20. Februar 2019

In den USA steigt die Zahl der Selbstmorde steigt dramatisch an. Jüdische Organisationen wollen gegensteuern

Von Katja Ridderbusch

Mitch Cohen erinnert sich an die Zeit unmittelbar nach dem Tod seiner Frau Suzette nur noch sehr vage – vor allem an die Tage nach jenem Morgen im Januar 2013, als Suzette die Schlafzimmertür hinter sich verschloss und ihrem Leben ein Ende setzte. Doch an den Anruf seines Rabbiners erinnert sich Cohen noch sehr genau.

Der hatte gefragt, was er denn nun der Gemeinde sagen solle. Dort kursierten längst Gerüchte über Suzettes Todesursache. Es war ein Aneurysma, sagten die einen. Selbstmord, behaupteten die anderen. Da hatten sich Cohen und seine drei erwachsenen Söhne längst entschieden. »Wir machen kein Geheimnis aus Suzettes Tod. Wir lassen die Welt wissen, dass es ein Selbstmord war.«

Cohen, 60, von Haus aus Ingenieur, im Hauptberuf aber Versicherungsvertreter und nebenberuflich als Life Coach und Rabbiner einer freien Gemeinde in den Bergen des US‐Bundesstaates Georgia unterwegs, hat seine Entscheidung nie bereut. Heute spricht er sehr offen und wie selbstverständlich über Suzettes Freitod, über die Krankheit, die den Weg dahin bereitete, über Trauer und Spiritualität. »Es ist wichtig, dass wir aufklären«, betont er. »Wir müssen offen über Depressionen und psychische Krankheiten sprechen. Und natürlich über Selbstmord.« Alles ohne Scham und Schuldgefühle, und vor allem ohne eine Stigmatisierung.

STATISTIK Nach Angaben der amerikanischen Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control and Prevention (CDC) hat die Zahl der Selbstmorde in den Vereinigten Staaten einen Höchststand erreicht. Rund 47.000 Menschen nahmen sich 2017 das Leben – ein Plus von 33 Prozent im Vergleich zu 1999 und deutlich mehr, als jedes Jahr bei Verkehrsunfällen sterben – Tendenz steigend. Besonders betroffen sind Menschen in der Altersgruppe zwischen 45 und 54 Jahren, Männer nehmen sich eher das Leben als Frauen, auch sind es häufiger Weiße als Farbige.

In Bibel, Midrasch und Talmud gibt es zahlreiche Beispiele von Suiziden.Was die Religionszugehörigkeit derjenigen betrifft, die Selbstmord begehen, sieht es mit der Datenbasis jedoch schwierig aus. Aber eines ist klar: »Auch in den jüdischen Gemeinden gibt es immer mehr Fälle von Suizid«, sagt Miriam Ament, Gründerin von »No Shame On U«. Die Organisation mit Sitz in Chicago hat es sich zur Aufgabe gemacht, in jüdischen Schulen und Gemeindezentren über psychische Krankheiten aufzuklären. Offenbar mit großer Resonanz. »Immer mehr Menschen beschäftigen sich mit dem Thema und beginnen zu reden – über den Selbstmord ihrer Partner, Kinder, Eltern, Geschwister oder Freunde.«

»No Shame On U« ist nur eine von mittlerweile einer ganzen Handvoll jüdischer Organisationen, die sich in den vergangenen Jahren in den USA gebildet haben und dasselbe Ziel verfolgen: die Stigmatisierung zu durchbrechen, die psychischen Erkrankungen und dem oftmals damit verbundenen Suizid noch immer anhaftet.

NUANCEN Eine andere Organisation nennt sich »Elijah’s Journey«. Ihr Gründer Efrem Epstein hatte gerade eine schwere Depression überwunden, als er 2009 in seiner Heimatstadt New York eine Konferenz zum Thema Suizidprävention besuchte. »Da ist mir klar geworden, dass es Initiativen für die verschiedensten Bevölkerungsgruppen gibt: für ältere Menschen oder Angehörige der LGBT‐Community, für Einwanderer oder einzelne ethnische Gruppen.« Was aber fehlte, war eine Organisation, die das Thema Selbstmord »in all den Nuancen anpackt, die die jüdischen Gemeinden betreffen«.

»Elijah’s Journey« erarbeitet praktisches Material zur Aufklärung. Zum Beispiel hat man ein Informationsblatt konzipiert, das auf den Besuch von Familien vorbereiten soll, die nach dem Suizid eines Angehörigen Schiwa sitzt. Aber Epstein und seine Kollegen sprechen auch in Synagogen, Gemeindezentren und auf Rabbinerseminaren. Ein Ziel ist es, das Thema Suizid im Kontext der jüdischen Traditionen und Schriften zu beleuchten, betont Epstein. »Wenn ein Rabbiner in seiner Predigt sagt: ›Wir müssen mehr über psychische Erkrankungen sprechen‹, dann ist das sicherlich eine gute Sache.«

Doch Epstein will mehr. »Wenn der Rabbiner sagt: ›Das ist eine Mizwa‹, dann hat das ein ganz anderes Gewicht und signalisiert zugleich mehr Verbindlichkeit.« Zwar verurteilt das Judentum den Selbstmord wie alle anderen Weltreligionen auch als eine der schwersten Sünden, weil nach jüdischer Auffassung das Leben über allem steht und es allein Gott gehört. Wer sich selbst tötet, raubt also Gottes Eigentum.

FREITOD Zugleich finden sich in Bibel, Midrasch und Talmud aber zahlreiche Beispiele von Menschen, die sich selbst umbringen oder den Freitod erwägen, sagt Epstein. Und zwar zumeist aus Verzweiflung, aus Schuldgefühlen oder im Rahmen einer Opfertat. Samson und Saul beispielsweise suchten ganz bewusst den Tod. So ließ sich der Prophet Elija, der Namensgeber seiner Organisation, nach langer, rastloser Wanderung durch die Wildnis unter einen Wacholderbusch nieder und bat Gott, ihm das Leben zu nehmen. Andere biblische Helden waren ebenfalls zeitweise suizidal, ausgebrannt oder depressiv, darunter Moses, Hanna, Jona und König David.

Auch in der jüdischen Geschichte ist der Suizid keineswegs nur negativ besetzt. Prominentestes Beispiel dürfte wohl die von den Römern belagerte Festung Masada am Toten Meer sein. Der kollektive Selbstmord von 960 jüdischen Männern, Frauen und Kindern im Jahr 73 ist bis heute ein Symbol jüdischen Freiheitswillens. Der Halacha zufolge gilt etwas nur dann als Suizid, wenn die Selbsttötung eigenverantwortlich, nach Vorankündigung oder in voller Zurechnungsfähigkeit erfolgt. In diesem Fall werden dem Verstorbenen die jüdischen Trauerrituale verweigert. Die Person wird außerhalb der Friedhofsmauern begraben, es gibt weder Kaddisch noch Schiwa.

Zwar wird heute so fast nur noch in ultraorthodoxen Milieus verfahren, aber dennoch: Die Tradition sitzt tief, und sie mag ein Grund dafür sein, dass viele jüdische Organisationen die enge Verbindung zwischen psychischer Erkrankung und Suizid betonen. »Selbstmord ist keine freie Wahl«, so Mitch Cohens These. »Selbstmord ist ein Kollaps der Psyche.«

SCHAM Suzettes Vater, ein Holocaust‐Überlebender, litt unter einer bipolaren Störung und musste mehrfach stationär behandelt werden. Sie selbst zeigte keinerlei Anzeichen einer psychischen Erkrankung, bis sie 2011 ihre Arbeit in einem Gemeindezentrum verlor und ihre Menopause eingesetzt hatte. Es folgten mal leichtere, mal schwerere Stimmungsschwankungen. Einen Therapeuten wollte Suzette aber nie aufsuchen. »Die Scham war zu tief in ihr verwurzelt«, glaubt Cohen. Sie nahm Antidepressiva, was für Patienten mit bipolarer Störungen der falsche Ansatz ist. Im Alter von 53 nahm sie sich dann das Leben.

Die Gesundheitsbehörde CDC kommt in ihrem aktuellen Report zu dem Ergebnis, dass bei 54 Prozent der Menschen, die in den USA Suizid begingen, keine Diagnose einer psychischen Krankheit vorlag – oder die Hinterbliebenen nichts von einer solchen Erkrankung wussten. »Das Schlüsselwort hier ist ›unbekannt‹«, meint die Aktivistin Miriam Ament. »Selbstverständlich gibt es Ausnahmen, aber in den meisten Fällen besteht ein klarer Zusammenhang zwischen psychischer Erkrankung und Suizid.«

Aufklärungsarbeit zu diesem Thema sei in der jüdischen Gemeinde mit ganz eigenen Herausforderungen verbunden, glaubt auch Dena Cohen, Gründerin der Organisation »Refa’enu«, benannt nach dem biblischen Segen der Heilung. »Refa’enu« organisiert Selbsthilfegruppen für Juden, die unter Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen leiden.

»Psychische Erkrankungen und insbesondere Selbstmord sind überall mit einem Stigma behaftet«, sagt Cohen. »Nicht nur bei Juden.« Allerdings gebe es unter ihnen einen besonders ausgeprägten Gemeinschaftssinn. »Die Menschen sind aufgrund gemeinsamer Traditionen enger miteinander vernetzt.« Da würde jeder jeden kennen und sich gerne mal in die Angelegenheiten des anderen einmischen.

ZÖGERN Aber auch progressive und säkulare Juden zögern häufig, professionelle Hilfe in allzu naher Umgebung zu suchen. »Juden gelten beim Thema Psychotherapie zwar als besonders aufgeschlossen«, so Miriam Ament von »No Shame On U«, aufgeschlossener jedenfalls als Katholiken und Protestanten. Schließlich waren viele der großen Psychoanalytiker selbst Juden – Sigmund Freud, Alfred Adler, Bruno Bettelheim oder Erich Fromm. »Zugleich höre ich bei Juden immer wieder ein ›Ja, aber‹«, berichtet die Expertin. »Sie wollen eine Therapie, aber der Therapeut sollte möglichst in einer anderen Stadt sitzen.«

Die Akzeptanz – oder Nichtakzeptanz – eines offenen Umgangs mit psychischer Krankheit und Suizid verlaufe nicht unbedingt linear, betont auch »Elijah’s Journey«-Gründer Epstein. So gebe es orthodoxe Juden, die offen eingestellt sind, und Reformjuden, die lieber nichts mit dem Thema zu tun haben wollen. »Es kommt ganz auf die einzelne Gemeinde und den jeweiligen Rabbiner an.«

ORTHODOXIE Mitch Cohen versteht sich als ein Rabbiner für diejenigen, die keiner bestimmten Strömung angehören. Er selbst wuchs in einem konservativen Umfeld auf; Suzette kam aus einer orthodoxen Familie und engagierte sich später im interreligiösen Dialog. Heute fühlt sich Cohen dem Reformjudentum verbunden, aber auch der Kabbala, dem jüdischen Mystizismus, sowie dem Buddhismus.

In der Region Atlanta leitet er mehrere Selbsthilfegruppen für Angehörige von Suizidopfern, darunter auch viele Nichtjuden. Die Nachfrage nach solchen Angeboten nehme zu, sagt er, leider. Suzettes Geschichte und all die Geschichten der Menschen, die er bei seinen Treffen mit Trauernden höre, verbieten es, das Thema Selbstmord totzuschweigen. »Jeder von uns ist verwundbar. Jeden von uns kann es treffen.«

© Jüdische Allgemeine / Katja Ridderbusch