16. Januar 2020 

Veränderungen des Mikrobioms stehen im Zusammengang mit Übergewicht, Diabetes, Darmentzündungen und anderen Krankheiten. Mikrobiologe Brett Finlay erklärt, wieso über diese Mikroben Krankheiten übertragen werden – und wie Babys von ihnen profitieren. 

Von Katja Ridderbusch

Übergewicht gilt bislang als Folge eines ungesunden Lebensstils oder ungünstiger Gene. Als individuelles Problem – und als nicht von Mensch zu Mensch übertragbar. Ein international besetztes, interdisziplinäres Forscherteam stellt jetzt diese Auffassung infrage. Die Forscher glauben, dass eine ganze Reihe weitverbreiteter Volkskrankheiten zwischen Menschen weitergeben werden kann, darunter die Neigung zu vielen Extrakilos.

Die Weitergabe läuft demnach über die Abermillionen Mikroben, die auf und in uns wohnen: das Mikrobiom. Die Entdeckung könnte einen Paradigmenwechsel im Kampf gegen die Kilos, aber auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2-Diabetes, Darmerkrankungen, Asthma und andere Leiden einleiten, sagt Brett Finlay, Professor für Mikrobiologie an der Universität von British Columbia und Leiter der Studie.

 

WELT: Sie erforschen das Mikrobiom des Menschen. Was genau verstehen Sie darunter?

Brett Finlay: Meist meint man damit heute die Summe aller Mikroben, die in und auf uns wohnen, Bakterien, Viren und Pilze, schädliche Mikroben ebenso wie notwendige. Streng betrachtet bezeichnet das Mikrobiom allerdings die Gesamtheit aller Gene, also aller Erbinformationen in unseren Mikroben. Die meisten Leute denken beim Schlagwort Mikrobiom an den Darm, und dort leben tatsächlich die meisten Mikroorganismen. Aber auch die Haut, Mund- und Nasenhöhle, die Vagina und sogar die Lunge sind besiedelt.

WELT: Wenn Menschen krank werden, kann sich ihr Mikrobiom verändern. Bei welchen Erkrankungen ist das besonders zu beobachten?

Finlay: Mikrobielle Veränderungen stehen nicht nur mit Übergewicht, Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und chronischen Darmentzündungen im Zusammengang, sondern auch mit bestimmten Krebsarten, Asthma und neurodegenerativen Erkrankungen wie Demenz und vor allem Parkinson.

WELT: Sie sagen nun: Übergewicht und andere Leiden könnten über das Mikrobiom sogar von Mensch zu Mensch weitergegeben werden.

Finlay: Zum einen haben wir festgestellt, dass Menschen mit Übergewicht, entzündlichen Darmerkrankungen, Typ-2-Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen ein dysbiotisches – das heißt ein deutlich verändertes – Mikrobiom haben. Dann haben wir keimfreie Labormäuse mit den Mikroben von Menschen besiedelt. Die Mäuse haben genau das Krankheitsbild entwickelt wie die Menschen, deren Mikroben sie bekamen. Hinzu kam eine Studie über eine Gruppe von Menschen auf der Pazifikinsel Fidschi. Dort konnten Forscher anhand der Mikroben im Stuhl ziemlich genau bestimmen, wer mit wem verheiratet war oder zusammenlebte. Diese drei Befunde legen nahe, dass wir auf etwas ziemlich Interessantes gestoßen sind.

WELT: Übergewicht scheint ein Paradebeispiel für Ihre These zu sein. Warum?

Finlay: Wenn wir dünnen Mäusen den Stuhl von fetten Mäusen übertragen, legen die dünnen Mäuse an Gewicht zu. Und ähnliche Trends zeigen sich, wie gesagt, bei der Übertragung der Mikroben von übergewichtigen Menschen auf Labormäuse. Außerdem ist das Mikrobiom von übergewichtigen Menschen besonders stark verändert.

WELT: Wie waren die Reaktionen aus der Fachwelt auf Ihre Studie?

Finlay: Ich habe viele E-Mails von Kollegen bekommen, die schreiben: Ich wusste doch, dass meine Frau oder mein Mann mir diese oder jene Krankheit weitergegeben hat! Aber im Ernst: Es ist nicht ganz neu, dass Krankheiten wie Übergewicht und chronische Darmentzündungen mit der mikrobiellen Besiedlung des Körpers im Zusammenhang stehen. Wenn man aber all diese Krankheiten unter der Kategorie der Übertragbarkeit bündelt, dann ist das ein komplett anderer Ansatz.

WELT: Sollte man sich bei der Wahl eines künftigen Partners vielleicht auch dessen Mikrobiom anschauen?

Finlay: So weit würde ich jetzt nicht gehen. Aber immerhin haben schon frühere Studien gezeigt, dass beispielsweise Menschen, die übergewichtige Freunde haben, selbst ein höheres Risiko haben, an Gewicht zuzulegen – das Phänomen nannte man „soziale Ansteckung“.

WELT: Erben Kinder das Mikrobiom ihrer Eltern?

Finlay: Es gibt interessante Forschungen zur mikrobiellen Übertragung von der Mutter auf das Kind. So haben Babys, die per Kaiserschnitt geboren werden, ein 30- bis 50-mal höheres Risiko, später fettleibig zu werden, und ein 25-mal höheres Risiko, an Asthma zu erkranken. Warum? Bei der vaginalen Geburt erbt das Kind die Mikroben aus der Scheidenschleimhaut und dem Stuhl der Mutter – Mikroben, die eine wichtige Rolle dabei spielen, dass sich das Immunsystem normal entwickelt. Bei einem Kaiserschnitt erbt das Kind allenfalls die Mikroben im Operationssaal.

WELT: Schlechte Aussichten für Kaiserschnittkinder also.

Finlay: Man kann da durchaus gegensteuern. So stärkt ein Haustier diejenigen Mikroben des Kindes, die zur Immunabwehr nötig sind. Selbstverständlich ist es wichtig, dass Kinder sich während der Grippesaison sorgfältig die Hände waschen. Aber man muss nicht jedes Mal mit einem Desinfektionsmittel anrücken, wenn das Kind auf dem Spielplatz von der Rutsche zur Wippe wechselt. Es ist schon in Ordnung, wenn die Kinder sich auch mal Erde in den Mund stecken.

WELT: Sie sagen, dass auch Umwelteinflüsse und soziale Faktoren eine Rolle bei der Übertragbarkeit von Übergewicht spielen.

Finlay: Es ist ja immer eine Kombination von Faktoren, die zu Übergewicht, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und vielen anderen Erkrankungen führt, genetischen und mikrobiellen Faktoren, Lebensstil und Umweltweinflüssen. Aber ich bin Mikrobiologe, und wenn ich das Wort „Umwelteinflüsse“ höre, dann denke ich sofort an Mikroben. Wenn jemand seine Ernährung umstellt, von viel Fleisch auf viel Gemüse, Obst und Nüsse, und dadurch Gewicht verliert sowie Blutdruck und Cholesterin senkt – liegt das dann am verbesserten Nährwert oder daran, dass sich die Mikrobenbesiedlung im Körper verändert? Wahrscheinlich spielt beides eine 

WELT: In einer neuen Studie prognostizieren Forscher, dass in zehn Jahren jeder zweite Erwachsene in den USA übergewichtig sein wird. In anderen Ländern sieht es nicht viel besser aus. Lässt sich diese Entwicklung mit dem Wissen über das Mikrobiom stoppen?

Finlay: Der Schlüssel liegt weiterhin in der Ernährung, aber auch Bewegung spielt eine wichtige Rolle: Wie wir inzwischen wissen, verändert beides das Mikrobiom. Außerdem kann kein Zweifel bestehen, dass das kollektive Mikrobiom in der westlichen Welt sich in den letzten Jahrzehnten mehr zu einer wortwörtlich übergewichtigen Mikrobiomkomposition entwickelt hat. Die Forschung zum genauen Zusammenhang zwischen personalisierten Ernährungsplänen und dem Einfluss auf das Mikrobiom steht noch am Anfang, könnte aber vielversprechend sein.

WELT: Wie können Patienten von Ihren Erkenntnissen profitieren?

Finlay: In der klinischen Praxis kommt das Wissen über das Mikrobiom bisher eigentlich nur bei Stuhltransplantationen zum Einsatz, wenn Patienten beispielsweise unter einer schweren Form von C. difficile leiden, einer infektiösen Durchfallerkrankung. In Zukunft aber könnte eine Analyse des Mikrobioms zu einem wichtigen medizinischen Instrument zum Screening, zur Prävention und Behandlung von Krankheiten werden. Ich arbeite zum Beispiel gerade an einem Projekt, bei dem sich anhand der mikrobiellen Veränderung im Darm ablesen lässt, ob sich bei Patienten mit chronischer Darmentzündung ein neuer Krankheitsschub ankündigt. Dann können wir mit einer bestimmten Diät frühzeitig intervenieren. Ein anderes Beispiel ist Asthma bei Kleinkindern. Wir untersuchen deren Mikrobiom, und wenn ihnen gewisse Mikroben fehlen, die das Immunsystem stärken, können wir diese Mikroben gezielt ansiedeln und damit hoffentlich verhindern, dass die Kinder später Asthma bekommen.

WELT: Das alles setzt beim Einzelnen an.

Finlay: Wir wollen in künftigen Projekten stärker auf das Bevölkerungs-Mikrobiom schauen, auf das kollektive Mikrobiom eines Gemeinwesens. Welche langfristigen Auswirkungen hätte es auf die Gesundheit der Menschen, wenn wir konsequent die öffentlichen Ernährungsleitlinien änderten? Es ist noch viel mehr Forschung nötig, aber der Blick auf das Mikrobiom eröffnet uns vollkommen neue Wege.

Zur Person: Brett Finlay ist Mikrobiologe an der Universität von British Columbia in Vancouver, Kanada, und einer der weltweit führenden Experten für die Rolle von Mikroben bei der Entstehung von Krankheiten. Finlay hat an der University of Alberta in Kanada und der Stanford University in den USA studiert und war an der Entwicklung eines Impfstoffes gegen  beteiligt. Am Canadian Institute for Advanced Research leitet er das Projekt „Humans & the Microbiome“. Die Gruppe hat ihre Erkenntnisse kürzlich in „Science“ publiziert.

 © WeltN24 / Katja Ridderbusch