01. Dezember 2019
In einer internationalen klinischen Studie werden Alzheimerpatienten operiert: Ein Hirnschrittmacher soll das Fortschreiten ihrer Demenz verzögern. Die ersten Ergebnisse in den USA wecken Hoffnung – nun wird die Methode auch in Deutschland getestet
Von Katja Ridderbusch
Ann und Jay Alderson gehören zu den Paaren, die am liebsten alles zusammen machen. Die sich wie amputiert fühlen, wenn sie ein paar Stunden lang getrennt sind. Wenn Ann einen Satz beginnt, setzt Jay ihn fort, und umgekehrt.
Das ist so, seit sie sich zum ersten Mal getroffen haben, da waren sie noch Kinder. Und daran hat sich nichts geändert, als bei Ann die Krankheit festgestellt wurde, Alzheimer, sieben Jahre ist das jetzt her. Vor fünf Jahren setzten ihr Ärzte zwei Drähte ins Gehirn und ein Gerät in der Größe einer Streichholzschachtel in die Brust. Es sendet elektrische Impulse in ihren Kopf, die den Verfall ihres Hirns aufhalten sollen.
Die Aldersons leben in Phoenix, im US-Bundesstaat Arizona. In der Stadt befindet sich eine der führenden neurologischen Kliniken der Welt, das Barrow Neurological Institute. An dieser Klinik nimmt Ann Alderson, inzwischen 80 Jahre alt, an einem aufsehenerregenden Pilotversuch teil: Sie ist eine von 42 Probanden einer klinischen Studie, bei denen Ärzte versuchen, mit Stromimpulsen gegen die Demenz anzukämpfen.
Bei seiner Frau verlaufe der mentale Verfall seitdem langsamer, hat Jay Alderson, 79, beobachtet. „Und vielleicht kann ich damit auch anderen Leuten helfen, die unter dieser schrecklichen Krankheit leiden“, sagt Ann Alderson.
Die Methode, die seit 2014 an ihr und den anderen erprobt wird, heißt Deep Brain Stimulation, Tiefe Hirnstimulation, kurz: DBS. Mit einem minimalinvasiven neurologischen Eingriff werden dafür Elektroden ins Hirn und ein Neurostimulator in die Brust gesetzt.
Seit Mitte der 1990er-Jahre werden diese Hirnschrittmacher bei neurologischen Erkrankungen angewendet, vor allem bei Parkinson, aber auch bei Epilepsie, Bewegungsstörungen, Zwangserkrankungen. Nun zeigt sich, dass die Hirnstimulation auch bei Alzheimerpatienten zu wirken scheint.
Zwei große Studien wurden abgebrochen
Weltweit sind 44 Millionen Menschen an Alzheimer erkrankt. In den USA sind es knapp sechs Millionen, in Deutschland etwa 1,5 Millionen. Bis 2050 dürften sich diese Zahlen verdoppeln bis verdreifachen. Der Verlauf der Demenz lässt sich mit Medikamenten kaum verzögern.
Die Alzheimerforschung, die sich seit Jahrzehnten vor allem auf die Rolle von Beta-Amyloiden, Proteinplaques im Gehirn, fokussiert, schien zuletzt in eine Sackgasse geraten. Zwei größere Studien zur Erforschung einer Immuntherapie gegen die Bildung der toxischen Eiweißklumpen wurden im Frühjahr aus Mangel an greifbaren Ergebnissen abgebrochen.
Am Barrow Neurological Institute in Phoenix laufen ständig zehn bis zwanzig klinische Studien zu Alzheimer, einige untersuchen Medikamenten-Kombinationen, andere neue Verfahren zur Diagnostik.
Besonders große Erwartungen richten die Forscher auf die tiefe Hirnstimulation – das bisher erste operative Verfahren zur Behandlung der Demenz. Weil die Ergebnisse des ersten Versuchs aus dem Jahr 2014 vielversprechend waren, ist vor kurzem die Folgestudie „Advance II“ angelaufen.
Die Methode soll nun an weitaus mehr Patienten erprobt werden, auch außerhalb der USA. In Deutschland soll der erste Patient im Januar implantiert werden, an der Universitätsklinik Köln.
„Ziel ist es, das Voranschreiten der Krankheit so weit wie möglich zu verlangsamen,“ sagt Anna Burke, Neuropsychiaterin am Barrow Institute und eine der Studienleiterinnen. Zusammen mit einer medikamentösen Behandlung könnte die Hirnstimulation ein wirksamer Teil eines Therapieplans werden.
Der Neurochirurg Francisco Ponce leitet an der Klinik in Phoenix das DBS-Programm, er hat seit 2011 bei mehr als 1000 Patienten den Eingriff durchgeführt. Die meisten litten an Parkinson. Der Eingriff gilt als sicher, die Gefahr von Blutungen und Infektionen sei gering, sagt Ponce. Die meisten Patienten könnten die Klinik nach einem Tag verlassen.
Die Operation verlaufe gleich, egal ob der Schrittmacher gegen Parkinson oder Alzheimer wirken soll.
Der Effekt der Hirnstimulation wurde durch Zufall entdeckt
Der Unterschied liegt darin, welcher Bereich des Gehirns stimuliert wird. Im Fall von Alzheimer-Patienten zielen die elektrischen Impulse auf den Fornix – „das ist eine Art Superhighway des Gehirns“, sagt Ponce, die Region, die für das Lernen, die Erinnerung und die Emotionen zuständig ist – und die im Verlauf der Alzheimer-Erkrankung als erste zerstört wird.
Dass tiefe Hirnstimulation überhaupt bei der Behandlung von Alzheimer hilfreich sein könnte, war, wie so oft bei medizinischen Entdeckungen, ein Zufallsfund. Ein Forscherteam in Kanada arbeitete an einer Studie zur Behandlung von Übergewicht mithilfe von DBS. Dabei stellte sich heraus: Hirnstimulation eignet sich weniger, um den Appetit dauerhaft zu zügeln.
Aber die Probanden berichteten, dass sie besonders lebhafte und detaillierte Erinnerungen hatten. „Das war der Startschuss“, sagt Ponce.
Es folgte die DBS-Studie mit 42 Alzheimer-Patienten in den USA, die bereit waren, sich auf einen Versuch einzulassen, darunter auch Ann Alderson. Ponce setzte ihnen Schrittmacher ein. In kognitiven Tests zeigte sich bald, dass die Krankheit bei den Operierten weniger schnell fortschritt als bei den Patienten einer Kontrollgruppe, die keinen Schrittmacher erhalten hatten.
Die Forscher beobachteten sogar, dass der Hippocampus, ein Teil des Gehirns, der für Erinnerung und Lernen zuständig ist, bei einigen Probanden größer wurde. Normalerweise schrumpft er im Verlauf der Erkrankung. Auch hatten Patienten, die mit DBS behandelt wurden, einen verstärkten Glukose-Stoffwechsel im Gehirn – ein Zeichen für funktionierende Neuronen.
Doch die Veränderungen seien nicht nur in Laborwerten und auf Gehirnscans abzulesen, sagt Ponce. Auch die Patienten selbst und ihre Angehörigen registrierten häufig eine Verhaltensänderung. „Nach einer Weile können sie ziemlich treffsicher sagen, ob das DBS-Gerät ein- oder ausgeschaltet ist.“
Jay Alderson erinnert sich, dass sich das Verhalten seiner Frau etwa zwei Wochen, nachdem bei ihr der Hirnschrittmacher eingeschaltet worden war, änderte. „Sie war aufmerksamer, interessierter, reagierte stärker auf ihre Umwelt“, sagt er. Einer der Söhne kam zum Dinner und sagte später zu Jay: „Wow, Mama beteiligt sich viel mehr an den Gesprächen als vorher.“
Zuvor sei es schwer für sie gewesen zu verfolgen, was um sie herum geschehe, sagt Ann Alderson. Sie zögert, sucht nach den passenden Worten.
„Auch weil die Leute oft so schnell sprechen.“ Irgendwann habe sie aufgegeben, sich zurückgezogen. „Ich war wohl etwas deprimiert.“ Sie zuckt mit den schmalen Schultern. Heute besucht sie mehrere Kunst- und Musikkurse und freut sich über Besuche von Kindern, Enkeln und alten Freunden.
Doch nicht bei allen Patienten aus der Pilotstudie brachte der Eingriff so deutliche Ergebnisse. Bei Patienten, die jünger waren und bei denen die Krankheit schnell fortschritt, blieb der positive Effekt aus. „Diese Patienten leiden offenbar unter einer anderen Variante von Alzheimer“, sagt Francisco Ponce.
Der ideale Alzheimer-Patient für die tiefe Hirnstimulation sei älter, aber noch in einem frühen Stadium der Krankheit, „sodass wir die Stromkreisläufe im Hirn noch aktivieren können, bevor sie ausbrennen.“
Sechs Kliniken wollen die Methode testen
Die Probanden der Folgestudie müssen deshalb mindestens 65 Jahre alt sein – und dürfen nur unter einer leichten Form von Alzheimer leiden. 210 Teilnehmer sollen gefunden werden, die meisten in den USA, zehn in Kanada und etwa 40 in Deutschland.
Neben Köln nehmen die Universitätskliniken in Berlin (Charité), Kiel, Magdeburg und Würzburg sowie die Klinik der Technischen Universität München teil. „Advance II“ wird vom amerikanischen Medizintechnik-Start-up Functional Neuromodulation durchgeführt.
Die Studie verlaufe an allen Standorten nach streng einheitlichem Protokoll, sagt Veerle Visser-Vandewalle, Neurochirurgin an der Universitätsklinik Köln. Nach einem intensiven Screening der Probanden wird operiert. Anschließend werden die Teilnehmer in drei Zufallsgruppen eingeteilt, erklärt Visser-Vandewalle. Kein Patient weiß, ob Strom in sein Hirn fließt.
Bei einer Gruppe bleibt die Stimulation aus, bei den anderen ist das Gerät angeschaltet: einmal mit niedriger, einmal mit hoher Frequenz. In der Vorgängerstudie sei nur eine hohe Frequenz verwendet worden, „doch jetzt versuchen wir herauszufinden, welche Frequenz die besten Ergebnisse bringt“, sagt die Neurochirurgin, die seit mehr als 20 Jahren mit tiefer Hirnstimulation arbeitet und 1999 den ersten Patienten mit Tourette-Syndrom mithilfe der Methode operierte.
Die aktuelle Studie, die etwa fünf Jahre dauern wird, könne die bisherigen Beobachtungen auf eine breitere Evidenzbasis stellen. Sie sei „vorsichtig optimistisch“, was die Ergebnisse angehe, sagt Visser-Vandewalle.
Paul Boon hält die Zuversicht für gerechtfertigt. Der Neurologe an der Universität von Gent ist einer der weltweit führenden Experten für die Behandlung von Parkinson und Epilepsie mit DBS. An der Alzheimer-Studie ist er nicht beteiligt.
Die bisherigen Therapieansätze könnten sich radikal verändern
Nicht nur Demenzforscher hätten Hinweise gefunden, dass eine tiefe Stimulation bestimmter Hirnregionen die kognitiven Fähigkeiten verbessern könne, sagt er. Allerdings sei es wichtig, die längerfristigen Risiken zu untersuchen, die eine elektrische Stimulierung des Fornix möglicherweise hervorrufe.
Sollte sich die tiefe Hirnstimulation auch in Folgestudien als erfolgreich erweisen, und wenn auch nur für bestimmte Patientengruppen, dann würde das „die bisherigen Therapieansätze radikal verändern“, sagt Francisco Ponce, der Hirnchirurg aus Phoenix.
Wer seine Patientin Ann Alderson und ihren Mann erlebt, versteht man, wie viel das bedeuten kann. Ann, die seit fünf Jahren mit Strom in ihrem Kopf lebt, könne sich immer noch sehr gut unterhalten, sagt Jay Alderson.
Nur mit Zahlen habe sie ihre Probleme, von 100 herunterzählen, das schaffe sie nicht. Sie fällt ihm ins Wort, lacht, „na, von zehn schaffe ich das aber schon noch“. Auch am Humor seiner Frau habe sich bisher nichts geändert, sagt ihr Mann.
So läuft die Operation ab
Um das Gehirn zu erreichen, bohren Neurochirurgen zwei kleine Löcher in den Schädel des Patienten, meist knapp oberhalb des Haaransatzes. Durch diese Löcher, die etwa zehn Zentimeter tief in einen bestimmten (und je nach Indikation verschiedenen) Bereich des Gehirns reichen, werden zwei dünne Drähte mit Metallköpfen eingeführt.
Im zweiten Schritt wird dem Patienten ein kleiner Neurostimulator – der eigentliche Hirnschrittmacher – unter die Haut des Brustkorbs gesetzt. Dieser batteriebetriebene Impulsgenerator ist durch subkutane Kabel mit den Elektroden verbunden. Etwa 14 Tage nach dem Eingriff wird der Hirnschrittmacher angeschaltet und sendet leichte elektrische Impulse an die Elektroden.
Während der OP waren die Patienten ursprünglich bei vollem Bewusstsein, doch immer mehr Kliniken führen den Eingriff unter Vollnarkose durch und kontrollieren dessen Verlauf mittels bildgebender Verfahren.
Copyright: WeltN24 / Katja Ridderbusch