25. Juni 2021

Der Afroamerikaner George Floyd starb, weil Derek Chauvin neun Minuten und 29 Sekunden auf dessen Hals kniete. Wer war der Mann, der zum berüchtigtsten Polizisten Amerikas wurde? Unsere Reporterin hat sich in Minnesota auf Spurensuche begeben. 

Von Katja Ridderbusch

Die Antwort auf die Frage, wer und wie Derek Chauvin eigentlich war, bevor er zum berüchtigtsten Polizisten Amerikas wurde, ist fast immer die gleiche: dass man sich kaum oder nur vage an ihn erinnern könne.

Die Welt lernte Chauvin in einem Smartphone-Video kennen: der weiße Mann im hellblauen Uniformhemd, unter dessen Knie der Afroamerikaner George Floyd im Mai vergangenen Jahres auf einer Straße in Süd-Minneapolis starb. Der Mann, dessen Tat eine Welle von Protesten gegen systemischen Rassismus über das Land jagte, so kraftvoll wie seit der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er-Jahren nicht mehr.

Vor allem ein körniges Standbild aus dem Video wurde zur Ikone der Grausamkeit, zum Symbol weißer Polizeigewalt schlechthin: jener Moment, in dem Chauvin kurz den Kopf hebt – mit einem Gesichtsausdruck irgendwo zwischen unbeteiligt und abwesend, indifferent und hochmütig, auch seltsam leer und am Ende nicht zu deuten.

Im April verurteilte ein Geschworenengericht in Minneapolis Chauvin wegen Mordes. An diesem Freitag wird das Strafmaß verkündet. Die Staatsanwaltschaft fordert 30 Jahre Gefängnis; die Verteidigung will eine Haftstrafe auf Bewährung. Der Vorsitzende Richter Peter Cahill hat bereits die besondere Schwere der Tat anerkannt. „Ich würde mich nicht wundern, wenn am Ende eine Haftstrafe von 25 Jahren steht“, sagt Richard Frase, Professor für Strafrecht an der University of Minnesota in Minneapolis.

Familie, Freunde und Kollegen von Chauvin sind seit der Tat in Deckung gegangen. Der Platz im Gerichtssaal Nummer 1856, der für Angehörige des Angeklagten reserviert war, blieb an den meisten Prozesstagen leer. Nur wenige, die Chauvin vorher kannten, sprechen öffentlich über ihn, und von den wenigen wollen viele anonym bleiben.

Chauvins Geschichte beginnt in einem Vorort 

Die Geschichte von Derek Chauvin ist eine mit vielen Leerstellen. Ihr größter Teil spielt auf wenigen Quadratkilometern in den Zwillingsstädten Minneapolis und Saint Paul im Bundesstaat Minnesota, tief im Mittleren Westen der USA.

Sie beginnt in einem bescheidenen, mehrheitlich von Weißen bewohnten Vorort im Westen von Saint Paul. Dort wurde Derek Michael Chauvin 1976 geboren. Die Mutter war Hausfrau, der Vater Buchhalter. Die Eltern ließen sich scheiden, als Chauvin sieben war. Sie teilten sich das Sorgerecht für ihn und seine kleine Schwester.

Ehemalige Klassenkameraden an der Park High School erinnern sich in Interviews mit US-Zeitungen an einen schmalen Jungen mit dunklen Haaren, der viel allein war. „Er war ein Gesicht in der Menge“, sagt einer. Eine frühere Schulfreundin erzählt, Chauvin sei von den beliebten Jungen oft aufgezogen worden, weil er linkisch war und sich nicht für Sport interessierte. Manchmal luden die Mädchen ihn ein, sich beim Lunch zu ihnen zu setzen; er tat ihnen leid. „Er hat nicht viel geredet. Er war eher sanft, gar nicht aggressiv, auch wenn die anderen Kids ihn stehen ließen.“

Nach der Highschool jobbte Chauvin in der Küche von „Tinucci’s“, einem Buffet-Restaurant unweit von Saint Paul. Er belegte am örtlichen College Kurse zur Lebensmittelzubereitung und arbeitete als Koch bei einer Fast-Food-Kette.

Dann entdeckte er die Polizeiarbeit, begann ein Studium der Kriminologie und machte später einen Bachelor-Abschluss. Er trat als Reservist in die US Army ein und diente als Militärpolizist – zwischen September 1999 und Mai 2000 auch auf einem US-Stützpunkt im bayerischen Hohenfels. 

Sein ehemaliger Zugführer in Deutschland, Sergeant Jerry Obieglo, erinnert sich an Chauvin als einen stillen, dünnen jungen Mann, der immer pünktlich war, eine saubere Uniform trug und stets auf seine Ausrüstung achtgab. „Ich hatte nie Probleme mit ihm“, sagt Obieglo im Gespräch mit WELT.

In jeder freien Minute habe Chauvin für die Polizeiprüfung in Minnesota gelernt. „Das war sein Ziel, er war sehr fokussiert.“ Chauvin trank nicht und ging nur selten mit seinen Kameraden aus, bot sich aber regelmäßig als Fahrer an. Obieglo erinnert sich auch, dass Chauvin ihm stets detailliert über seine Einsätze Bericht erstattete. Dabei sei er nicht übereifrig gewesen. „Manche meiner MPs haben ständig Strafzettel geschrieben“, sagt er. „Nicht Derek.“

Obieglo sah Chauvin erst 20 Jahre später wieder – in den Zeugenvideos zum Tod von George Floyd. Er habe sein Gesicht zuerst nicht erkannt, sagt er. Es sei sein Gang gewesen, sehr gerade und betont langsam, der die Erinnerung triggerte.

Nach der Rückkehr aus Deutschland legte Chauvin seine Prüfung ab und trat im Oktober 2001 – mit 25 Jahren – der Polizei von Minneapolis bei. Er war angekommen.

Demonstranten schrieben „Mörder“ auf Chauvins Einfahrt

Polizist zu sein war mehr als nur ein Job für Chauvin. Es war, wie er sich sah. Die Art, wie er seine Arbeit tat – das zumindest legt das Patchwork aus Beobachtungen und Bemerkungen von Kollegen nahe –, hatte etwas Bestimmtes, Ernstes, Kompromissloses.

Aber es gab auch leichte Momente, vor allem privat. 2010 heiratete Chauvin Kellie Xiong, eine Radiologie-Assistentin und Maklerin. Sie war mit ihrer Familie, die der Hmong-Minderheit angehört, in den 1980er-Jahren aus Laos in die USA geflüchtet. Das Paar kaufte ein Haus in einer Neubausiedlung nahe Saint Paul, mit vier Zimmern und zwei Garagen, genug Platz für eine Familie. Später erwarben die Chauvins auch ein Ferienhaus in Florida.

Doch offenbar änderten sich die Pläne. Chauvin und seine Frau zogen nach Oakdale, einen ruhigen Mittelklasse-Vorort von Saint Paul mit Laubbäumen, Joggingwegen und einem Hundepark. Sie lebten dort in einem kleineren, unauffälligen, hellgrauen Eckhaus mit breitem Garagentor und einer Rasenfläche ohne Blumen. In den Tagen nach dem Tod von George Floyd zogen Demonstranten vor das Haus, schrieben in roter und weißer Farbe „Mörder“ und „Fuck Killer Cops“ auf die Einfahrt.

Mittlerweile ist das Chauvin-Haus verkauft, die Schriftzüge sind nur noch zu erahnen. Mike, der neben dem ehemaligen Chauvin-Haus wohnt, versuchte öfter, mit seinem Nachbarn ins Gespräch zu kommen. „Wenn man ein ‚Hi‘ von ihm bekam, dann war das schon viel“, sagt er zu WELT. „Er war ziemlich spröde, fast abweisend.“ Seine Frau sei dagegen immer nett gewesen, „ein Sweetheart“. 

Mike erinnert sich, dass Chauvin in der Einfahrt an seinem Auto werkelte, einem schwarzen BMW X5. Kurz vor der Tat müsse das gewesen sein, an einem warmen Tag wie heute. Das sei eine traurige Geschichte, sagt Mike nach einer Pause – für Floyd, für die Stadt, für das Land – und, ja, auch für Chauvin.

Wenige Tage nachdem ihr Mann verhaftet und des Mordes angeklagt worden war, reichte Kellie Chauvin die Scheidung ein.

Die Welt, in der Chauvin als Polizist arbeitete, liegt gut 25 Kilometer westlich der Vorstädte von Saint Paul – und könnte doch andersartiger nicht sein. 16 seiner 19 Jahre im Polizeidienst war Chauvin im Dritten Revier von Minneapolis eingesetzt, einem Innenstadtviertel, in dem die sozialen Spannungen brodeln, die Verbrechensrate hoch ist und das Verhältnis zwischen Bürgern und Polizei seit Langem zerrüttet.

Chauvin war dort bis zum Schluss Streifenpolizist, er übernahm häufig die Nachtschichten, von vier Uhr nachmittags bis zwei Uhr morgens. Er wollte das so, auch wenn andere Polizisten in seinem Alter längst zu weniger aufreibenden Tagschichten und Schreibtischjobs wechselten. Wie viele Polizisten in den USA besserte auch Chauvin sein Einkommen mit Nebenjobs für private Sicherheitsfirmen auf. Er arbeitete als Wachmann für Restaurants, Clubs und Geschäfte, allesamt im Dritten Revier.

Ehemalige Kollegen und Vorgesetzte beschreiben Chauvin als harten und disziplinierten Arbeiter, einsilbig, rastlos, manchmal anmaßend. Er erhielt mehrere Auszeichnungen für besondere Tapferkeit. Aber es gab auch Beschwerden von Bürgern, mehr als 20 in 19 Jahren, die meisten, weil er überreagiert oder unverhältnismäßige Gewalt angewandt habe.

Außerhalb der Arbeit traf der sich selten mit Kollegen. Er war weder beliebt noch unbeliebt, sagt ein Polizist, der gelegentlich mit Chauvin Streife fuhr, gegenüber WELT. „Die meisten konnten einfach nichts mit ihm anfangen.“ Wenn sie gemeinsam Streife fuhren, habe Chauvin wenig geredet, sagt der Polizist. Er erinnert sich auch, dass Chauvin bisweilen dünnhäutig war, schnell aggressiv wurde, „vor allem, wenn Leute ihm physisch zu nahe kamen“.

Während der neuneinhalb Minuten, in denen Chauvin am 25. Mai 2020 vor einem Lebensmittelladen auf dem Nacken von George Floyd kniete, verlor er nur für einen Moment seine unheimliche Contenance – als eine junge Passantin sich mit ihrem Smartphone auf ihn zubewegte. „Komm nicht hierher“, rief Chauvin und zückte sein Pfefferspray.

Das Gebäude des Dritten Reviers ist heute weitgehend zerstört. Wenige Tage nach Floyds Tod stürmten Demonstranten die Polizeistelle und brannten sie nieder. Ein Jahr später gehen die Aufräumarbeiten schleppend voran. Auf dem ehemaligen Parkplatz hinter einem Gitterzaum bricht sich Unkraut durch den Asphalt. Auf eine Betonmauer hat jemand „George Floyd lebt“ geschrieben und „All Cops Are Chauvin“, eine Variation des Schlachtrufs „All Cops Are Bastards“, alle Bullen sind Schweine.

Auch das Gebäude von „El Nuevo Rodeo“, einem Club, in dem Chauvin viele Jahre als Wachmann arbeitete, ist abgebrannt und mittlerweile abgerissen. Die Spuren der Tat ziehen sich tief durch die Stadt – und stehen in einem seltsamen Missverhältnis zum unauffälligen Leben des Täters.

Was Chauvin getan habe, sei schlimm, sagt Joel Sandberg, Polizei-Sergeant im Ruhestand, gegenüber der Lokalzeitung „Star-Tribune“. Aber er sei nicht der Teufel, den jetzt alle aus ihm machten. Sandberg ist einer der wenigen, der sagt, Chauvin sei ein Freund gewesen. „Ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist. Niemand weiß das.“

Es gibt Spekulationen und ein paar vage Hinweise. 19 Jahre als Streifenpolizist in einer Gegend mit hoher Kriminalität seien eine sehr lange Zeit, sagt John Violanti von der University of Buffalo in New York gegenüber WELT. Violanti forscht über Burn-out bei Polizisten. Trauma, Stress und Schichtarbeit hätten schwere Folgen für deren psychische und physische Gesundheit, sagt er. Chauvins Anwalt Eric Nelson führte in seinem Antrag auf Strafmilderung an, sein Mandant leide seit Längerem unter einer stressbedingten Herzerkrankung.

Einige Polizisten, vor allem die lang gedienten, koppelten sich von ihren Emotionen ab, sagt Violanti, „und verlieren damit auch die Fähigkeit, Empathie zu fühlen, überhaupt irgendetwas zu fühlen“ – bisweilen mit gefährlichen Folgen. Er kenne Chauvin nicht persönlich, betont der Forscher. Er hält es aber für möglich, „dass er ein schwer ausgebrannter Polizist war“.

Und dann ist da die Hautfarbe. Rassismus, Diskriminierung und soziale Ungerechtigkeit sind tief verwurzelt in der US-Gesellschaft. Der Tod von George Floyd reiht sich ein in eine jahrzehntelange Serie düsterer Vorfälle. Afroamerikaner werden häufiger von der Polizei gestoppt, haben auch ein deutlich höheres Risiko, im Gefängnis zu landen. Die Polizei von Minneapolis steht seit Längerem in der Kritik, besonders hart gegen ethnische Minderheiten vorzugehen.

Das Gericht fand keinen Hinweis darauf, dass Chauvins Tat selbst rassistisch motiviert war. Doch es war der Tod von George Floyd, der die Spannungen zur Explosion brachte. Chauvin ist der erste weiße Polizist in Minnesota, der im Zusammenhang mit dem Tod eines schwarzen Bürgers angeklagt und verurteilt wurde.

Chauvin selbst hat bislang geschwiegen, über seine Tat, sein Motiv, seine Sicht. Er hat keine Reue gezeigt und kein Bedauern geäußert, zumindest nicht öffentlich. Bei seinem Prozess lehnte er es ab auszusagen. Er verfolgte die Zeugenbefragungen sowie die Ausführungen von Anklage und Verteidigung aufmerksam, machte sich Notizen. Auch das Urteil – schuldig in allen Anklagepunkten – nahm er mit großer Sachlichkeit entgegen. Er nickte kurz und ließ sich dann in Handschellen aus dem Gerichtssaal führen.

Umgeben von Stacheldraht und eingebettet in sanfte Grashügel

In Downtown Minneapolis rüsten sich derweil TV-Übertragungswagen und Sicherheitskräfte für den Moment, wenn Richter Cahill am frühen Freitagnachmittag das Strafmaß verkündet. Es wird nicht das letzte Mal sein, dass ein Gericht über Chauvins Schicksal berät. Ihm und seinen drei Ex-Kollegen, die in Minnesota der Beihilfe zum Mord an George Floyd angeklagt sind, droht ein weiteres Verfahren wegen Bürgerrechtsverletzungen vor einem Bundesgericht.

Chauvin muss sich ferner verantworten, weil er 2017 bei einem Einsatz zur häuslichen Gewalt einen 14-jährigen Jungen mit seiner Taschenlampe geschlagen und ihm sein Knie in den Nacken gedrückt haben soll. Schließlich sind Chauvin und seine Ex-Frau der Steuerhinterziehung angeklagt.

Strafrechtsprofessor Frase erwartet jedenfalls, dass Chauvin für sehr lange Zeit in Haft bleiben wird – vermutlich dort, wo er bereits jetzt einsitzt, im Hochsicherheitsgefängnis von Oak Park Heights östlich von Minneapolis, einem 65 Hektar großen Betonkomplex, der umgeben ist von Stacheldrahtzäunen und eingebettet in sanfte Grashügel, unwirklich idyllisch.

Auch werde Chauvin vermutlich in Einzelhaft bleiben, sagt Frase weiter – vor allem, um ihn vor möglichen Angriffen seiner Mithäftlinge zu schützen. „Er ist so bekannt und verhasst. Es wäre blamabel für den Staat, wenn Chauvin in dessen Obhut ermordet würde.“

Das Gefängnis liegt nur ein paar Kilometer von den Orten entfernt, an denen Derek Chauvin lebte und arbeitete – seiner Schule, seinem Haus in Oakdale, dem Dritten Revier. Ein paar Kilometer von seinem früheren Leben, in dem sich nur wenige an ihn erinnern können.

© WeltN24 / Katja Ridderbusch