24. September 2016
Lassen Sie mich durch, ich sehe aus wie ein Arzt! Mediziner tragen gern den traditionellen weißen Kittel – auch aus Imagegründen. Doch dem geht es nun an den Kragen.
Von Katja Ridderbusch
Sylvia Wright kommt aus einer Familie, in der weiße Kittel eine lange Tradition haben. Sie ist Ärztin in der vierten Generation, und der Kittel symbolisiert „den Stolz, die Ehre, die Verantwortung, die damit einhergeht, Medizin zu praktizieren“. Die niedergelassene Dermatologin in der amerikanische Metropole Atlanta könnte jedoch die Letzte in ihrer Ahnenreihe sein, die einen weißen Kittel trägt. Denn dem Wahrzeichen und Statussymbol der Ärzteschaft geht es sprichwörtlich an den Kragen: Vor allem in den USA und in Deutschland ist eine hitzige Diskussion über dessen Abschaffung im Gange.
„Es gibt genug Indizien, die es rechtfertigen, den weißen Kittel an den Nagel zu hängen“, sagt Michael Edmond, Facharzt und Professor für Infektionsmedizin an der Universitätsklinik von Iowa. Eins davon: Die Kittel seien Keimschleudern.
Tatsächlich fanden Studien verschiedene Krankheitserreger an Arztkitteln, besonders konzentriert an Ärmelaufschlägen und Taschenrändern. Darunter war auch der berüchtigte Krankenhauskeim MRSA, der gegen die meisten Antibiotika resistent ist. Eine Umfrage unter US-Medizinern kam außerdem zu dem unappetitlichen Ergebnis, dass 58 Prozent der Ärzte ihre Kittel nur einmal im Monat, wenn überhaupt, reinigen lassen.
Aber der weiße Kittel hatte von Beginn an mehr als nur die klinische, nämlich auch eine kulturelle Bedeutung. Bis ins späte 19. Jahrhundert trugen Chirurgen noch schwarze Gehröcke im OP-Saal. Es waren deutsche Ärzte, die den weißen Laborkittel als Hygienemaßnahme für Mediziner einführten. Er galt fortan als Symbol für Reinheit, für ein steriles Umfeld, und diente zugleich dem Zweck, Ärzte als Wissenschaftler zu etablieren und von Quacksalbern zu unterscheiden. In den USA gibt es bis heute an vielen Universitäten eine „White Coat“-Zeremonie: ein Initiationsritus, bei dem Medizinstudenten ihren ersten weißen Kittel erhalten.
Kein Wunder also, dass der US-Medizinerverband American Medical Association (AMA) einen Vorstoß zur Abschaffung der Kittel abschmetterte. Seine fachgerechte Begründung: Der Beweis, dass Keime auf dem Arztkittel zu Infektionen beim Patienten führten, sei nicht hinreichend geführt.
Infektionsmediziner Edmond startete eine Kampagne gegen die kontaminierten Kittel
Edmond überzeugt das nicht. Er hatte sein persönliches Aha-Erlebnis 2007, als der staatliche britische Gesundheitsdienst „National Health Service“ eine neue Kleiderordnung für Klinikpersonal einführte und damit das Ende des weißen Kittels in Großbritannien einläutete: „Bare below the elbow“ heißt die Regel, nach der Ärzte, Schwestern und Pfleger weder Stoff noch Schmuck unterhalb des Ellenbogens tragen dürfen. Auch in den Niederlanden sind blanke Unterarme die Norm. „Das macht absolut Sinn“, findet Edmond. Allein der gesunde Menschenverstand sagt, dass gründliches Händewaschen vor und nach jedem Patientenkontakt – eine der wichtigsten Maßnahmen gegen Infektionen in Arztpraxen und Kliniken – mit kurzen Ärmeln schlicht einfacher geht.
Zusammen mit einigen Kollegen startete Edmond eine Kampagne gegen die kontaminierten Kittel. Er selbst tat seinen Dienst fortan nur noch in kurzärmligen OP-Hemden mit passenden Hosen aus leichter Baumwolle. „Scrubs“ heißt diese Arbeitsuniform in den USA, die es ursprünglich nur in Blau oder Grün gab und nur von Chirurgen getragen wurde, mittlerweile aber in fast allen Farben und Mustern zu haben ist und Rezeptionisten wie Röntgentechniker gleichermaßen schmückt.
Zwar folgen an den großen US-amerikanischen Universitätskliniken immer mehr Ärzte Edmonds Beispiel. Doch geht es insgesamt in US-Hospitälern weiter recht traditionell zu; da gehört der Arzt, der im wehenden weißen Kittel durch die Flure schwebt, nach wie vor zum Alltagsbild. Auch viele niedergelassene Ärzte tragen weiterhin Kittel – über der Straßenkleidung oder über den Scrubs.
Ähnlich zersplittert und uneinheitlich verläuft die Debatte in Deutschland. Der private Klinik-Konzern Asklepios führt derzeit als erster Krankenhausbetreiber einen neuen Dresscode ein. Danach tragen Asklepios-Ärzte künftig weiße, kragenlose Hemden mit kurzen Ärmeln, sogenannte Kasacks. Der Protest gegen die neue Kleiderordnung sei lauter als erwartet gewesen, räumt ein Konzernsprecher ein. So führte die Ärztekammer Hamburg den „unstrittigen Placeboeffekt“ des weißen Kittels an. Ferner diene das Kleidungsstück als „Unterscheidungsmerkmal“ gegenüber anderen Berufsgruppen. Das sei vor allem für „immer älter werdende Patienten mit eingeschränkter Seh- und Hörleistung“ wichtig". Soll heißen: Der Arzt soll so aussehen, wie sich die meisten Leute einen Arzt vorstellen.
Aus diesem Grund hat Asklepios seinen Medizinern wohl auch eine Hintertür offen gelassen: Es ist den Chefärzten erlaubt, ihre weißen Kittel „zu repräsentativen Zwecken“ zu tragen, für „Vorlesungen oder Auftritte vor der Kamera“, wie es in einer Mitarbeiterbroschüre heißt.
Umfragen ergeben, dass Patienten Ärzte im weißen Kittel vertrauenswürdiger finden
Tatsächlich kommen einige internationale Umfragen zu dem Ergebnis, dass Patienten einen Arzt im Kittel als professioneller und vertrauenswürdiger empfinden. Das mag auch mit all den Arztserien zu tun haben, die – viel verspottet, aber unverwüstlich – seit Jahrzehnten kräftig dazu beitragen, das Image und die Aura des Mediziners zu prägen. Ob Professor Brinkmann aus der „Schwarzwaldklinik“, Dr. Doug Ross alias George Clooney aus „Emergency Room“ oder das Team von „Greys Anatomy“ – was wären die Fernsehdoktoren ohne weiße Kittel?
Infektionsmediziner Michael Edmond steht modischen Überlegungen skeptisch gegenüber. „Meinen Patienten ist es egal, ob ich als Arzt Pyjamas trage. Hauptsache, ich helfe ihnen.“ Im Übrigen führe eine Abschaffung der weißen Kittel auch dazu, „dass die Hierarchien im Gesundheitswesen flacher werden“, sagt Edmond. Und wenn ihn jemand ab und zu mit einem Pfleger verwechsele, „habe ich damit kein Problem“.
Das hat auch Sylvia Wright nicht. Sie hält an ihrem weißen Kittel vor allem aus praktischen Gründen fest: Die großen Taschen bieten Platz für Stethoskop, Rezeptblock, Kugelschreiber. Außerdem hält der Kittel warm – und bietet Schutz. „In meinem Fachbereich, der Dermatologie, führe ich viele verschiedene Eingriffe durch“, sagt die Ärztin. „Der Kittel schützt meine Kleidung“, und wenn er mal ein paar Tropfen Säure, Blut oder andere Sekrete abbekommt, könne sie ihn schnell wechseln.
Für ihr Ego brauche sie ihn sicher nicht, sagt sie. Allerdings erfährt sie fast täglich, „wie hartnäckig sich überkommene Stereotype und Vorurteile halten“. Wenn sie ihren Kittel einmal nicht trage, werde sie – anders als die männlichen Kollegen in ihrer Praxis – meist nicht als Ärztin wahrgenommen. „Weil ich eine Frau bin, und weil ich Afroamerikanerin bin“, sagt sie. „Das spielt in den USA noch immer eine Rolle, wenn auch weniger als früher.“ Jedenfalls findet sie, dass Patienten auf den ersten Blick wissen sollten, mit wem sie es zu tun haben, und da diene der Kittel als Signal.
Wenn allerdings, sagt sie, Wissenschaftler und Modedesigner eine hygienische, praktische und schicke Alternative finden würden, dann gebe sie gerne ihren weißen Kittel ab – Familientradition hin oder her.
© Der Tagesspiegel / Katja Ridderbusch