06. August 2019

In den USA kümmern sich immer mehr Psychotherapeuten und liberale Kirchengemeinden um Menschen, die unter dem sogenannten „Religious Trauma Syndrome“ leiden. Menschen, die infolge einer Indoktrination durch fundamentalistische Religionsgemeinschaften traumatisiert wurden.

Von Katja Ridderbusch

„I encountered religious trauma in 2010, when I was serving as a chaplain resident.“

Kyndra Frazier wird nie den Tag vergessen, als sie zum ersten Mal bewusst einen Menschen traf, der Opfer eines Religions-Traumas geworden war. Das war im Jahr 2010, da arbeitete sie als Seelsorgerin in einem Unfallkrankenhaus in Atlanta.

„And I met a young man who was 23, African American. He attempted to castrate himself. With a circular saw.“

Dort traf sie einen jungen Mann, 23 Jahre alt, Afroamerikaner. Er hatte versucht, sich mit einer Kreissäge zu kastrieren. Er war Mitglied einer erzkonservativen Kirche, er war schwul und er tat sich schwer, seine Sexualität mit seiner Spiritualität zu vereinbaren.

„He was having challenges integrating his sexuality and his spirituality.“

Schwarz, homosexuell, gläubig, Frau

Frazier weiß nicht, was aus dem Mann wurde. Aber seine Geschichte hat sie tief geprägt. Und hat dazu geführt, dass sie ihre eigenen Erfahrungen in einem anderen Licht sieht: ihre Sozialisation in einer konservativen afroamerikanischen Kirchengemeine im ländlichen North Carolina, ihre Kämpfe als schwarze, homosexuelle, gläubige Frau.

Heute arbeitet Frazier, die auch ausgebildete Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin ist, als stellvertretende Pfarrerin der First Corinthian Baptist Church, einer liberalen Baptisten-Kirchengemeinde in Harlem im Norden von Manhattan.

Außerdem ist sie Leiterin des HOPE Center, eines gemeinnützigen Zentrums, das der Kirche angeschlossen ist. Das HOPE Center bietet therapeutische Hilfe an für Menschen mit psychischen Krankheiten – für Menschen aller Glaubensrichtungen, Geschlechter und sexueller Orientierungen.

Darunter sind viele, die durch ihre Erfahrungen mit autoritären Religionsgemeinschaften traumatisiert worden seien, betonen die Baptisten aus Harlem, die sich von solchen Botschaften wie hier aus Texas distanzieren: 

„Sex between a man and a man is unnatural. It violates not only natural law, but the righteous laws of God.” Sex zwischen Männern verletzte die Gesetze Gottes, wetterte dieser Baptistenprediger aus dem Süden des Landes.

„Religious Trauma Syndrome“

„Religious Trauma Syndrome“ – der Begriff, den die amerikanische Therapeutin Marlene Winell geprägt hat, ist zwar nicht Teil des offiziellen Diagnose-Katalogs von Medizinern und Krankenkassen.

Aber das „Religious Trauma Syndrome“ ist längst angekommen auf dem Radar von Psychotherapeuten in den USA und weltweit. Bei Suzanne Goodwin in Atlanta zum Beispiel. Sie hat sich auf Patienten mit religiösem Trauma spezialisiert.  Was sind die typischen Symptome?

„A big one is cognitive delays. That involves confusion, poor critical thinking …“

Da seien zum einen kognitive Verzögerungen. Viele religionstraumatisierte Menschen hätten Schwierigkeiten, selbständig und kritisch zu denken, sie hätten ein geringes Selbstwertgefühl und außerdem ganz praktische Informations- und Erziehungslücken. Ihre Wahrnehmung folge einem eingeimpften Schwarz-Weiß-Denken.

„And when they come out of that world, they realize that the world is full of shades of grey. And they don’t know what to do with that.“

Und wenn sie den engen, isolierten Kosmos ihrer Glaubensgemeinschaft verließen, bemerkten sie, dass die Welt draußen voller Grautöne sei, sagt Goodwin. Und damit könnten sie nicht umgehen.

Depression, Aggression und Angst

Hinzu kommen emotionale Störungen: Depression, Aggression, Trauer und vor allem: Angst. „Den Menschen wird sehr viel Angst eingeflößt, sei es Angst vor der Hölle oder Angst vor einer Schwangerschaft. Angst ist die Basis religiöser Indoktrination, und viele Patienten tun sich schwer, das abzuschütteln.“

Ein weiteres Symptom: soziale Entfremdung. Menschen, die aus einer strengen Glaubensgemeinschaft aussteigen, verlieren häufig ihr gesamtes soziales Netz, werden von ihrer Familie und ihren Freunden verstoßen, fühlen sich ohne das vertraute Raster ihrer Religion hilflos und verloren, sagt Goodwin weiter. „It is that kind of fish-out-of-the-water feeling.“

Betroffen seien meist ehemalige Angehörige von extrem konservativen oder fundamentalistischen Glaubensgemeinschaften. Das können evangelikale Kirchengemeinden sein, Religionsgemeinschaften wie die Zeugen Jehovas oder die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, bekannt auch als Mormonen.

Oder die Scientology-Kirche, die in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Oder auch orthodoxe Juden und Muslime.

LGBTQ-Personen haben es besonders schwer

Suzanne Goodwin, die Psychotherapeutin aus Atlanta, möchte nicht alle Religionsgemeinschaften in einen Topf werfen. Aber bestimmte Strömungen machten es Angehörigen der LGBTQ-Community besonders schwer, sich in ihren jeweiligen Kirchengemeinden akzeptiert zu fühlen.

„There’s no such thing as transgender. God made men male and female. This is reality. This is a war on God.“

So etwas wie transgender gebe es nicht, sagte zum Beispiel der Pastor der Grace Community Church, einer Megakirche in Kalifornien. Wer etwas anderes behaupte, erkläre Gott den Krieg.

Aber es gibt auch weniger spektakuläre Fälle, bei denen Religion Menschen verwundet, sagt Reverend Michael Walrond. Er wird von seinen Gemeindemitgliedern „Pastor Mike“ genannt und ist der leitende Pastor der First Corinthian Baptist Church in Harlem. Über Skype erzählt er von der Erfahrung seiner Frau.

„Meine Frau und ich hatten unser erstes Kind, als wir beide sehr jung waren – 19 Jahre alt – und noch nicht verheiratet. Wir haben damals beide studiert, und meine Frau hatte ein kleines Stipendium von der Kirche bekommen, in der sie aufgewachsen war, wo sie im Chor gesungen hatte, wo ihre Familie seit Generationen führende Positionen innehatte, kurz: wo sie sich zu Hause fühlte. Und eben diese Kirche entzog ihr das Stipendium, als sie schwanger wurde, und erklärte ihr außerdem: Es sei nicht Gottes Plan, dass Frauen predigten.“

Heute leitet LaKeesha Walrond, seine Frau, ein überkonfessionelles theologisches Seminar: das „New York Theological Seminary“. Aber bis es so weit kam und sie ihre Verletzungen überwinden konnte, habe es lange gedauert, sagt Walrond. „It bothered her for a long time, and she still talks about it.“

Therapie-Angebote liberaler Kirchen

Die Baptistenkirche in Harlem gehört zu einer kleinen, aber wachsenden Gruppe liberaler Kirchengemeinden in den USA, die religionstraumatisierten Menschen Hilfe anbietet.

Dass ausgerechnet Kirchen ein Teil der Lösung sein sollen, hält Therapeutin Suzanne Goodwin allerdings für problematisch.

„Ein religiöses Trauma sollte von einer neutralen Person behandelt werden. Jede Form der religiösen Therapie ist voreingenommen, weil sie die Behandlung nicht unbedingt aus einer klinischen Perspektive angeht. Auch kann der Ort der Therapie – eine Kirche, welche Kirche auch immer – bei Patienten negative Erinnerungen triggern. Da gibt es einen Interessenkonflikt.“

Pastor Walrond versteht Goodwins Bedenken. Aber er weist auch darauf hin, dass viele Menschen seine Kirche besuchten – und zwar: freiwillig besuchten –, die mit dem Thema Religion eigentlich abgeschlossen hätten.

„Aber irgendetwas an unserer Kirche finden sie offenbar einladend und warm und authentisch. Ein Ort, an dem sie ihre ganz eigene spirituelle Erfahrung machen können, ein Ort, der sie einbindet, statt sie auszuschließen. Eine ganz andere Kirchenerfahrung eben.“

In seinen Predigten betont Walrond immer wieder: Es gebe einen großen Unterschied zwischen Christen, den Anhängern einer teilweise dogmatischen Institution, und den Schülern Jesu.

„Wenn man die Evangelien liest, dann wird deutlich, dass Jesus Dinge tat, die zu seiner Zeit sozial und kulturell äußerst unkonventionell waren, die gegen die herrschenden Regeln verstießen. Zum Beispiel, mit Frauen am Tage und in der Öffentlichkeit zu sprechen, oder Kranke und Tote anzufassen. Ich will meinen Gemeindemitgliedern damit sagen: Gott will, dass ihr authentisch seid, dass ihr keine Maske tragen müsst, dass ihr nicht verstecken müsst, wer ihr seid.“

Niemals missionarisch

Mehr als 1000 Menschen mit psychischen Erkrankungen, darunter auch Religions-Traumatisierte, haben seit der Eröffnung vor zweieinhalb Jahren im HOPE Center Hilfe gesucht.

Neben Frazier arbeitet noch eine weitere klinische Therapeutin in der Einrichtung. Außerdem gibt es Kooperationen mit mehreren renommierten Universitäten in und um New York, darunter mit der Columbia University.

Die Kirche und das HOPE Center seien ein Angebot, sagt Frazier. Nicht mehr, nicht weniger. „Ich versuche nicht, Leute zu überzeugen, in eine Institution zurückzukehren, die ihr Vertrauen missbraucht hat, die ihnen Leid und Schmerz zugefügt hat. Ich sage niemandem, der von Religion traumatisiert wurde: Geh zurück zum Täter.“

Unideologisch, inklusiv und niemals missionarisch: Für Menschen, die von Religion traumatisiert wurden, hat Pastorin und Therapeutin Kyndra Frazier einen ganz pragmatischen Rat:

„Ich lade jeden in unsere Kirche ein, der eine liebevolle, warme und positive Gemeinschaft sucht. Aber ich sage auch: Das ist vielleicht nicht der richtige Ort für euch. Vielleicht ist es besser, ihr chillt erst einmal zu Hause, bis ihr die Kraft und den Mut aufgebaut habt, euch wieder hinaus in die Welt zu wagen.“

© Deutschlandfunk / Katja Ridderbusch