06. Juni 2021
In Europa, Asien und Nordamerika nimmt die Zahl der Kurzsichtigen seit der Corona-Pandemie zu. Vor allem bei den Jüngsten ist die Zahl der Myopie-Diagnosen gestiegen. Helfen kann dabei die einfache 20-20-20-Übung.
Von Katja Ridderbusch
Als Ben, fünf Jahre alt, entschlossener Blick, immer näher an den Fernseher rückte, als er mal das eine, mal das andere Auge zukniff, da befand seine Mutter Jordan, dass es an der Zeit sei, zum Augenarzt zu gehen. Das war im Herbst 2020. Jordan ist eine vorsichtige Frau, sie hatte Ben bereits im Februar aus der Vorschule genommen, noch bevor in den USA der Corona-Lockdown begann. Über den Sommer durfte Ben nicht mit den anderen Kindern aus der Nachbarschaft spielen.
Die Familie lebt in einem ruhigen Vorort von Atlanta im US-Bundesstaat Georgia, in einem Haus mit großen Bäumen im Garten. Meistens blieb Ben drinnen, spielte mit seinen Legosteinen und auf dem Tablet.
Der Augenarzt stellte fest: Ben ist kurzsichtig. Jetzt bekommt er Tropfen und muss eine Brille tragen. Jordan machte sich Vorwürfe. „Ich wollte mein Kind vor dem Virus schützen. Stattdessen habe ich seine Augen ruiniert.“
Ganz so schlimm mag es nicht sein, aber tatsächlich repräsentiert Ben aus Atlanta einen doppelten – und besorgniserregenden – Trend: Kurzsichtigkeit, auch Myopie genannt, nimmt zu. Sie beginnt meist im Kindesalter und stabilisiert sich zwischen dem 20. und 25. Lebensjahr. Wer kurzsichtig ist, kann in der Nähe noch scharf sehen, doch Gegenstände in der Ferne erscheinen verschwommen – entweder weil der Augapfel im Verhältnis zu lang oder die Brechkraft des Auges zu groß ist.
Corona hat den weltweiten Trend zur Kurzsichtigkeit noch weiter befeuert. Eine Studie der Emory-Universität in Atlanta, der University of Michigan in Ann Arbor und der Tianjin University in China beobachtet seit 2015 mehr als 120.000 Schulkinder in China im Alter von sechs bis 13 Jahren.
Die Forscher stellten fest: „Die Ausgangsbeschränkungen während der Covid-19-Pandemie“ – in China zwischen Januar und Mai 2020 – „scheinen mit einem signifikanten Anstieg von Myopie verbunden zu sein“, um durchschnittlich minus 0,3 Dioptrien.
Augenärzte sehen das in ihrem Alltag. Viele behandeln seit Monaten immer mehr Kinder, die im vergangenen Jahr Kurzsichtigkeit entwickelt haben oder deren Kurzsichtigkeit deutlich zugenommen hat. Der Anstieg der Myopie werde von zwei Gruppen angetrieben, sagt Susanna Tamkins, Optometristin am Bascom Palmer Eye Institute der Universität von Miami in Florida.
„Da sind zum einen die Kinder, die während des Covid-Lockdowns eine Myopie entwickelt haben.“ Auf der anderen Seite hätten viele Eltern allerdings während der Pandemie Routinebesuche beim Augenarzt hinausgezögert, teilweise um bis zu ein Jahr. „Und dass wir dann eine stärkere Veränderung in der Sehkraft feststellen, ist nicht überraschend.“
Megan Collins, Augenärztin am Wilmer Eye Institute der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, ergänzt: Die Sehtests, die in den meisten Schulen in den USA regelmäßig durchgeführt und bei denen Probleme häufig zuerst erkannt würden, fielen aus, weil Schulen geschlossen waren. „Zusammen mit den anderen Folgen der Pandemie“ – Kinder verbrächten mehr Zeit drinnen am Bildschirm statt im Freien – „hat der Ausfall der Sehtests an Schulen zu einer Gefährdung der Kinderaugen geführt.“
Myopie ist weltweit auf dem Vormarsch. Besonders in Asien schnellen die Zahlen der Kurzsichtigen in die Höhe, sie liegen bei Jugendlichen teilweise über 90 Prozent. Aber auch in Europa und Nordamerika leidet die Sehkraft der Menschen: 42 Prozent der Amerikaner sind kurzsichtig; in Deutschland kämpfen etwa 25 Prozent der Bevölkerung mit dem klaren Blick in die Ferne, schätzt der Berufsverband der Augenärzte (BVA).
Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass bis zum Jahr 2050 mehr als die Hälfte aller Menschen kurzsichtig sein werden. Augenärzte sprechen bereits heute von einer Myopie-Epidemie.
Die Folgen dieser Epidemie stellten mittel- und langfristig „eine schwere Belastung für die Gesundheitssysteme weltweit“ dar, sagt Professor Nikolaos Bechrakis, Direktor der Augenklinik am Universitätsklinikum Essen. Dabei geht es nicht nur um künftige Generation von Brillen- und Kontaktlinsenträgern oder einen Boom für Laser-Operationen.
Vor allem starke Kurzsichtigkeit – ab einem Korrekturbedarf von minus sechs Dioptrien – erhöhe das Risiko, später an schweren Augenleiden wie Katarakt, Glaukom, Makuladegeneration oder Netzhautablösung zu erkranken – Augenleiden, die potenziell die Sehkraft gefährden. „Auch diese Komplikationen werden mehr werden,“ sagt er.
Zwar gebe es mittlerweile vielversprechende Therapien, die das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit ausbremsen oder verlangsamen könnten, sagt Nhora Abril-Neufeld, Optometristin bei der Thomas Eye Group in Atlanta – „vor allem für Kinder, deren Augen sich noch in der Entwicklung befinden“.
Die Therapien reichen von Atropin-Tropfen über spezielle Brillen bis hin zu orthokeratologischen Kontaktlinsen, die nachts getragen werden und einer Verlängerung des Augapfels entgegenwirken. Doch die Therapien schlagen nicht bei allen Kindern an, sind teuer und werden von den meisten Krankenversicherungen nicht erstattet
Myopie wird durch genetische Faktoren, den Lebensstil und Umwelteinflüsse ausgelöst. Da genetische Veränderungen sich über Generationen statt über Jahre manifestieren, machen Experten vor allem Lebensstile für den jüngsten Anstieg der Kurzsichtigkeit verantwortlich – mehr Nahsehen, vor allem auf elektronischen Geräten, und weniger Zeit draußen.
Eine kanadische Studie stellte fest: Während des Covid-Lockdowns verbrachten achtjährige Kinder im Durchschnitt mehr als fünf Stunden pro Tag an ihren Smartphones und Tablets, zusätzlich zum virtuellen Schulunterricht und den Hausaufgaben.
Vor allem die Jüngsten sind betroffen
Die strenge Corona-Klausur sei für Forscher eine einmalige Chance gewesen, „die Entwicklung von Myopie gewissermaßen unter Laborbedingungen“ zu beobachten, sagt Jiaxing Wang, Augenarzt und Forscher an der Emory-Universität und einer der Co-Autoren der China-Studie.
Überrascht habe ihn vor allem, wie klar sich die Relation zwischen dem Alter der Kinder und der Zunahme der Kurzsichtigkeit abgezeichnet habe. „Die Daten zeigen, dass unter den Jüngsten in unserer Studie, den Sechsjährigen, das Auftreten von Kurzsichtigkeit während des Covid-Lockdowns am stärksten zugenommen hat“ – um knapp ein Vierfaches im Vergleich zum Zeitraum von 2015 bis 2019.
In diesem Alter hätten die Augen noch eine hohe Plastizität, erklärt Wang, seien „besonders verwundbar“, aber eben auch besonders formbar. Seine Kollegen in China hätten jetzt bei einer kleinen Zahl von Kindern aus derselben Kohorte festgestellt, dass sich die Covid-Myopie tatsächlich wieder zurückgebildet habe, sagt Wang. „Und das macht mich optimistisch.“
Bechrakis ist zwar skeptisch, ob Kurzsichtigkeit tatsächlich reversibel ist, aber er verweist auf eine andere wertvolle Erkenntnis der Studie: dass nämlich das Nahsehen, das Arbeiten mit Mobiltelefonen, Tablets und Computern möglicherweise einen weniger großen Einfluss auf die Entwicklung der Kurzsichtigkeit habe als bislang angenommen. „Dagegen ist natürliches Licht, Tageslicht, offenbar ein besonders wichtiger Faktor“, sagt Bechrakis.
Denn tatsächlich sind vor allem Vorschul- und Grundschulkinder besonders anfällig. Sie hängen aber eher seltener vor Tablet und Computer als ältere Kinder. Jüngere und ältere Kinder sind in der Pandemie indes gleichermaßen seltener draußen gewesen. Das Tageslicht und das in die Ferne Blicken ist sind offenbar die entscheidenden Faktoren.
Optometristin Abril-Neufeld behandelt in ihrer Praxis Kinder und Erwachsene, viele ihrer Patientinnen und Patienten leiden seit Monaten an den Folgen der Pandemie – die Kinder an Kurzsichtigkeit, die Erwachsenen an trockenen, müden, schmerzenden Augen. Die Gründe seien immer dieselben, sagt sie.
Neben Tropfen, Brillen und Kontaktlinsen gegen das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit bei Kindern empfiehlt sie für die Zukunft ein paar einfache Lebensstiländerungen: mehr Zeit im Freien, „mehr Zeit zum altmodischen Spielen, ganz ohne elektronische Hilfsmittel“, sagt sie. Kindern wie Erwachsenen gibt sie die „20-20-20-Regel“ mit auf den Weg: Alle 20 Minuten für 20 Sekunden etwas anschauen, das 20 Fuß – gut sechs Meter – entfernt ist. „Das hilft den Augenmuskeln zu entspannen.“
Außerdem hält Abril-Neufeld ihre Patienten an, viel Wasser zu trinken – und das Blinzeln nicht zu vergessen. „Vielleicht hat uns die Pandemie ja gelehrt, dass auch unsere Augen eine ganzheitliche Pflege verdienen“, sagt sie.
© WetltN24| Katja Ridderbusch