25. Juli 2020

Eric Garcetti, der erste jüdische Bürgermeister der kalifornischen Metropole, versteht die Kraft von Gesten

Von Katja Ridderbusch

Ob Polizisten oder Politiker, Priester oder Popstars, Sanitäter oder Spitzensportler: Wer in diesen Wochen in den USA seine Solidarität mit den Aktivisten von »Black Lives Matter«, mit dem Kampf der Afroamerikaner für soziale Gerechtigkeit, bekunden will, der beugt das Knie – als öffentliche Geste weniger der Demut als vielmehr der antirassistischen Empörung. 

So auch Eric Garcetti vor einigen Wochen während einer Demonstration vor dem Polizeihauptquartier in Los Angeles. Das Bild vom Kniefall des ersten jüdischen Bürgermeisters der Filmstadt ging durch das Land und um die Welt.

LOS ANGELES, mit knapp vier Millionen Einwohnern die zweitgrößte Metropole der USA nach New York, ist doppelt krisengebeutelt – von der Pandemie und von den Protesten. 

Im Frühjahr sah es zunächst so aus, als würde Los Angeles, dank eines frühen und strikten Lockdowns, den Garcetti für die Stadt und Gouverneur Gavin Newsom kurz darauf für den gesamten Bundesstaat angeordnet hatte, eine rasante Ausbreitung des Coronavirus abwenden können. Doch seit Juni steigen die Zahlen, und mittlerweile ist Kalifornien, und vor allem der Großraum Los Angeles, zu einem neuen Epizentrum der Covid-Pandemie geworden.

GEORGE FLOYD Und auch die zweite Krise schwelt weiter: Seit am 25. Mai George Floyd unter dem Knie eines weißen Polizisten starb, gehen Wellen von Protesten durch das Land, die meisten friedlich, einige gewaltsam. Allein in L.A. gingen in den ersten Tagen nach Floyds gewaltsamem Tod mehrere Zehntausend Menschen auf die Straße. Eine Hauptforderung der Demonstranten: »Defund the Police«. Der Polizei sollte das Budget gekürzt werden – und zwar radikal.

Der Demokrat Garcetti war einer der ersten Bürgermeister einer US-Metropole, die auf die Forderung reagierten. Er kündigte an, insgesamt 250 Millionen Dollar aus dem Jahresbudget der Stadt umzuleiten und in Jugendprojekte für Afroamerikaner, Gesundheitsversorgung für unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen und Trauma-Zentren für Opfer von Diskriminierung zu investieren. Afroamerikaner machen etwa neun Prozent der Bevölkerung von Los Angeles aus.

LAPD Diese Projekte sollten dem »Kampf gegen einen strukturellen Rassismus« dienen, sagte Garcetti. Das Geld werde »in Gesundheit, in Wohnraum, in Hoffnung« investiert. Der Großteil der Summe – 150 Millionen Dollar – soll aus dem Haushalt des Los Angeles Police Department (LAPD) kommen. Zugleich will Garcetti eine Reform einleiten, die die Rolle der Polizei transformieren soll – »vom Gladiator zum Beschützer«.

Das ist eine abrupte Umkehr von Garcettis früherer Position. Der Haushaltsentwurf, den er noch im April vorlegte, sah eine Erhöhung des Budgets für die LAPD um sieben Prozent vor, darunter waren auch Gehaltserhöhungen für langgediente Beamte. Derzeit entfallen knapp 54 Prozent des Budgets der Stadt auf die Polizeitruppe, die knapp 10.000 Mitglieder hat. Nach den von Garcetti vorgeschlagenen Kürzungen dürfte der Anteil bei knapp unter 50 Prozent liegen.

Für seinen Vorstoß bekam der Bürgermeister zwar Lob in zahlreichen Leitartikeln, erntete aber auch Befremden und Kritik. Polizeichef Michel Moore sprach von »Kürzungen in einem beachtlichen und ernüchternden Ausmaß«. Jerretta Sandoz, Vertreterin der Polizeigewerkschaft in L.A., wetterte nach einem Telefonat mit Garcetti und Vertretern der Stadtverwaltung, die Politiker hätten »Heuchelei und Doppelzüngigkeit in schlimmster Manier« an den Tag gelegt. 

KÜRZUNGEN Zunächst hätten sie die hohe Professionalität der Polizei gelobt und dann die Gewerkschaft über die geplanten Kürzungen informiert. »Das ist feige und verlogen.« Anderen gehen die geplanten Kürzungen nicht weit genug. 

Bürgerrechtsanwältin Connie Rice nannte Garcettis Vorschlag einer Umverteilung des Budgets »befriedigend auf einer oberflächlichen Ebene. Aber es ist nicht genug«. Die Organisatoren von Black Lives Matter in L.A. fordern gar eine Kürzung des Polizeibudgets von 50 auf 5,7 Prozent des städtischen Haushalts.

Garcetti ficht die Kritik nicht an. Im Gegenteil, er ruft die verschiedenen Gruppen der Stadt auf, ihn bei dem gewaltigen politischen Unterfangen zur Linderung der sozialen Spaltung der Stadt zu unterstützen. 

Vor Kurzem rief er die Mitglieder der jüdischen Gemeinde von Los Angeles dazu auf, sich zu engagieren: »Als Juden sollten wir jetzt das tun, worin wir Erfahrung haben: aufstehen und handeln«, sagte er in einer Telefonkonferenz mit dem Präsidenten der Jewish Federation of Greater Los Angeles, Jay Sanderson. Los Angeles hat die zweitgrößte jüdische Gemeinschaft in den USA nach New York City.

GESCHICHTE Die Solidarität zwischen Afroamerikanern und Juden hat eine lange, wenn auch nicht ungebrochene Tradition in den USA. Vor allem während der Bürgerrechtsbewegung in den 60er-Jahren kam es zu einer engen Kooperation zwischen jüdischen und schwarzen Amerikanern.
Die »Washington Post« schrieb in einem Porträt über Garcetti, dass es nie wirklich cool gewesen sei, Bürgermeister von L.A. zu sein. 

Bürgermeister von L.A. – eines Konglomerats von Vorstädten auf der Suche nach einer Mitte –, das rief nicht dieselbe Assoziation hervor wie der weltläufig-großspurige Kultstatus der Bürgermeister von New York, das toughe Image der Bürgermeister von Chicago oder die stolze Tradition der schwarzen Bürgermeister in Atlanta, jener Stadt, die sich gerne selbst als »Black Mecca« vermarktet.

Doch Garcetti, seit 2013 im Amt, habe in der doppelten Krise Profil gewonnen, sagte Jim Newton, Professor für Politikwissenschaft an der University of California in Los Angeles, gegenüber der »Washington Post«. »Seine Stärken kommen in diesen Zeiten voll zum Tragen: Er ist klug, er ist sachlich, er kann mit wissenschaftlichen Daten umgehen. Er mag keinen Schwulst und keine Schuldzuweisungen.«

FACEBOOK-LIVESTREAM Garcettis Politikstil ist pragmatisch, manchmal fast technokratisch, und zugleich gemischt mit authentischer, roher Emotion. Seit Beginn der Corona-Krise hält er regelmäßig Ansprachen via Facebook-Livestream. 

»Wir können dieses Virus nicht einfach wegwünschen«, sagte er Mitte Juli, nachdem Gouverneur Newsom die bisherigen Lockerungen zurückgerollt hatte und Bars, Restaurants, Friseure, Fitnessstudios und Kirchen erneut schließen mussten. »Wir müssen hart dafür arbeiten, dass es verschwindet. Indem wir Masken tragen, Abstand halten und – wenn möglich – zu Hause bleiben.«

Vor allem ist Eric Garcetti ganz und gar ein Kind der Stadt, in der er geboren wurde und die er regiert – mit allem Glamour, aller Vielfalt, aller Zerrissenheit. Und auch mit ein bisschen Chuzpe.

SAN FERNANDO VALLEY Garcetti, Jahrgang 1971, wuchs im San Fernando Valley auf, einem Mittelklasse-Suburb von L.A., dem Frank Zappa und seine Tochter Moon 1982 mit dem ironischen Kultsong »Valley Girl« ein Denkmal setzten. Garcettis Großeltern väterlicherseits kamen aus Mexiko. Großvater Salvador diente während des Zweiten Weltkriegs in der US-Armee, hatte später einen Friseurladen und pflegte zeitweise enge Kontakte zum jüdischen Gangsteradel um Bugsy Siegel und Mickey Cohen.

Gil Garcetti, Erics Vater, arbeitete als Bezirksstaatsanwalt von Los Angeles. Er trat sein Amt ein paar Monate nach den schweren Rassenunruhen von 1992 an. Weiße Polizisten hatten im Jahr zuvor mit extremer Brutalität den unbewaffneten Afroamerikaner Rodney King zusammengeschlagen und waren in einem anschließenden Prozess freigesprochen worden.
Garcettis Großeltern mütterlicherseits waren Nachfahren russisch-jüdischer Einwanderer. Großvater Harry Roth gründete und leitete eine feine Herrenbekleidungskette in L.A., Louis Roth Clothes.

Er sei eine seltsame Mischung, sagte Garcetti in einem Interview über seine Herkunft. »Ein jüdischer Amerikaner mit mexikanischen Wurzeln und einem italienischen Namen.«

OSTKÜSTE Nach dem Abschluss an einer privaten Highschool zog Garcetti an die Ostküste. Er studierte Politikwissenschaft an der Columbia University in New York und ging als Rhodes Scholar für ein Jahr nach Oxford in England. Nach dem Studium kehrte er nach Los Angeles zurück, lehrte an der privaten University of Southern California, bevor er im Jahr 2001, mit 30 Jahren, seine politische Karriere als Stadtverordneter in L.A. begann.

Garcetti wuchs zwischen katholischer und jüdischer Tradition auf, allerdings waren beide Eltern nicht sehr religiös und gingen nur selten in die Synagoge oder die Kirche. Er ist weder getauft noch hatte er eine Barmizwa. »Aber wir haben zu Hause Pessach und Chanukka gefeiert, und ich habe als Kind jüdische Feriencamps besucht«, sagt er. Heute gehört er der jüdischen Gemeinde Ikar an (hebräisch für das Wesentliche) und lernt zweimal in der Woche Talmud mit deren Gründerin und Rabbinerin Sharon Brous.

Auch rein optisch macht Garcetti seiner Stadt alle Ehre: Groß, schlank und gut aussehend auf eine saubere und etwas sterile amerikanische Weise, könnte er der TV-Kultserie Mad Men entsprungen sein, die im Werber-Milieu der 60er-Jahre spielt.

Garcetti ist mit Amy Wakeland verheiratet, die er während seines Studiums in Oxford kennenlernte und die als politische Strategieberaterin für verschiedene Non-Profit-Organisationen tätig ist. Das Paar hat eine Tochter adoptiert, Maya Juanita.

PROJEKTE Politisch hat sich Garcetti in seiner Amtszeit mit einer Reihe politisch spektakulärer Projekte profiliert – darunter mit einer Initiative gegen die in Los Angeles grassierende Obdachlosigkeit, mit einer Anhebung des Mindestlohns auf 15 Dollar pro Stunde und mit einem ehrgeizigen Ausbau des öffentlichen Nahverkehrsnetzes. Außerdem gelang es ihm, für seine Stadt die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele 2028 zu sichern.

Im Jahr 2018 spielte er kurzfristig mit dem Gedanken einer Präsidentschaftskandidatur, verwarf die Idee aber schnell wieder. »Ich kann nicht gleichzeitig einen Präsidentschaftswahlkampf und eine Stadt führen«, sagte er. 

Aber immerhin ist er Mitglied in dem Komitee, das den wahrscheinlichen Präsidentschaftskandidaten der Demokraten, Joe Biden, bei der Auswahl des Running Mate, des Kandidaten oder der Kandidatin für die Vizepräsidentschaft, unterstützt.

Die Gründe, warum er in die Politik gegangen sei, sagte Garcetti im Interview mit der »Washington Post«, seien Missstände in der amerikanischen Gesellschaft gewesen, insbesondere Rassismus, Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen. Damit ist Eric Garcetti, der Bürgermeister von Los Angeles, wohl der richtige Mann am richtigen Ort zur richtigen Zeit – und mit einem sicheren Gespür für die richtigen Gesten.

© Jüdische Allgemeine / Katja Ridderbusch

Photo courtesy of City of Los Angeles