30. Oktober 2020

Viele bescheinigen US-Präsident Donald Trump eine verheerende Bilanz, die sich besonders in der Corona-Krise zeigt. Die Lage ist längst außer Kontrolle. Die Pandemie trifft auf ein marodes Gesundheitswesen, das schon unter Normalumständen überfordert ist.

Katja Ridderbusch · Donald Trump, das Corona-Desaster und die US-Wahl

Von Thilo Kößler und Katja Ridderbusch

Es war Mark Meadows, Donald Trumps Stabschef im Weißen Haus, der neun Tage vor der Präsidentschaftswahl den Offenbarungseid leistete: Man habe angesichts von knapp 229.000 Toten und täglich mehr als 80.000 Neuinfektionen alle Versuche aufgegeben, die Infektionsketten nachzuverfolgen, erklärte Meadows im Fernsehsender CNN: „Die USA werden die Pandemie nicht kontrollieren, weil es sich um ein tödliches Virus handelt“, sagte er wörtlich – und meinte wohl: Das Virus ist jeder staatlichen Kontrolle entglitten.

Die Antwort der Demokraten folgte prompt: Die Erklärung von Mark Meadows sei das Eingeständnis der Trump-Administration, die eigene Bevölkerung nicht schützen zu können, ließ der Präsidentschaftskandidat der Demokraten, Joe Biden, wissen. Und Kamala Harris, seine „running mate“ und designierte Vizepräsidentin, setzte nach: Das sei die Kapitulation im Kampf gegen das Virus – ein beispielloses Scheitern in der amerikanischen Geschichte.

Der Präsident verharmlost, vertuscht und verschweigt 

Kein Thema hat die amerikanische Öffentlichkeit in den vergangenen Monaten mehr bewegt als die immer neuen Schreckensmeldungen über die Ausbreitung von Covid-19 und die verheerenden Folgen dieser Pandemie. Die Corona-Krise hat sich wie ein dunkler Schatten über die Präsidentschaft Donald Trumps gelegt – die Wahl am kommenden Dienstag droht für ihn zur Abrechnung mit seinem Krisenmanagement zu werden.

Schließlich machen die US-Amerikaner nur gut vier Prozent der Weltbevölkerung aus – aber sie haben etwa 20 Prozent der weltweiten Corona-Opfer zu beklagen, rechnen die Demokraten immer wieder vor.

Donald Trump selbst sieht das ganz anders: Er und seine Administration hätten alles richtig gemacht. Die Krise neige sich dem Ende entgegen, erklärte er auch in der jüngsten TV-Debatte mit Joe Biden. Äußerungen wie diese stehen in deutlichem Widerspruch zur Realität. Sie haben aber Methode: Der Präsident verharmlost, vertuscht und verschweigt das Pandemie-Desaster.

Donald Trump am 28. Februar: Es gebe nur 11 Infizierte. Kein Grund also zur Sorge. 

Donald Trump im März: Das Virus wird sich davonmachen. Und wir werden einen großen Sieg feiern.

Donald Trump Ende März: Wir haben das Virus total unter Kontrolle.

Dabei wusste Trump bereits Mitte März, wie gefährlich das Virus wirklich ist. Das gestand er in einem von zahlreichen Interviews mit Bob Woodward ein. Corona sei tödlicher als jede gefährliche Grippe, sagte er dem Starreporter und Buchautoren. Er spiele die Pandemie bewusst herunter, denn er wolle keine Panik erzeugen, begründete Trump seine Strategie der Verharmlosung.

Erst Mitte März verhängte Trump den Notstand

Joe Biden sprach daraufhin von einer bewussten Verletzung der Amtspflichten und von einer Schande für das Land. Tatsächlich hat der Präsident von Anfang an die Gefahren dieser Pandemie kleingeredet. Im Rückblick wirkt der Verlauf dieser Krise deshalb wie eine Chronik der gezielten politischen Täuschung.

Zwar verhängte Donald Trump bereits Ende Januar ein Einreiseverbot für Nicht-US-Bürger, die sich zuvor in China aufgehalten hatten. Doch viele Experten sagen, er hätte umgehend Vorsorge treffen müssen. Für flächendeckende Tests. Für die stringente Nachverfolgung von Infektionsketten. Für genügend Gesichtsmasken, Schutzkleidung, Beatmungsgeräte, für Spezialbetten in den Krankenhäusern.

Nichts dergleichen geschah. Und die Katastrophe nahm ihren Lauf: Infektionsraten und Todeszahlen schossen zunächst in den Großstädten in die Höhe. Aber erst am 13. März verhängte Donald Trump den nationalen Notstand. Er schob den Bundesstaaten die alleinige Verantwortung zu, als die Fallzahlen immer weiter stiegen. Die Folge: Jeder Einzelstaat ging anders mit der Krise um.

Trumps Streit mit seinem Gesundheitsberater Fauci

Der Lockdown geriet so zum unkoordinierten, ineffizienten und höchst riskanten Flickenteppich. Der Präsident indes blieb bei seiner Haltung, dass alles gut laufe, behauptete gar wahrheitswidrig, dass die USA das „großartigste Testsystem der Welt“ geschaffen hätten.   

Selbst dazu kam kein Widerspruch von seinen republikanischen Parteifreunden. Der kam allein aus dem Kreis seiner Gesundheitsexperten in der Task Force des Weißen Hauses – besonders vom 79-jährigen Arzt und Immunologen Anthony Fauci, der fortan zum faktentreuen Gegenspieler Donald Trumps wurde. Das Testsystem in den USA sei in Wahrheit eine ausgesprochene Schwachstelle im Kampf gegen Corona, erklärte Fauci.

Der Streit mit seinen Experten eskalierte, als Donald Trump im April die Lockerung der Schutzmaßnahmen anordnete und erklärte, das Land werde umgehend zur Normalität zurückkehren. 

Es kam noch schlimmer: Donald Trump erteilte in einer Pressekonferenz den lebensgefährlichen Rat, im Kampf gegen Corona Desinfektionsmittel zu spritzen. Und er behauptete, ein Impfstoff sei bereits gefunden und könne binnen Wochen eingesetzt werden. Auch das stimmte nicht.

Den einstweiligen Schlusspunkt im Umgang mit wissenschaftsfernen Thesen setzte Trump mit seinem Bekenntnis zur sogenannten „Herdenimmunität“. Sie bedeutet, der Ausbreitung der Infektionen freien Lauf zu lassen und nur noch besonders gefährdete Personengruppen zu schützen.

Das wurde als Offenbarungseid für das Krisenmanagement der Trump-Administration gewertet. Sie hatte vorgegeben, die Pandemie unter staatlicher Führung in den Griff zu bekommen – aber augenscheinlich jede Kontrolle über die Pandemie verloren.

Krise machte strukturellen Mängel sichtbar

In der letzten Fernsehdebatte am 23. Oktober erklärte Donald Trump, man müsse lernen, mit dem Virus zu leben. Joe Biden konterte, die Amerikaner müssten gerade lernen, mit und wegen des Virus zu sterben.

Der katastrophale Verlauf der Corona-Pandemie hat nicht nur die Defizite des politischen Krisenmanagements offenbart. Mit einem Schlag traten die strukturellen Mängel der US-amerikanischen Arbeits-, Sozial- und Gesundheitspolitik zutage: Weil es zum Beispiel keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gibt, gingen Erkrankte weiter zur Arbeit und wurden so zu „Super-Spreadern“.

COVID-19 erweist sich als Pandemie mit sozialer Schlagseite, weil sie besonders die Ärmeren trifft – Afroamerikaner oder Latinos etwa, die in unterbezahlten Dienstleistungsjob arbeiten, in denen sie einem besonders hohen Infektionsrisiko ausgesetzt sind.

Darüber hinaus haben sich die verheerenden Folgen eines Gesundheitssystems gezeigt, das weite Teile der Bevölkerung ausschließt. Das amerikanische Gesundheitssystem ist das teuerste der Welt. Aber vollen Zugang haben nur die, die es sich leisten können. Die anderen sind auf gemeinnützige medizinische Versorgung angewiesen – wie sie in öffentlichen Gesundheitszentren angeboten wird.

Lücken im US-amerikanischen Gesundheitssystem

Bei Family Health Centers of Georgia in Atlanta zum Beispiel, tief im amerikanischen Süden. Die rund 1.400 Gesundheitszentren in den USA finanzieren sich aus staatlichen Mitteln und privaten Spenden. In den allgemeinmedizinischen Ambulanzen werden Menschen behandelt, die schlecht oder gar nicht versichert sind.

Menschen wie Julie Lindemann, 62 Jahre alt: „Ich habe keine Krankenversicherung. Ich bin Haustier-Sitterin, aber das ist natürlich kein Job mit Versicherung. Ich habe versucht, eine der Obamacare-Versicherungen zu kaufen, aber das konnte ich mir nicht leisten. Und für Medicaid verdiene ich angeblich zu viel. Das ist wirklich frustrierend.“

Lindemann gehört zu denen, die in einer Lücke des amerikanischen Gesundheitssystems gefangen sind. Die Hälfte der Amerikaner sind über ihren Arbeitgeber versichert, jeweils 17 Prozent über Medicare und Medicaid, die staatlichen Krankenversicherungen für Rentner und Einkommensschwache. All jene dazwischen, zum Beispiel die Selbständigen, sollte Obamacare auffangen, die Gesundheitsreform des früheren US-Präsidenten Barack Obama.

Der „Patient Protection and Affordable Care“, wie Obamacare offiziell heißt, führte einen Online-Marktplatz mit subventionierten Versicherungen ein. Und wies 50 US-Bundesstaaten an, das Medicaid-Programm zu erweitern.

Doch das funktionierte nur zum Teil. Ein Urteil des Obersten Gerichtshofs erklärte 2012 die Erweiterung für „optional“, also nicht bindend. Prompt weigerten sich 12 Bundesstaaten, mehr Menschen in das Medicaid-Programm aufzunehmen. Darunter auch Georgia, wo Julie Lindemann lebt.

„Was passiert, wenn ich einmal wirklich krank werde?“

Die Corona-Pandemie habe die Schwächen des Gesundheitssystems brutal offengelegt, sagt Michael Brooks, Internist und Geschäftsführer bei Family Health Centers of Georgia. Die Mehrheit der Patienten in seiner Ambulanz sind Afroamerikaner.

„Etwa 60 Prozent unserer Patienten sind übergewichtig. Und Übergewicht ist einer der größten Risikofaktoren für schwere Verläufe von Covid-19. Hinzu kommt: Weil viele dieser Leute in Jobs ohne Versicherung arbeiten, gehen sie nicht sofort zum Arzt, wenn sie sich krank fühlen. Das befördert die Ausbreitung des Virus noch weiter. Es ist ein Teufelskreis.“

Und auch die indirekten Folgen der Corona-Pandemie spiegelten sich in seiner Ambulanz, so Brooks. Es habe eine Welle von Entlassungen gegeben, vor allem im Dienstleistungssektor und die Zahl der Patienten in seiner Ambulanz sei rasant angestiegen.

Auch Julie Lindemanns ohnehin geringes Einkommen brach während des Lockdowns ein. Heute ist sie hier, um ihre Blutdruckmedikamente abzuholen. Sie sitzt in einem der kleinen Behandlungszimmer und zupft nervös an ihrer Stoffmaske.

„Selbstverständlich denke ich daran: Was passiert, wenn ich einmal wirklich krank werde? Aber ich versuche mich nicht verrückt zu machen. Ich bin dankbar, dass ich hierherkommen kann. Klar würde ich lieber in eine normale Hausarztpraxis gehen. Es ist erniedrigend, wenn man die Hand für kostenfreie Versorgung aufhalten muss. Aber es geht um meine Gesundheit.“

Behandlungen können Familien ruinieren

Wer zu denen gehört, die über ihren Arbeitgeber krankenversichert sind, ist gerade jetzt froh darüber. So wie Bradley, 48, ebenfalls aus Atlanta. Er arbeitet im Management eines Stromversorgers. Seinen Nachnamen möchte er nicht nennen. Vor fünf Jahren bekam er die Diagnose: Lymphdrüsenkrebs.

„Mir ging es wie vermutlich den meisten Leuten in den USA, die ihre Krankenversicherung durch ihren Arbeitgeber beziehen: Ich habe nicht über Krankenversicherung nachgedacht, bis ich sie brauchte. Warum zahlen wir für eine Krankenversicherung? Für den Fall der Fälle.“

Bradley bekam seine Krebsbehandlung an der renommierten Emory-Universitätsklinik in Atlanta. Heute ist er krebsfrei. Seine Behandlung kostete rund 300.000 Dollar.

„Meine Versicherung zahlte alles, ohne Nachfragen. Ich musste nicht wie viele andere Menschen fürchten, dass die Kosten der Behandlung mich und meine Familie ruinieren würden. Ich konnte mich alleine darauf konzentrieren, gesund zu werden.“

Politisch steht Bradley eher den Republikanern nahe. Doch seine eigene Erkrankung habe ihm die Augen geöffnet, sagt er. Jeder Mensch, egal welchen Alters, Geschlecht oder Hautfarbe – müsse die Möglichkeit haben, medizinische Versorgung zu bekommen. Jeder, ohne Ausnahme.

Gesundheitssystem schon unter Alltagsbedingungen am Limit

Eine wirkliche Reform des Gesundheitswesens müsse tiefer gehen als es Obamacare vermocht habe, sagt Michael Brooks, der Leiter des öffentlichen Gesundheitszentrums in Atlanta. Doch er ist skeptisch, ob es dazu kommen wird.

„Gesundheitsversorgung ist so politisch in unserem Land. Wenn wir die Reform des Systems weiter den Politikern überlassen und nicht Wissenschaftler und Ökonomen damit beauftragen; wenn die Interessengruppen wie Pharmakonzerne oder Krankenhäuser weiter ihre Macht ausspielen können – dann wird es niemals funktionieren.“

Bereits unter Alltagsbedingungen zeigt das staatliche Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten schwerwiegende Mängel. Unter den Stressbedingungen der Corona-Pandemie platzten die strukturellen Defizite des Gesundheitswesens auf wie Eiterbeulen, sagt US-Gesundheitsexperte Matthew Fiedler vom Brookings-Institut in Washington: Fragmentiert, schwerfällig, ineffizient – und in der Coronakrise völlig überfordert.

Pandemie trifft auf marodes Gesundheitswesen: Ein politisches, ein gesellschaftliches Desaster im Doppelpack. Der Präsident steht in der Kritik. 61 Prozent der Amerikaner sind mit dem Krisenmanagement Donald Trumps unzufrieden, nur 37 Prozent finden seinen Umgang mit der Pandemie gut und angemessen. Matthew Fiedler hält durchaus für möglich, dass dieses Thema zum wahlentscheidenden Moment wird.

Trumps Kampf gegen Obamacare

Indes lassen sich an dem Zusammentreffen zweier Krisen nicht nur die gesellschaftspolitischen Defizite des Landes festmachen – sondern auch die programmatischen und ideologischen Differenzen zwischen den Präsidentschaftskandidaten. 

Joe Biden setzt alles auf den Ausbau von Obamacare. Immerhin sind dank des Gesetzes heute knapp 90 Prozent der Amerikaner krankenversichert. Biden möchte mit öffentlicher Unterstützung einen Mindeststandard zu niedrigen Versicherten-Tarifen garantieren – eine Krankenversicherung für alle, die sie haben wollen.

Donald Trump setzt dagegen alles auf die Demontage der Gesundheitsreform seines Vorgängers. Allerdings hat Trump nie konkrete Alternativen benannt. Nur besser solle die Gesundheitsversorgung werden, lässt er immer wieder wissen.

Obamacare gilt Trumps ganze Zerstörungswut – denn um das System zu finanzieren, führte Obama eine Versicherungspflicht ein – das so genannte „individual mandate“. Laut Klage des amtierenden Präsidenten und 18 Generalstaatsanwälten ein unzulässiger Eingriff in individuelle Freiheitsrechte. Am 10. November, eine Woche nach der Präsidentschaftswahl, wird sich der Supreme Court, das oberste Gericht der USA, mit Obamacare auseinandersetzen. 

Gibt der Supreme Court der Klage statt, verlieren 20 Millionen Amerikaner ihre Krankenversicherung, schätzt Matthew Fiedler vom Brookings-Institut – das entspräche sechs bis sieben Prozent der US-Bevölkerung.

Die Trump-Administration zielt vor allem darauf ab, die Kosten zu senken. Einzelne Initiativen und Ankündigungen der vergangenen Jahre lassen vermuten: „Trumpcare“ würde Subventionen für staatliche Gesundheitsprogramme zurückfahren. Auch die Gesundheitsleistungen sollen eingeschränkt und der Kreis der Versicherten reduziert werden.

Joe Biden hingegen will den Kreis der Versicherten noch erweitern. Die Leistungen erhöhen. Und die Kosten verteilen. Gesundheitsfürsorge sei kein Privileg, sondern ein Grundrecht, sagt Joe Biden. Joe Biden setzt dabei auf private wie öffentliche Initiative gleichermaßen.

Nach Einschätzung von Gesundheitsexperte Matthew Fiedlerm käme Bidens Modell einem: „Bei den Privatversicherungen werden die Preise, die den Leistungserbringern im Gesundheitswesen gezahlt werden, traditionell in Verhandlungen zwischen privaten Versicherern, Ärzten und Krankenhäusern festgelegt. Bei der Idee der „öffentlichen Option“ wird der Regierung eine viel größere Rolle bei der Festsetzung der Preise für Ärzte und Krankenhäuser eingeräumt.“

So kann diese Präsidentschaftswahl auch gesundheitspolitisch zur Richtungsentscheidung werden. Die Frage lautet: Kann der reichsten Industrienation der Welt ein Gesundheitssystem gelingen, das seine Bürger wirklich schützt – im persönlichen Krankheitsfall, aber auch im Fall von Pandemien? Ein System, das aus gewinnorientierten Leistungen einen leistungsorientierten Gewinn für alle macht.

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