16. November 2020

Donald Trump hat verloren, die Präsidentschaftswahl ist gelaufen. Aber unklar ist, wer die Mehrheit im US-Senat haben wird – und das wird das politische Schicksal der USA bestimmen. Ein Besuch in der Stadt, wo sich alles entscheidet. 

Von Katja Ridderbusch

In einem Eckgebäude mit gelber Klinkerfassade und blinden Fensterscheiben, an einer Straßenkreuzung mit oberirdischen Stromleitungen und stacheldrahtumzäunten Parkplätzen könnte sich das politische Schicksal Amerikas entscheiden. „Warnock for U.S. Senate“ steht auf einem blauen Schild an der Gebäudefront.

Hier, im Sweet-Auburn-Distrikt von Atlanta, wo der Bürgerrechtlicher Martin Luther King aufwuchs und begraben liegt, befindet sich die Wahlkampfzentrale von Raphael Warnock. Warnock ist einer von zwei demokratischen Kandidaten im US-Bundesstaat Georgia, die am 5. Januar zu einer Stichwahl gegen die beiden republikanischen Amtsinhaber im Senat, Kelly Loeffler und David Perdue, antreten.

Gewinnen Warnock und Jon Ossoff, der zweite Demokrat im Rennen, könnte Georgia der Demokratischen Partei zu einer Mehrheit im Senat verhelfen – und dem künftigen Präsidenten Joe Biden Jahre der politischen Blockade ersparen. „Ich plane, die Stichwahl zu gewinnen – und für Georgia in den Senat einzuziehen“, erklärt Warnock seit dem Wahlabend.

An diesem Tag ist es ruhig, fast unheimlich ruhig in Sweet Auburn. Vielleicht, weil sich Georgia noch immer in der Schockstarre über den neu gewonnenen Status als sogenannter Battleground State befindet, als bitter umkämpfter Bundesstaat – oder einfach, weil es ein Wochentag im November ist, mitten in der Corona-Pandemie, grau, mit schwerer Luft unter tief hängendem Himmel.

Nachzählung in Georgia 

In keinem Staat fiel die Präsidentschaftswahl knapper aus als in Georgia, wo Biden nach der ersten Runde der Auszählung mit 14.122 Stimmen vor Präsident Donald Trump liegt. Seit Freitag findet auf Antrag der Republikaner eine Nachzählung aller fünf Millionen Stimmzettel statt, und zwar per Hand. 

Nach Angaben des zuständigen Staatssekretärs und Wahlleiters Brad Raffensperger muss die Nachzählung bis zum 20. November abgeschlossen sein, dem Tag, an dem Georgia das Ergebnis amtlich zertifizieren muss.

„Ich bin ziemlich sicher, dass am Ende das Ergebnis unverändert sein wird“, sagt Alan Abramowitz, Politikwissenschaftler an der Emory-Universität in Atlanta, gegenüber WELT. Damit würde Georgia nach 28 Jahren wieder zum „blue state“ werden. Zuletzt hatte der Staat 1992 für den Demokraten – und Südstaatler – Bill Clinton gestimmt.

Ein Sieg der Demokraten sei indes mehr eine einmalige politische Kursabweichung, betont der Forscher. „Trumps Ton und Politikstil haben viele Wähler abgestoßen“, sagt Abramowitz, ebenso wie sein Missmanagement der Corona-Pandemie. 

Doch zeichne sich bereits seit 2012 eine Trendwende in Georgia ab. Vor allem der Großraum Atlanta ist in den vergangenen Jahren rasant gewachsen – um 730.000 Einwohner -, und die Bevölkerung ist ethnisch vielfältiger geworden. „Afroamerikaner, Latinos, Asiaten und andere nicht weiße Bevölkerungsgruppen machen einen immer größeren Anteil der Wählerschaft aus.“ 

Der Wandel zeige sich besonders in den Suburbs, den Vorstädten, wo durch den Zuzug von gut ausgebildeten Immigranten der Anteil der demokratischen Wähler zunehme, sagt Abramowitz.

Die Statistik steht gegen die Demokraten

In Johns Creek im Nordosten von Atlanta zum Beispiel, einer Stadt mit schmucken Backsteinhäusern und manikürten Vorgärten. Es ist der Wahlkreis, für den Angelika Kausche seit 2018 als Abgeordnete im Landesparlament von Georgia sitzt. 

Für sie ist nach der Wahl vor der Wahl: Wir sprechen, während sie im Auto zu einer Versammlung ihrer Demokratischen Partei fährt. Sie will die Wahlkämpfe von Warnock und Ossoff unterstützen – „mit Fundraising-Events, Telefon-Aktionen und Canvassing“, also Tür-zu-Tür-Wahlkampf.

Kausche, die in Deutschland geboren wurde und seit 1997 in den USA lebt, war die erste Demokratin, die je für Johns Creek in den Kongress von Georgia einzog. Zuvor war der Bezirk fest in republikanischer Hand. 

Am 3. November wählte Johns Creek nicht nur Joe Biden, sondern bestätigte auch Kausche mit 53 Prozent der Stimmen. Heute sind fast 50 Prozent der Bewohner von Johns Creek Immigranten, die meisten aus Indien, Pakistan, China, Korea. Das Ausbildungsniveau ist hoch, es gibt viele IT-Experten und Ärzte.

„Jetzt geht es darum, die Wähler im Januar noch einmal an die Urnen zu bekommen“, sagt Kausche. Ihr ist wohl bewusst, dass die Statistik gegen ihre Partei steht. Bislang haben die Republikaner jede Stichwahl in Georgia gewonnen – weil es ihnen in der Regel besser gelingt, ihre Wähler für eine weitere Stimmabgabe zu mobilisieren.

Doch diesmal gehe es um die Kontrolle des Senats, nicht nur um einen einzelnen Sitz, sagt Kausche. Auch erwartet sie, dass in den kommenden Wochen viel politische Prominenz in Georgia aufschlagen werde, darunter der künftige Präsident Joe Biden und seine Vizepräsidentin Kamala Harris. „Wir haben das Momentum des Sieges auf unserer Seite.“

Janelle King sieht das anders. Die 35-jährige Afroamerikanerin ist Unternehmerin in Atlanta mit eigener TV-Talkshow. Und sie ist engagierte Republikanerin, hat am 3. November für Donald Trump gestimmt. Für sie ist nicht Trumps Persönlichkeit entscheidend, sagt sie, sondern seine Politik. Und die findet sie gut.

Auch steht sie voll hinter Trumps bisheriger Weigerung, Bidens Wahlsieg anzuerkennen. „Wenn der Wahlprozess fair ist, können wir das Ergebnis akzeptieren. Was wir aber nicht akzeptieren können, ist, wenn die Integrität des Wahlprozesses in Zweifel steht.“ Schließlich habe auch die demokratische Kandidatin für das Gouverneurs-Amt von Georgia, Stacy Abrams, im Jahr 2018 ihre Niederlage nie offiziell eingeräumt.

Abrams, die sich mit ihrer Organisation Fair Fight für die Mobilisierung unterprivilegierter Wählergruppen engagiert, hatte die Gouverneurswahl denkbar knapp, mit 55.000 Stimmen, gegen den Republikaner Brian Kemp verloren. 

Der Unterschied zur aktuellen Lage: Abrams‘ Protest richtete sich weniger gegen die Stimmauszählung als gegen einen offensichtlichen Interessenkonflikt ihres Gegners: Kemp hatte sich geweigert, vor den Wahlen, in denen er selbst als Kandidat antrat, von seinem damaligen Amt des für die Wahlaufsicht zuständigen Staatssekretärs zurückzutreten.

Janelle King und ihr Mann sind Mitglieder in den Wahlkampfteams beider republikanischer Senatoren. Da ist zum einen Kelly Loeffler, Unternehmerin und Ehefrau von Jeffrey Sprecher, dem Chairman der New York Stock Exchange, der New Yorker Börse. 

Sie war 2019 von Gouverneur Kemp ernannt worden, nachdem der bisherige Senator Johnny Isakson aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten war. Und sie ist besonders stolz darauf, stets auf einer politischen Linie mit Präsident Trump zu liegen. 

Der ehemalige Geschäftsmann David Perdue sitzt seit 2015 für Georgia im US-Senat. Loeffler tritt in der Stichwahl gegen Warnock, Perdue gegen den jungen Dokumentarfilmer Ossoff an.

Ein „harter, schmutziger Wahlkampf“

Beide republikanische Senatoren erhoben in den vergangenen Tagen schwere Vorwürfe von Wahlbetrug und Wahlfälschung, ohne dafür konkrete Beweise vorzulegen. Sie forderten den Rücktritt des – übrigens republikanischen – Wahlleiters Raffensperger. Er habe „versagt, ehrliche und transparente Wahlen abzuhalten“, erklärten Loeffler und Perdue. 

Raffensperger wies den Vorwurf ebenso wie die Rücktrittsforderung scharf zurück. „Das wird nicht passieren“, sagte er knapp. Im Gegenzug geißelte die einflussreiche Tageszeitung „Atlanta Journal-Constitution“ in einem einseitigen Kommentar den Vorstoß der beiden Senatoren als „durchtrieben, verantwortungslos und hochgefährlich“. 

Dieser jüngste Tiefpunkt des politischen Taktierens untergrabe „die verfassungsrechtlichen Fundamente der Selbstverwaltung“.

Angelika Kausche geht noch ein Stück weiter. Wenn die Republikaner weiterhin so viel Zweifel an der Legalität des Wahlprozesses schürten, dann könne das auch dazu führen, dass deren Wähler bei der nächsten Runde frustriert zu Hause blieben. „Der Schuss kann für die Republikaner durchaus nach hinten losgehen“, sagt Kausche.

Janelle King glaubt dagegen fest an die republikanische Wählerbasis. „Die Angst, neben dem Weißen Haus und dem Kongress auch noch den Senat zu verlieren, ist für die meisten Republikaner Motivation genug, am 5. Januar zur Stichwahl zu gehen“, sagt King – selbst für diejenigen Republikaner, die Trump als Person ablehnten.

Politikwissenschaftler Abramowitz erwartet, dass der Wahlkampf in Georgia „hart, schmutzig und mit sehr viel Geld geführt“ werde. Obwohl Republikaner normalerweise bei Stichwahlen gut abschneiden, sei die Dynamik diesmal eine andere, sagt er. Zum einen, weil die Demokraten mit Warnock einen hochkarätigen afroamerikanischen Kandidaten im Rennen hätten – „und damit ein starkes Vehikel, schwarze Wähler zu mobilisieren“.

Warnock ist leitender Pastor der Ebenezer Baptist Church in Atlanta, jener Kirche, in der einst Martin Luther King predigte. „Ich gehe davon aus, dass wir im Januar eine hohe Wahlbeteiligung haben“, sagt Abramowitz – nicht so hoch wie bei den Präsidentschaftswahlen, aber deutlich höher als bei früheren Stichwahlen.

Hinzu kommt: Auch bei den Stichwahlen werde die Corona-Pandemie eine zentrale Rolle spielen, sagt der Politikwissenschaftler. In den USA steigt die Zahl der Neuinfektionen derzeit wieder rasant an – und selbst ein guter Impfstoff wird bis Januar kaum Wirkung zeigen. Kombiniert mit dem ohnehin desolaten Zustand des Gesundheitssystems, könne sich der Trend Richtung Demokraten weiter festigen, meint Abramowitz.

Georgia rangiert bei der Zahl der Krankenversicherten auf Platz 47 der 50 US-Bundesstaaten, laut einer Untersuchung der Kaiser Family Foundation. Beide demokratischen Wahlkämpfer in Georgia haben Gesundheitsversorgung zur höchsten Priorität gemacht, plädieren für eine Ausweitung des allgemeinen Versicherungsschutzes.

Und auch nach dem 5. Januar, für die nächsten Wahlzyklen in zwei, vier, sechs oder acht Jahren werde sich Georgia darauf einstellen müssen, einer der heiß umkämpften und haargenau beobachteten Staaten zu sein, sagt Politikwissenschaftler Abramowitz. „Keine Frage, Georgia wird in Zukunft zum Klub der Swing States gehören.“

© WeltN24/Katja Ridderbusch