26. Juli 2021
Der gewaltsame Tod des Afroamerikaners George Floyd in Minneapolis und der Prozess gegen den Täter, den weißen Polizisten Derek Chauvin, versetzten die USA monatelang in Aufruhr. Die Ereignisse haben Signalwirkung für laufende Verfahren gegen andere Polizisten, für die Zukunft der Polizeiarbeit und das Verhältnis von Bürgern und Ordnungshütern im Land.
Von Katja Ridderbusch
Die Bauzäune und Betonabsperrungen rund um das Gerichtsgebäude in der Innenstadt von Minneapolis sind abgebaut, die Spezialeinheiten, Nationalgardisten und Fernsehcrews abgezogen. Vor dem Verwaltungskomplex aus braunem Stein und Spiegelglas spuckt die Tram einen stetigen Strom geschäftiger Menschen aus.
Etwa 45 Kilometer östlich, zwischen kiefernbewachsenen Hügeln im Hochsicherheitsgefängnis von Oak Park Heights, sitzt Derek Chauvin in einer Einzelzelle und büßt eine Freiheitsstrafe von 22 Jahren und sechs Monaten ab. Der ehemalige Streifenpolizist war im April wegen Mord zweiten Grades – nach deutschem Recht wäre das Totschlag in besonders schwerem Fall – an dem Afroamerikaner George Floyd verurteilt worden.
Floyds gewaltsamer Tod im Mai 2020, festgehalten im Handyvideo einer jungen Passantin und viral verbreitet, hatte einen Sturm von Protesten gegen systemischen Rassismus und Polizeibrutalität entfacht. Der dreiwöchige Prozess gegen Chauvin, der live von TV-Sendern weltweit übertragen wurde, das Urteil sowie das Strafmaß spalteten die Stadt und das Land.
Während in Minneapolis langsam wieder Normalität einzieht, wirft der Fall Chauvin lange Schatten. Auf das Schicksal anderer Polizisten, die in den USA im Zusammenhang mit übermäßigem Einsatz von Gewalt, vor allem gegen schwarze Amerikaner, angeklagt sind, aber auch auf die Zukunft der Polizeiarbeit und das Verhältnis zwischen Bürgern und Ordnungshütern.
Da sind Chauvins drei Kollegen aus Minneapolis, die wegen Beihilfe zum Mord angeklagt sind und deren Prozess im März 2022 beginnen soll. Ebenso wie Chauvin müssen sich auch Tou Thao, J. Alexander Kueng und Thomas Lane nicht nur vor dem Staat Minnesota, sondern auch vor einem Bundesgericht wegen Verletzung der Freiheitsrechte von George Floyd verantworten.
Besonders aufmerksam dürften Rechtsexperten und Aktivisten die strafrechtliche Verfolgung des Todes von Rayshard Brooks in Atlanta im Bundesstaat Georgia verfolgen. Am 12. Juni 2020, drei Wochen nachdem Floyd in Minneapolis starb, wurde der Afroamerikaner Brooks auf dem Parkplatz eines Fast-Food-Restaurants in Downtown Atlanta von dem Polizisten Garrett Rolfe erschossen.
Zwar seien die Ereignisse in Minneapolis und Atlanta kaum vergleichbar, sagt Dean Dabney, Kriminologe an der Georgia State University in Atlanta. Floyds Tod sei ein „ungeheuerlicher und außergewöhnlicher Vorgang“, betont er. Chauvin hatte neuneinhalb Minuten lang nahezu regungslos sein Knie in Floyds Nacken gepresst, auch dann noch, als Floyd um Atemluft flehte und das Bewusstsein verlor.
Rolfe dagegen schoss im Bruchteil einer Sekunde, nachdem Brooks sich einer Festnahme wegen Trunkenheit am Steuer widersetzt, Rolfes Kollegen Devin Brosnan niedergeschlagen, ihm den Taser entwendet und damit auf Rolfe gefeuert hatte. Der Vorfall ist mit den Bodycams der Polizisten dokumentiert.
Allerdings, so Dabney, habe das aufgeheizte gesellschaftliche und politische Klima unmittelbar nach Floyds Tod den weiteren Umgang mit dem Fall Brooks beeinflusst. Am Tag nach dessen Tod trat die Polizeichefin von Atlanta, Erika Shields, zurück; Bürgermeisterin Keisha Lance Bottoms kündigte Rolfe und suspendierte Brosnan, kurz darauf klagte Bezirksstaatsanwalt Paul Howard Rolfe des Totschlags und Brosnan der Körperverletzung an.
Zahl der Gewaltverbrechen steigt
Die Mehrheit der Staatsanwälte in den USA sind gewählte Amtsträger, und Howard befand sich zu diesem Zeitpunkt mitten im Wahlkampf. Rechtsexperten wie Dabney vermuten, dass er mit der schnellen Anklage auch politisch punkten wollte. In jedem Fall habe Howards Entscheidung dazu beigetragen, dass „das Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei in Atlanta seither weitgehend zerrüttet ist“, sagt Dabney.
Aus Solidarität mit Rolfe und Brosnan meldeten sich am Tag nach der Anklage knapp 200 Cops des Atlanta Police Department für mehrere Tage krank, zahlreiche Notrufe blieben unbeantwortet. Bis heute haben mehr als 400 Polizisten in Atlanta gekündigt oder sich in den vorzeitigen Ruhestand versetzen lassen – damit ist die Einheit um ein Fünftel reduziert. Ähnliche Trends zeichnen sich im ganzen Land ab. Zugleich ist die Zahl der Gewaltverbrechen in amerikanischen Städten seit dem vergangenen Sommer in die Höhe geschossen. Allein in Atlanta kam es zu einem Anstieg der Tötungsdelikte um 60 Prozent.
Ein Jahr nach dem Sommer der Gewalt ist das weitere Vorgehen im Fall der Polizisten Rolfe und Brosnan ungewiss. Nach Brooks’ Tod hatten Demonstranten das Fast-Food-Restaurant in Brand gesetzt. Die Ruine des Gebäudes ist mittlerweile abgerissen, das Gelände eingezäunt. Auf dem früheren Parkplatz, dem Tatort, sammelt sich Plastikmüll, Unkraut überwuchert den Asphalt, auf Betonabsperrungen haben Aktivisten „Revolution“ gesprüht, „No More Killer Cops“ und „RIP, Rayshard“, Ruhe in Frieden.
Politisch hat der Fall tiefe Risse durch die Stadt gezogen. Im Mai entschied eine Verwaltungskommission von Atlanta, Rolfes Kündigung zurückzunehmen, weil es zu Verfahrensfehlern gekommen sei. Er wird jedoch bis auf Weiteres nicht in den aktiven Dienst zurückversetzt. Kurz nach der Entscheidung kündigte Bürgermeisterin Bottoms an, bei den Wahlen im kommenden Jahr nicht mehr zu kandidieren.
Bezirksstaatsanwalt Howard verlor bereits im Herbst die Wahl, seine Nachfolgerin gab den Fall ab. Erst vor wenigen Tagen ernannte der Justizminister des Staates Georgia einen neuen Ankläger. Staatsanwalt Pete Skandalakis bat die Bürger um „Geduld, während wir unsere Arbeit beginnen“. Kriminologe Dabney sagt, er wäre nicht überrascht, wenn der eigentliche Prozess erst im Jahr 2023 beginne – „falls es überhaupt zum Prozess kommt.“
Er selbst will keine Prognose abgeben, doch viele Rechtsexperten erwarten, dass die neue Staatsanwaltschaft die Klage gegen Rolfe herunterschrauben wird – auf Körperverletzung mit Todesfolge zum Beispiel – und die Klage gegen dessen Kollegen Brosnan komplett fallenlässt. Und, dass am Ende der Staat den Prozess verliert.
Auch veröffentlichte Rolfes Anwalt vor Kurzem Teile eines polizeilichen Gutachtens. Danach hat die Spurensicherung in Brooks’ Auto Amphetamine und andere Rauschmittel gefunden. Brooks büßte zum Zeitpunkt seines Todes eine Bewährungsstrafe ab und wäre nach einer Anklage wegen Drogenbesitzes wahrscheinlich ins Gefängnis gegangen.
Wenige Ideen umgesetzt
Für Yonasda Lonewolf sind all dies Ablenkungsmanöver. „Jeder konnte auf den Polizeivideos sehen, wie Rayshard Brooks niedergestreckt wurde, von hinten, mit Schüssen in den Rücken“, sagt die schwarz-indigene Umwelt- und Bürgerrechtsaktivistin. Ihre Hip Hop 4 Foundation gehörte zu den Organisatoren des Protestmarsches in Atlanta wenige Tage nach dem Tod von George Floyd. Die Demonstration geriet außer Kontrolle, es kam zu Vandalismus, Plünderungen, Gewalt. „Leider braucht es Krawall, damit uns jemand zuhört“, sagt sie.
Seit Jahren kämpften Aktivisten überall in den USA gegen das immer gleiche Phänomen, sagt Lonewolf. „Schießwütige, schlecht ausgebildete Cops mit mentalen Problemen.“ Auch in Atlanta, wo die Mehrheit der Bevölkerung und die Mehrheit der Polizisten schwarz sind. Es gehe nicht allein um Hautfarbe, betont sie, „sondern um Machtmissbrauch“.
Der Tod von George Floyd und kurz darauf der Tod von Rayshard Brooks hätten einigen Politikern die Augen geöffnet, sagt Lonewolf, wenn auch nur vorübergehend. Bürgermeisterin Bottoms – die zu jener Zeit als mögliche Vizepräsidentschaftskandidatin im Wahlkampf von Joe Biden im Gespräch war – berief Lonewolf und andere Aktivisten in eine Taskforce, um Vorschläge zum Kampf gegen Polizeibrutalität zu entwickeln.
Ein Jahr später seien von den vielen Ideen nur wenige umgesetzt worden – und die auch nur halbherzig, sagt Lonewolf. Darunter sind regelmäßige psychiatrische Untersuchungen und Beratungen von Polizisten – auf freiwilliger Basis. „Ich denke, der Stadt ging es nur darum, uns anzuhören und dabei gut auszusehen“, fügt sie hinzu und lacht leise.
Rechtsexperten sind sich derweil einig: Der Prozess gegen Derek Chauvin könnte Signalcharakter für nachfolgende Verfahren haben. Laut einer Untersuchung der Bowling Green State University in Ohio wurden seit 2005 mindestens 140 Polizisten im Zusammenhang mit tödlich endenden Einsätzen angeklagt, nur sieben davon wurden wegen Tötungsdelikten verurteilt. Zwar halten viele Aktivisten, darunter auch Lonewolf, das Strafmaß für Chauvin für zu mild. Doch tatsächlich bekam der 45-Jährige die höchste Gefängnisstrafe, zu der jemals ein weißer Polizist in den USA für den Mord an einem Schwarzen verurteilt wurde.
Mildere Strafen in republikanischen Staaten
„Keine Frage, der Chauvin-Prozess ist ein kraftvolles Momentum“, sagt Dabney. Der Druck von Öffentlichkeit und Aktivisten, die eine härtere Bestrafung gewaltfreudiger Polizisten forderten, werde künftig zunehmen. Wie stark und schnell sich das auch auf die Gesetzgebung auswirkt, ist weniger klar. Der Entwurf für ein Bundesgesetz zur Polizeireform hängt seit Monaten im Kongress fest. Streitpunkt ist vor allem die Frage, ob und in welchem Maße die bislang geltende weitreichende Immunität von Polizisten eingeschränkt werden soll.
Dabney geht ohnehin davon aus, dass eine Neuausrichtung der Polizeiarbeit von den Bundesstaaten und den Städten angestoßen wird. Die Polizei in den USA ist föderal und kommunal organisiert; es gibt etwa 18.000 Polizeieinheiten, die allesamt nach unterschiedlichen Regeln operieren und unterschiedlichen Gerichtsbarkeiten unterstehen.
So hänge es stark von dem jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Umfeld ab, wie streng die jeweilige Gerichtsbarkeit gegen angeklagte Polizisten vorgehe. In den mehrheitlich republikanisch regierten Südstaaten „ist es unwahrscheinlich, dass ein Gericht eine so hohe Gefängnisstrafe wie im Fall Chauvin verhängt“, sagt der Kriminologe. Ähnlich sehe es im Nordosten und in Teilen des Mittleren Westens aus, in New York, Philadelphia oder Chicago, wo Polizeigewerkschaften traditionell großen Einfluss haben.
Im Westen, in den Bundesstaaten Kalifornien, Oregon oder Washington, hält er es dagegen für „möglich, dass das Urteil gegen Chauvin Schule machen könnte“. Aber er rechnet nicht damit, dass der Prozess in Minneapolis „zu einem weitverbreiteten Muster oder gar zur juristischen Norm“ werde.
Leider, findet die Aktivistin Lonewolf. Sie hofft, dass Rolfe, der Polizist aus Atlanta, die Höchststrafe für den Tod von Brooks bekommt. „Wenn es zum Prozess kommt, werden wir jeden Tag vor dem Gerichtsgebäude stehen und Rechenschaft fordern.“ Damit das gewonnene Stück Boden für soziale Gerechtigkeit nicht allzu schnell wieder verloren gehe, sagt sie.
In Minneapolis melden derweil lokale Medien, dass Chauvin mit Vertretern des US-Justizministeriums über einen sogenannten Plea Deal verhandele. Teil einer solchen Vereinbarung könne sein, dass sich Chauvin „öffentlich in einer Gerichtsanhörung für schuldig erklärt und ein Statement über die Gründe seiner Tat abgibt“, sagt Mark Osler, Rechtsprofessor an der St. Thomas School of Law in Minnesota.
Bislang hat Chauvin weitgehend geschwiegen, im Prozess hatte er von seinem Recht auf Zeugnisverweigerung Gebrauch gemacht. Eine Vereinbarung wäre für beide Seiten von Interesse, erklärt Osler. Chauvin könnte die zusätzliche Haftstrafe, die ihm bei der Verurteilung durch ein Bundesgericht droht, parallel zu seiner gegenwärtigen Haft absitzen. Vor allem würde er in ein Bundesgefängnis verlegt, außerhalb von Minnesota.
Im Hochsicherheitsgefängnis von Oak Park Heights befindet sich Chauvin in Isolationshaft, zu seinem eigenen Schutz. Er sei unter den anderen Insassen bekannt, sagt Osler, nicht nur wegen George Floyd. „Dort sitzen jede Menge Leute ein, die er als Polizist ins Gefängnis gebracht hat.“
Die Staatsanwaltschaft habe ebenfalls Interesse an einem Deal, betont der Jurist. Prozesse, die ein derart großes öffentliches Interesse auf sich zögen, „sind enorm teuer, spalten die Gesellschaft und erfordern einen hohen Sicherheitsaufwand“. Der Chauvin-Prozess kostete knapp vier Millionen Dollar, wie die Bezirksverwaltung gerade bekannt gab. Und auch deshalb, sagt Osler, sei die Motivation bei allen Seiten groß, „ein weiteres Spektakel zu vermeiden“.
© Katja Ridderbusch/Welt