08. November 2020

Ärzte lernen ein neues Krankheitsbild kennen: Neuro-Covid. Es betrifft Patienten, die eine Corona-Infektion hinter sich haben, deren neurologische Symptome aber nicht verschwinden. 

Von Katja Ridderbusch 

Vor einem Jahr sei es ihr noch schwergefallen stillzusitzen, sagt Darcy Havel-Sturdevant. Sie arbeitete als Pflegeassistentin im Universitätskrankenhaus von Iowa City, trainierte fast täglich im Fitnessstudio, half ihrem Mann, einem Fotografen, bei der Arbeit, kümmerte sich um ihre kleine Tochter. So beschreibt sie ihr Leben. Nun sei sie froh, wenn sie ihrer Familie das Essen zubereiten kann. Ihre Tochter ist drei, sie selbst 33 Jahre alt. Für mehr als Kochen reichten ihre Kraft und Konzentration oft nicht mehr.

Zwischen den beiden Zuständen, die sie beschreibt, liegt eine Infektion mit dem Coronavirus. Darcy Havel-Sturdevant erkrankte an Covid-19. Acht Monate ist das jetzt her, aber die neurologischen Folgen halten an. In den USA haben Ärzte inzwischen einen Begriff für Menschen wie sie: Neuro-Covid-Patienten.

Es gebe viele Tausende im ganzen Land, sagt Igor Koralnik, Professor für Neurologie an der Northwestern University in Chicago. Er eröffnete im Mai eine Covid-Ambulanz für Patienten mit neurologischen Langzeitfolgen. Ein Team von Neurologen und Infektionsmedizinern behandelt Betroffene persönlich oder via Telemedizin. „Wir haben Patienten aus allen Teilen der USA und auch aus Übersee“, sagt Koralnik.

Erinnerungslücken und schweres Kopfweh

Unter den Betroffenen sind viele Menschen, die noch keine 50 sind und vollkommen gesund waren, bevor sie das Virus traf. So wie Seiji Ogata, 49, ein IT-Berater aus New York, der nun sagt, er könne sich an manchen Tagen nicht erinnern, was er vor einer Stunde gemacht hat. Manchmal fehlten ihm sogar die letzten zehn Minuten. Ein kleiner Spaziergang strenge ihn bisweilen so an, dass er sich danach übergeben müsse.

Auch Jessica Thomas, 47, aus Chicago hatte keine Vorerkrankungen. Sie litt nach ihrer Covid-19-Erkrankung im August an Kopfschmerzen, die sie als die schlimmsten ihres Lebens beschreibt. Es fühlte sich an, „als säßen die Schmerzen ganz tief in meinem Hirnstamm“. Sie arbeitet als Erziehungsberaterin, so gut das noch geht, erzieht ihre eigenen beiden Kinder allein. Sie könne sich schwer konzentrieren, ihr Geruchs- und Geschmackssinn seien gestört.

Noch schwerer traf die Krankheit Heather-Elizabeth Brown aus Detroit. Sie lag fast 100 Tage im Krankenhaus, 31 davon an einem Beatmungsgerät. Als sie entlassen wurde, habe sie erst wieder lernen müssen zu gehen, sagt sie. Und zu sprechen und zu denken. Sie arbeitete bei einer Bank und als Seelsorgerin bei der Polizei, bevor sie Covid-19 bekam. Sie ist 36 Jahre alt.

Die häufigsten neurologischen Symptome, die Patienten nach einer akuten Covid-Erkrankung entwickeln, sind Kopfschmerzen, Muskelschmerzen, extreme Abgeschlagenheit, anhaltende Riech- und Geschmacksstörungen sowie kognitive Probleme wie Konzentrations-, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen.

Ferner kann eine Infektion mit Sars-CoV2 – wie andere schwere Infektionen auch – Nervenkrankheiten wie das Guillain-Barré-Syndrom oder Myasthenia gravis auslösen, die zu Lähmungserscheinungen und Muskelschwäche führen.

Schlaganfälle werden schnell übersehen

Bei der Einordnung der neurologischen Langzeitfolgen unterscheiden Spezialisten wie Igor Koralnik zwischen Patienten, die stationär, insbesondere intensivmedizinisch, behandelt wurden, und denjenigen, die die Infektion zu Hause durchgestanden haben. Je schwerer die Krankheit verlief, umso häufiger gibt es Spätfolgen. In einem Artikel für das Fachmagazin „Annals of Clinical and Translational Neurology“ untersuchte Koralnik mit mehreren Kollegen eine Fallserie von 500 stationär behandelten Covid-19-Patienten in Chicago.

Gut 82 Prozent von ihnen entwickelten neurologische Symptome, 32 Prozent davon litten unter Einschränkungen ihrer kognitiven Funktionen. Koralnik benutzt das gängige Wort „brain fog“ – Nebel im Gehirn. Häufig, aber nicht immer lässt sich in der Kernspintomografie eine Schädigung des Gehirns, eine Enzephalopathie, nachweisen.

Peter Berlit ist niedergelassener Neurologe in Essen und Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). Er sieht vor allem drei Gründe für diese Schädigung des Gehirns, vor allem bei intensivmedizinisch behandelten Patienten. Verantwortlich seien „der Sauerstoffmangel infolge der Lungenschädigung, die Auswirkungen der künstlichen Beatmung sowie eine massive Immunreaktion des Körpers auf den viralen Infekt“.

Durch die Immunreaktion sei die Gerinnungs- und Thromboseneigung bei Covid-Patienten deutlich erhöht, sagt Berlit. Immer wieder komme es im Zuge der Erkrankung auch zu Schlaganfällen.

Allerdings würden Schlaganfälle und auch epileptische Anfälle bei Patienten mit akuter Covid-19-Infektion schnell übersehen, sagt Berlit, vor allem wenn die Menschen bereits invasiv beatmet würden. Er plädiert dafür, dass jeder stationär aufgenommene Corona-Patient von einem Neurologen untersucht wird.

„Viele dieser neurologischen Komplikationen sind gut behandelbar, wenn sie rechtzeitig erkannt werden“, sagt Berlit. So könne man auch die Zahl der Patienten mit Spätfolgen reduzieren.

Warum trifft es leichter Erkrankte?

Heather-Elizabeth Brown, die 36-Jährige aus Detroit, hat einen Schlaganfall im Krankenhaus erlitten. Als sie aus dem künstlichen Koma erwachte, war ihre linke Körperseite weitgehend gelähmt, sie hatte mehrere Blutgerinnsel in einem Bein. Mittlerweile sei sie auf dem Weg der Besserung, sagt sie. Aber es sei mühsam.

Vor sieben Monaten ist sie an Covid-19 erkrankt. Sie hat eine stationäre Rehabilitation hinter sich, geht zur ambulanten Krankengymnastik. Sie habe starke Nervenschmerzen, sagt sie, aber das Schlimmste seien die Gedächtnisstörungen. „Ich war immer eine schnelle und scharfe Denkerin, konnte mich pointiert und präzise artikulieren. Jetzt ringe ich um Worte.“

Es war bekannt, dass schwere virale (und auch bakterielle) Infektionen neurologische Langzeitfolgen auslösen können. Rätselhafter seien die Fälle jener Covid-19-Patienten, die nach leichteren oder mittelschweren Verläufen mit andauernden neurologischen Symptomen zu kämpfen haben, sagt Berlit.

Sein Kollege Koralnik aus Chicago fügt hinzu, dass die Vielfalt der Schäden rätselhaft sei. „Wir haben nie zuvor eine solche Bandbreite von verschiedenen neurologischen Symptomen gesehen wie bei Patienten, die mit Sars-CoV2 infiziert waren.“

Der New Yorker Seiji Ogata erkrankte Mitte April an Corona. Mehrere Wochen kämpfte er mit Pilzinfektionen im Mund, Nervenschmerzen und Lähmungserscheinungen in den Beinen, sagt er. Im Juni fühlte er sich besser, fast ganz wiederhergestellt, „so gut, dass ich meine 82-jährige Mutter in Kalifornien besucht habe“.

Dort kam der Rückfall, mit epileptischen Anfällen, Gedächtnisausfällen und extremer Schwäche. In New York ging er zum Neurologen. Blutbild und drei MRTs zeigten keine Auffälligkeiten.

Als Jessica Thomas im August an Covid erkrankte, habe sie viele Medikamente probiert, um ihre starken Kopfschmerzen in den Griff zu bekommen: Ibuprofen, Paracetamol, Migränemittel, Steroide. Nichts habe geholfen, erzählt sie. „Mein Kopf fühlte sich geschwollen an, meine Gedanken und meine Sprache waren sehr weit weg, kaum greifbar“, sagt sie.

Ihre Ärztin verschrieb ihr schließlich ein Epilepsiemittel, seither sind die Schmerzen erträglich. Warum es funktioniert, wisse niemand genau, sagt sie. Erst im April hat sie einen Termin bei Igor Koralnik in seiner Neuro-Covid-Ambulanz.

Darcy Havel-Sturdevant aus Iowa City hatte im vergangenen Winter eine Lungenentzündung. Als sie anfing, sich besser zu fühlen, Anfang März, sei sie an Covid-19 erkrankt, sagt sie. Sie habe über Wochen anhaltendes Fieber gehabt, Husten, hohen Blutdruck, einen rasenden Puls. Sie atmet schwer, während sie am Telefon ihre Geschichte erzählt, muss sich immer wieder unterbrechen. Am Anfang sei sie verzweifelt gewesen, wenn Atem und Kraft nicht reichten, um ihrer Tochter eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen. „Mittlerweile ist das der Normalzustand geworden.“

Eine Kernspintomografie zeigte keine Auffälligkeiten, aber eine neuro-psychiatrische Untersuchung ergab, dass sie „signifikante Defizite in ihrem Arbeitsgedächtnis“ hat. Dieser Teil des Gehirns ist für die Verarbeitung von Informationen zuständig. Das Gutachten ihres Psychiaters kommt zu dem Ergebnis, „dass die Patientin nicht in der Lage ist, einen normalen Arbeitstag zu bewältigen“. Nun verhandelt sie mit dem Krankenhaus, in dem sie arbeitete, über einen Auflösungsvertrag. Mit ihrem Job wird sie auch ihre Krankenversicherung verlieren.

Behandlung mit „Versuch und Irrtum“

Wie lassen sich die neurologischen Schäden behandeln? In Deutschland setzten Mediziner derzeit vor allem auf nicht-medikamentöse Therapien, sagt der Neurologe Berlit. Das können Gedächtnistrainings ebenso wie Physiotherapie sein, es gehe darum, Alltagskompetenzen wieder zu erlernen. Bei einzelnen Patienten werde die Neurorehabilitation durch die Gabe von Antidepressiva ergänzt.

In den USA ist die medikamentöse Therapie verbreiteter, funktioniert häufig nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ – so wie im Fall von Jessica Thomas. Berlit mahnt zur Vorsicht, solange die Ursachen der neurologischen Symptome von Covid-19 nicht geklärt seien und es keine umfassenden Kontrollstudien über die Wirkung und Wechselwirkung von Medikamenten gebe.

Für Deutschland hat die DGN ein Register ins Leben gerufen, in dem Mediziner seit Juli alle Patienten mit neurologischen Covid-Symptomen verzeichnen und deren Krankheitsverläufe beschreiben. Erste Zahlen sollen im Januar veröffentlicht werden, sagt Berlit.

Beistand und praktische Tipps finden viele der Langzeitkranken in Online-Selbsthilfegruppen wie „Body Politic“ oder „Survivor Corps“. Menschen aus aller Welt tauschen sich dort darüber aus, wie es ihnen geht und was ihnen hilft. Viele blicken mit gemischten Gefühlen in die Zukunft. Heather-Elizabeth Brown, die lange in der Klinik lag, sagt, sie gestatte sich nicht, „auch nur einen Moment daran zu zweifeln, dass ich wieder gesund werde.“ Seiji Ogata, der sich nach Spaziergängen übergab, fühlt sich derzeit besser. Aber das sei schon einmal so gewesen, sagt er. „Deshalb traue ich meinem Zustand nicht.“

Darcy Havel-Sturdevant hat in den letzten acht Monaten gelernt, in sehr kleinen Schritten zu denken. Im Moment wolle sie die wenige Energie, die sie aufbringen könne, so gut wie möglich nutzen. Sie sagt: „Ich bin einfach nur froh, wenn ich den aktuellen Tag überstehe.“

© WeltN24/Katja Ridderbusch

Foto: Gabe Havel