11. September 2021
Am 20. Jahrestag von 9/11 und nach dem chaotischen Truppenabzug aus Afghanistan kämpfen US-Veteranen des Kriegs gegen den Terror gegen Trauma, Trostlosigkeit und Schuldgefühle.
Von Katja Ridderbusch
Am Tag, als die Twin Towers fielen, war David Kendrick Jr. 14 Jahre alt und auf dem Weg zur Schule in Rochester, einer Stadt im Norden des Bundesstaates New York. Doch die Schule fiel aus, und die Lehrer schickten die Kinder nach Hause.
Kendrick schaltete den Fernseher ein und versuchte zu verstehen, was er sah. Was all das bedeutete – für sein Leben, für seine Stadt, für sein Land. Er hörte etwas von Krieg. Und spürte: Es war Wahnsinn.
Kendrick räumt ein: Als er sich drei Jahre später bei der US-Armee verpflichtete, habe 9/11 bei seiner Entscheidung kaum eine Rolle gespielt. Kendrick ist schwarz, er wuchs im Innenstadtghetto von Rochester auf, da habe es außer Drogen und Gangs keine rechte Perspektive gegeben, sagt er. Das Militär versprach ein besseres Leben.
Als Testosteron-gesteuerter Teenager wollte er ein Abenteuer, erzählt er, er wollte nach Hause kommen mit einer Geschichte. Und das tat er.
Der Abzug aus Afghanistan hat alte Wunden aufgerissen
Er diente von 2005 bis 2010, war Mitglied einer Aufklärungseinheit. 2007 wurde er bei einem Scharfschützenangriff im Irak schwer am linken Bein verwundet. Als er nach Hause kam, litt er unter PTBS, unter einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Kendrick ist einer von etwa drei Millionen US-Veteranen, die im Krieg gegen den Terror kämpften, in Afghanistan und Irak. Mehr als 7000 amerikanische Soldaten starben im Einsatz, mehr als 30,000 begingen später Selbstmord, heißt es in einer Studie der Brown University.
Kendrick lebt heute in Atlanta, arbeitet für eine Fast-Food-Kette und engagiert sich in einer gemeinnützigen Organisation, die Menschen mit psychischen Problemen hilft.
Der chaotische – einige finden: schmachvolle – Abzug der letzten US-Truppen aus Afghanistan hat bei vielen ehemaligen Soldaten alte Wunden aufgerissen, sagt Patrick Griffith, Programmdirektor von Mission Roll Call, einer Lobby-Organisation für Kriegsveteranen.
„Wir werden seit dem Truppenabzug mit Anrufen und Anfragen überrollt“ sagt er. Fast alle Veteranenorganisationen verzeichneten einen Anstieg von Notrufen auf ihren Hotlines. „Da ist das gesamte Spektrum vertreten – von ehemaligen Soldaten, die einfach nur reden wollen, bis zu denen, die sich in einer akuten psychischen Krise befinden, die sagen: ich brauche Hilfe, sofort.“
Mission Roll Call entspricht nicht dem Bild einer traditionellen Veteranenorganisation. Das Büro in Atlanta liegt an der Beltline, einer ehemaligen Eisenbahntrasse, in einem Lagerhaus, wo sich Künstler und digitale Nomaden in Co-Working Spaces kreativ betätigen. Auf den Laderampen stehen bunte Gartenstühle. Der süßliche Geruch von Marihuana wabert durch die Flure.
Griffith – 35, schmal, drahtig, Hipster-Bart und sehr viele Tattoos – diente in einer Einheit zur Sprengstoffentschärfung und ging 2012 nach Afghanistan. Mehrere seiner Freunde starben im Krieg, sein Schwager verlor beide Beine.
Als die Bilder und Berichte vom Abzug aus Kabul um die Welt gingen, war Griffith gerade auf einer Dienstreise in Alaska. Zuerst habe er die Nachrichten ausgeblendet, sagt er. Aber dann, eines Abends, konnte er nicht mehr.
„Was ich fühle? Große Frustration“
„Es hat mich plötzlich einfach umgehauen, diese massive Welle von Emotionen“, sagt er. „Ich dachte, das ist Vietnam 2.0“ - und nichts, was er in Afghanistan getan habe, sei noch irgendetwas wert, alles sei weggewischt. „Ich habe auf dem Fußboden in meinem Hotelzimmer gehockt, ich habe geheult und gelacht und gebettelt, oh Gott, hoffentlich kommen meine Kumpels jetzt nicht rein.“
Dabei sei er vom Verlauf des Truppenabzugs eigentlich nicht überrascht gewesen, sagt er. Trotzdem sei es schmerzhaft, sagt Griffith. David Kendrick hingegen empfindet vor allem eines: Wut.
„Darüber, dass der afghanische Präsident und die afghanische Armee nicht einmal versucht haben zu kämpfen“, sagt er. Der Präsident sei geflohen, und die Armee habe nicht einen einzigen Schuss gefeuert, um ihr Land zu verteidigen – nachdem amerikanische Soldaten 20 Jahre lang ihr Leben für die Menschen dort riskiert hätten. „Was ich fühle? Sehr große Frustration“.
Doch Kendrick und Griffith wollen weder sich selbst noch ihren ehemaligen Kameraden erlauben, sich in Trostlosigkeit zu verlieren. Beide besuchen Selbsthilfegruppen. Und ermuntern andere Veteranen, sich auch die positiven Erlebnisse ins Bewusstsein zu rufen.
Der Einsatz in Afghanistan war nicht umsonst
Aus seiner Zeit in Afghanistan ist Griffith eine Begebenheit besonders in Erinnerung geblieben:
„Mein Kumpel hat immer Süßigkeiten an die Kinder verteilt“, sagt er. Die Kinder liebten die Bonbons, aber irgendwann hätten sie nach Stiften und Papier gefragt. Es sei furchtbar traurig, dass den Kindern in Afghanistan jetzt die Chance genommen werde, zu lernen. „Aber 20 Jahre lang haben wir dafür gesorgt, dass Kinder zur Schule gehen konnten, ohne sich zu fürchten. Und allein deshalb war unser Einsatz nicht umsonst“.
Kendrick rät denen, die in diesen Tagen oft an ihre Partner in Afghanistan, an die Übersetzer und lokalen Helfer denken:
„Wenn ihr noch Kontakt mit Leuten in Afghanistan habt, fragt, was ihr tun könnt. Aber ihr dürft euch nicht schuldig fühlen. Jetzt ist die Zeit für unsere Soldaten gekommen, vom Krieg zu heilen, mental und körperlich.“
© Deutschlandfunk / Katja Ridderbusch