28. Mai 2021
Reisen in Zeiten der Pandemie fördert Stress, Angst und Depression. Trotz niedrigerer Passagierzahlen sind die Dienste von Flughafenseelsorgern so gefragt wie selten zuvor. Am Flughafen von Atlanta, einem der größten weltweit, bietet die Airport-Kapelle jetzt einen neuen Service an: geführte Meditationen.
Von Katja Ridderbusch
Reisen kann Stress bedeuten; Flughäfen - mit ihrem hektischen Tempo, dem garstigen Lärm und den grellen Anzeigen - sind nur selten Oasen der Ruhe.
Zugleich hat die Corona-Pandemie zu einer Zunahme von Angststörungen und Depressionen geführt. Für Europa und die USA belegen dies Studien – ebenso wie die wachsende Nachfrage nach Terminen beim Therapeuten.
Flugreisen in Zeiten von Covid-19: Kombiniert sorgen beide für den perfekten mentalen Sturm. Zeugen dieses Sturms sind häufig Flughafenseelsorger. Leute wie Blair Walker.
Die Stresspegel der Menschen sei während der Pandemie deutlich gestiegen, sagt Walker, leitender Seelsorger am Hartsfield-Jackson International Airport in Atlanta, vor Corona der weltgrößte Passagierflughafen. Er tritt aus seinem Büro auf eine Galerie, von der aus er die Haupthalle überblicken kann. 40 Seelsorger arbeiten am Airport von Atlanta, die meisten ehrenamtlich.
Seelsorger werden zu Ersthelfern bei mentalen Krisen
Er und seine Kolleginnen und Kollegen konnten beobachten, wie sich Körpersprache und Verhalten der Menschen im Mikrokosmos Flughafen verändert hätten, sagt Walker.
Die Menschen seien verkrampft, da reiche manchmal ein winziger Trigger, und sie rasteten aus. Emmanuel Lartey, Theologieprofessor an der Emory-Universität in Atlanta, ist nicht überrascht.
„Reisen unterbricht unseren Sinn der Verortung, unsere sozialen Bindungen, unsere vertrauten Rituale. Die Pandemie tut etwas Ähnliches, sie sprengt alles Vertraute, die Wegmarken unseres Alltags. Vor allem Flugreisen sind heikel – denn da begeben wir uns mit vielen anderen in einen engen, geschlossenen Raum – und tun eigentlich genau das, was die Ansteckung fördert.“
Flughafenseelsorger seien häufig als Ersthelfer bei mentalen Krisen gefordert, sagt Lartey.
„Ihre Aufgabe ist es, spirituelle Hilfe zu leisten – häufig bei existenziellen Krisen, die aber nicht immer mit Religion und Glauben zu tun haben. Flughafenseelsorger arbeiten jenseits religiöser Grenzen, zu ihrem Kodex gehört es, nicht zu missionieren. Und manchmal kreuzen sich Seelsorge und Therapie, spirituelle und mentale Hilfe.“
Angststörungen und Depressionen haben zugenommen
Das Passagieraufkommen an Flughäfen brach im vergangenen Jahr weltweit um fast 65 Prozent ein. Neben den wenigen Reisenden suchten vor allem Flughafenangestellte die Unterstützung der Seelsorger, sagt Greg McBrayer, anglikanischer Priester und Chefseelsorger am Airport von Dallas/Fort Worth in Texas.
„Der Bedarf nach seelsorgerischem Beistand ist auf ein neues Hoch geschnellt. Die Daten zeigen, dass unter Mitarbeitern von Flughafen und Airlines Angststörungen, Depressionen, Sucht und auch Selbsttötungsabsichten zugenommen haben. Dabei mischen sich oft Furcht und Schuldgefühle – Furcht vor Tod, Krankheit und Arbeitslosigkeit, und Schuldgefühle gegenüber den Kollegen, die weniger Glück hatten. Wir haben in den letzten Monaten sehr viel Angst und Trauer erlebt.
In mehr als 300 Zoom-Sitzungen sprach McBrayer Trost zu. Hinzu kamen spontane persönliche Gespräche an den Flugsteigen, auf dem Flugfeld, in den Hangars.
McBrayer, Walker und seine Kolleginnen und Kollegen treffen auf gestresste und verängstigte Passagiere vor allem dann, wenn sie durch die Terminals gehen und Menschen beobachten –eine Seelsorge der Präsenz betreiben, wie sie das nennen.
Walker erinnert sich an einen Vorfall vor ein paar Wochen. Eine Frau, die mit ihrem Mann und Sohn reiste, erlitt am Flugsteig einen Krampfanfall.
„Der Mann war in Panik, er wusste ja nicht, was mit seiner Frau geschah. Rettungssanitäter kamen und brachten die Frau ins Krankenhaus, aber ihre Familie durfte nicht mitfahren oder bei ihr in der Klinik sein, wegen Covid. Ich habe dem Mann und dem Sohn geholfen, ein Hotel zu finden. Bei dieser Begegnung ist mir klar geworden: So sieht die Realität eines medizinischen Notfalls während der Pandemie aus. Und das war beängstigend.
Der Streit um Gesichtsmasken kann schnell eskalieren
Die Geschichte hatte ein gutes Ende, die Frau wurde am nächsten Tag entlassen. Immer wieder eskaliert auch der Streit um das Tragen von Gesichtsmasken, sagt Walker – bis hin zu Panikattacken und Nervenzusammenbrüchen. Vor wenigen Tagen bekam er einen Anruf vom Flugsteig.
„Da war eine Frau, die sehr aufgeregt, sehr wütend war. Sie weigerte sich, eine Maske zu tragen, weil sie angeblich eine Phobie hatte. Sie durfte dann tatsächlich nicht mitfliegen, und ich habe mich mit ihr hingesetzt und versucht, sie zu beruhigen.“
Schon lange vor Corona bemühten sich Flughäfen, das mentale Wohlbefinden der Reisenden zu fördern – mithilfe von Yoga-Räumen, Therapiehunden, Massagestationen oder Live Musik. Viele dieser Programme wurden während der Pandemie ausgesetzt.
Aber Covid diente auch als Geburtshelfer für neue Projekte. Seit einigen Monaten finden in der Flughafenkapelle von Atlanta geführte Meditationen statt, bislang einmal in der Woche.
Normalerweise meditiert Robin Hancock mit kleinen Gruppen bei Wanderungen. Am Flughafen lädt sie die Teilnehmer ein, in einem abgedunkelten Raum, zum Sound ihrer Handtrommel und den Klängen einer Waldidylle aus dem Lautsprecher in eine Landschaft ihrer Wahl zu reisen - im Geiste. Mit ihren Meditationssitzungen wolle sie den Menschen eine Pause verschaffen, sagt Hancock.
Geführte Meditationen in der Flughafenkapelle
„Da war dieses Wissen, dass Reisen in dieser Zeit eine Gefahr darstellt. Die Menschen waren und sind verwundbarer. Meine Naturmeditationen sollen ihnen dabei helfen, sich zu entspannen und sich zu erden. Und vielleicht nehmen sie ein bisschen etwas von der Meditation mit, was ihnen später, anderswo einmal hilft.“
An den Meditationen nehmen Reisende teil, aber auch Flughafenmitarbeiter. Die meisten erzählen nicht viel, und Hancock stellt keine Fragen.
„Ich kann Menschen ziemlich gut lesen. Oft sind ihre Körper angespannt. Ich erinnere mich an ein Paar, sie waren auf dem Weg nach Texas wegen eines Notfalls in der Familie. Es war offensichtlich: Sie hatten Angst vor dem, was sie erwartete, Angst vor der Reise, Angst, unter Menschen zu sein. Nach der Meditation schienen sie sich ruhiger zu fühlen.
Zwar geht es in den USA mit den Corona-Impfungen zügig voran, und die Zahl der Flugreisenden steigt seit Wochen stetig. Dennoch ist Theologe Emmanuel Lartey überzeugt: Die Pandemie wird noch langen Schatten werfen.
„Auch wenn die Bewegungsfreiheit zunimmt, wird noch lange ein Gefühl der Angst in uns lauern. Und Flughafenseelsorger werden sich darauf einstellen müssen, vielen gestressten und verängstigen Menschen zu begegnen. Aber die Pandemie hat uns auch die Chance eröffnet, neue, alternative Formen der Hilfe zu entdecken.“
Seien es Gottesdienste über Zoom oder geführte Meditationen wie am Flughafen von Atlanta. Seelsorger Blair Walker will die Meditations-Sitzungen jedenfalls ins feste Programm seiner Airport-Kapelle aufnehmen, auch nach Covid. Außerdem überlegt er, Yoga-Kurse anzubieten – wenn die Abstandsregeln gelockert werden.
„Diese neuen Angebote verstärken das, was unser Auftrag ist: Seelsorge und spirituelle Begleitung für Menschen am Flughafen zu leisten. Die Erfahrungen des letzten Jahres haben mich empfindsamer, sensibler gemacht. Ich hatte immer schon ein feines Gespür für diejenigen um mich herum. Aber manchmal ist uns nicht bewusst, wie oft viele Menschen kurz davor sind, zu zerbrechen, durchzudrehen. Weil wir ihre Geschichten nicht kennen.“
© Deutschlandfunk | Katja Ridderbusch