute insgesamt besser auf den neuen Ansturm von Covid-19-Patienten vorbereitet seien als beim ersten Anstieg im Frühjahr. Dennoch würden einzelne Kliniken in den neuen Hotspots wie Miami, Houston oder L. A. zwangsläufig an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen. Personal und medizinisches Gerät müssten dann aus anderen Teilen des Landes eingeflogen und Patienten auf Kliniken der Region verteilt werden.
Ein Trend allerdings stimmt den Epidemiologen vorsichtig optimistisch, zumindest für den Moment: Die Todesrate, relativ zur Zahl der Infizierten, ist bislang weniger hoch als noch im Frühjahr. Zum einen gäbe es unter den Infizierten mehr jüngere Patienten. „Und die leiden seltener unter Vorerkrankungen und haben bessere Chancen, eine Infektion zu überleben.“
Außerdem verstünden sich Ärzte und Pfleger mittlerweile besser auf die Behandlung von Covid-19-Patienten – „wann soll man Sauerstoff geben, wann soll man invasiv beatmen und wann nicht“, sagt Galea. Zwar gibt es noch keine zugelassene Standardtherapie, aber antivirale Arzneimittel wie Remdesivir sowie hoch dosierte Steroide, Entzündungshemmer also, zeigen bei einigen Patienten gute Wirkung.
Schließlich gebe es Hinweise darauf, dass sich die Dynamik des Virus verändert haben könnte – dass es mutiert sei zu einer Variante, die zwar infektiöser, aber weniger krankheitserregend sei. Doch in diesem Punkt stehe die Forschung „noch ganz am Anfang“, betont Galea. Überhaupt sei er in den letzten Monaten vorsichtig geworden mit Prognosen, Versprechen, kategorischen Urteilen oder dogmatischen Statements, setzt er hinzu. „Wenn diese Pandemie mich eines gelehrt hat, dann ist es Demut. Demut vor dem Virus. (Mitarbeit: Birgit Herden)
© Katja Ridderbusch | WeltN24