18. Mai 2018
Jeden Tag gibt es Hunderte medizinischer Notfälle an Bord von Flugzeugen - und es werden mehr. Nun gelangt in den USA der Fall einer nach einem Langstreckenflug verstorbenen 25-Jährigen vor Gericht.
Von Katja Ridderbusch, Atlanta
Als Brittany Oswell zum letzten Mal mit ihrer Mutter telefonierte, saß sie bereits im Flugzeug auf dem Airport von Honolulu auf Hawaii. Sie war guter Dinge, versprach, sich zu melden, sobald die Maschine in Dallas im US-Bundestaat Texas gelandet sei. Doch als sie fünf Stunden später dort ankam, konnte sie sich nicht melden. Die 25-Jährige war ohne Bewusstsein. Drei Tage darauf war sie tot, verstorben an den Folgen einer Lungenembolie.
Das war im April 2016. Jetzt reichte Oswells Familie Klage wegen grober Fahrlässigkeit mit Todesfolge gegen die Fluggesellschaft American Airlines ein. Der Kapitän hatte sich gegen den Rat einer Ärztin an Bord entschieden, keine Zwischenlandung einzuleiten. Eine Untersuchung des Falls läuft.
Krankheit und auch Tod an Bord gehören zum Alltag in der Passagierluftfahrt. Der weltweit größte Anbieter notfallmedizinischer Beratung für Airlines ist MedAire. Er leistet etwa 150-mal am Tag Hilfe bei der Notversorgung in der Luft. Branchenschätzungen gehen gar von weltweit 350 Notfällen pro Tag aus. Am häufigsten sind den Angaben zufolge Herz-Kreislauf-Probleme, gefolgt von Magen-Darm-Beschwerden.
Immer mehr Passagiere, immer älter
Die Zahl der Notfälle in der Luft dürfte in Zukunft noch steigen. Zum einen, weil immer mehr Menschen fliegen: Mehr als vier Milliarden waren es allein 2017. Zum anderen weil es immer mehr Langstreckenflüge ohne Zwischenlandung gibt. Und "vor allem, weil die Passagiere immer älter werden und der Medizintourismus zunimmt", sagt der Notfallmediziner Edgar Bührle, der seit Jahrzehnten die Kabinencrews deutscher und europäischer Airlines in Erster Hilfe ausbildet. "Es gibt immer mehr Hochrisikopatienten, die die Belastung einer Flugreise unterschätzen."
Wer regelmäßig fliegt, dem ist die Durchsage wahrscheinlich vertraut: Wenn sich ein Arzt unter den Passagieren befindet, möge er sich melden. Bei 65 Prozent aller Flüge ist dies der Fall.
Der Doktor in der Kabine sei jedoch keine Garantie für eine fixe Genesung, sagt Bührle. Aufgrund der hohen Spezialisierung bei Medizinern fühle sich "manch ein Facharzt von einem Notfall an Bord völlig überfordert". So mag sich ein Augenarzt schwer damit tun, einen Patienten mit Atemstillstand zu intubieren. Die umstehenden Passagiere, die schlaue Ratschläge geben und ihre Handykameras zücken, setzten Nothelfer zusätzlich unter Druck, sagt Bührle.
Das führe dazu, dass einige Ärzte zögerlich, unsicher, gar ängstlich agierten. "Andere dagegen gehen allzu forsch ans Werk und benutzen Instrumente, mit denen sie nicht umgehen können." Bisweilen mit fatalen Folgen, wenn zum Beispiel ein Beatmungsschlauch statt in die Luftröhre in den Magen gelegt wird. "Solche Fälle waren in der Vergangenheit leider keine Seltenheit", sagt Bührle.
Doch die Fluggesellschaften reagieren: Mittlerweile haben die meisten Airlines die Luftröhrenschläuche durch leichter zu handhabende sogenannte Larynxtuben ersetzt. Sie gehören genauso zur medizinischen Standardausrüstung von Passagierflugzeugen in Europa wie Verbandsmaterial, Beatmungsmasken, Antihistaminika gegen allergische Reaktionen und Epinephrin, also Adrenalin zur Wiederbelebung. Airlines in Europa haben für den Notfall auch ein Geburtshilfe-Kit im Gepäck. Flugzeuge, die sich im US-Luftraum bewegen, müssen einen automatischen Defibrillator (AED) an Bord haben.
Zwischenlandung im Notfall - ja oder nein?
Neben der Ausrüstung gibt es zahlreiche Programme zur flug- und notfallmedizinischen Fortbildung von Ärzten, darunter "Arzt an Bord" bei der Lufthansa sowie das von der internationalen Luftfahrtorganisation IATA geförderte Flying-Doctors-Programm.
Die Entscheidung, ob, wann und wo der Kapitän eine Zwischenlandung einleitet, sei jedoch komplexer, als sie auf den ersten Blick erscheint, sagt Bührle. Denn der nächstgelegene Flughafen verfüge nicht automatisch auch über das Umfeld mit der besten medizinischen Infrastruktur. "Manchmal schadet eine Zwischenlandung dem Patienten mehr, als dass sie ihm nützt."
Vor einiger Zeit zeigte ein Passagier auf einem Flug von Frankfurt nach San Francisco Symptome eines Schlaganfalls. Der Pilot landete kurzerhand auf dem Flughafen von Iqaluit im Norden Kanadas. Dort konnte man jedoch nichts für den Patienten tun. Eine Ambulanzmaschine brachte ihn daraufhin nach Ottawa, wo er 18 Stunden später eintraf.
Wäre die Maschine direkt bis nach Ottawa geflogen, "wäre dem Passagier wahrscheinlich viel erspart geblieben", sagt Bührle. Andere Kriterien, auf deren Basis sich der Pilot für oder gegen eine Zwischenlandung entscheide, seien die Wetterverhältnisse sowie die Sicherheitslage am Boden.
Callcenter am Boden sollen helfen
Aus all diesen Gründen geht der Trend derzeit dahin, dass sich die Besatzung bei einem medizinischen Notfall stets mit ärztlich besetzten Callcentern am Boden wie MedAire, SOS International oder Stat-MD in Verbindung setzt. Der als MedLink bekannte Service unterstützt Flugbegleiter oder an Bord anwesende Ärzte bei der Notversorgung des Passagiers, empfiehlt, wenn nötig, einen geeigneten Ort für eine Zwischenlandung und koordiniert die Weiterversorgung des Passagiers am Boden.
Für Passagiere, deren Sitznachbarn plötzlich erkranken, hält Notfallmediziner Bührle einen ganz einfachen Rat bereit: "Frühzeitig die Kabinencrew ansprechen, unauffällig das Feld räumen."
Was auf dem American-Airlines-Flug am 15. April 2016 genau passierte, ist noch unklar. Litt Brittany Oswell an einer Vorerkrankung? Warum entschied sich der Kapitän gegen eine Zwischenlandung? Und: Stand er in Kontakt mit einem medizinischen Callcenter am Boden?
Fragen, die American Airlines und der Anwalt der Oswell-Familie mit Verweis auf das laufende Verfahren zunächst unbeantwortet ließen. Bis auf ein Detail: Laut Klageschrift und nach Aussagen der Ärztin an Bord war der Defibrillator defekt. Ein Sprecher der Airline sagt jedoch dem SPIEGEL: Der AED sei geprüft worden und habe "ordnungsgemäß funktioniert".
© Spiegel online / Katja Ridderbusch