16. April 2019
Mehr als 72.000 Menschen starben 2017 in den USA an einer Drogen-Überdosis, die meisten an Opioiden wie Heroin oder dem Narkosemittel Fentanyl. Man könne die Epidemie nicht mehr verdrängen, sagt ein Betroffener.
Von Katja Ridderbusch
Mit seinen 24 Jahren hat Christopher Haugh schon mehr Abgründe gesehen als viele am Ende ihres Lebens. Eine Reise in ein tiefes Tal – und wieder zurück. Auf dem Weg sei viel Schaden entstanden, sagt er, innerlich und äußerlich. Schaden und Leid bei sich selbst und bei den Menschen um ihn herum.
Chris Haugh – blass, mit braunem Strubbelhaar und Knopfaugen – ist ein frühes Opfer der Opioid-Epidemie, die seit mehr als zehn Jahren in den USA wütet. Knapp 100 Menschen sterben jeden Tag an einer Überdosis morphinhaltiger Substanzen – seien es Schmerztabletten, Heroin oder das hochpotente Narkosemittel Fentanyl.
Trump hat den nationalen Gesundheitsnotstand erklärt
Als Antwort auf die Krise erklärte US-Präsident Donald Trump 2017 den nationalen Gesundheitsnotstand und stellte zusätzliche Bundesmittel im Kampf gegen die Epidemie bereit: Drei Milliarden Dollar pro Jahr, vor allem für Therapieplätze. Doch das sei kein Grund zur Entwarnung, sagt Gaylord Lopez, Leiter des Georgia Poison Center, der Drogenzentrale des Bundesstaates Georgia mit Sitz in Atlanta.
Tatsächlich sind die Opferzahlen zuletzt noch weiter angestiegen: Mehr als 72.000 Menschen starben 2017 an einer Drogen-Überdosis, die meisten an Opioiden. Ein Rekord. Die Opioid-Welle scheint nicht aufzuhalten zu sein. Mittlerweile hat sie eine neue Phase erreicht, sagt Lawrence Scholl von der US-Gesundheitsbehörde CDC:
„Die Krise begann mit opioidhaltigen Schmerzmitteln, die Ärzte seit den 90er-Jahren immer freizügiger verschrieben. Auf die Schmerzmittel folgte Heroin, das billig auf dem schwarzen Markt zu bekommen war, und nach dem Heroin kamen synthetische Opioide wie Fentanyl und seine chemischen Verwandten.“
Das Heroin und die synthetischen Opioide gelangen vor allem aus Mexiko und China in die USA. Mittlerweile ist Fentanyl der Killer Nummer eins unter den Opioiden. Es wirkt 100-mal stärker als Morphium. Immer mehr Menschen sterben an versehentlichen Überdosen, weil Drogenhändler Heroin, Kokain und Amphetamine häufig mit Fentanyl strecken.
Erster Schmerzmittelkonsum mit zwölf Jahren
Chris Haugh hat all diese Drogen probiert. Seine Geschichte ist typisch für die Opioid-Epidemie, auf eine besonders traurige Weise.
„Ich muss etwa zwölf Jahre alt gewesen sein. Meine Mutter hatte Vicodin-Tabletten verschrieben bekommen, gegen ihre Migräne. Meine Kumpels in der Schule sagten, die Dinger sind toll, die knallen rein, nimm‘ dir welche und bring‘ uns auch gleich ein paar mit. Also habe ich angefangen, mich aus der Handtasche meiner Mutter zu bedienen.“
Als die Mutter den Schwund ihrer Tabletten bemerkte, besorgte sich Haugh die Pillen auf dem Schulhof. Dort kam er auch mit dem höher dosierten Schmerzmittel Oxycontin in Berührung, in den USA auch „Oxys“ genannt.
Mit 14 kam die Spritze.
Zuerst schluckte Haugh die Pillen. Dann zerdrücke und schnupfte er sie, und als das nicht mehr wirkte, begann er zu spitzen. Da war er 14. Nach den Oxys kam das Heroin, und nach dem Heroin kam Fentanyl.
Er ging von der Schule ab, begann eine Ersatztherapie mit Methadon und wurde rückfällig. Im Herbst 2015 erreichte er seinen persönlichen Tiefpunkt.
„Ich habe ein paarmal versucht, mich umzubringen, aber nicht mal das habe ich hinbekommen. Ich erinnere mich besonders an eine Nacht. Ich lag in meinem Zimmer, um mich herum standen mehrere Zwei-Liter-Flaschen mit Urin, und überall türmten sich Müll und Zigarettenstummel. Für einen kurzen, klaren Moment habe ich auf mein Leben geschaut, und ich habe mich geschämt.“
Kurz darauf ging er in eine Entzugsklinik. Er ist bis heute clean, engagiert sich in Selbsthilfegruppen.
Betroffene haben Hersteller verklagt
Neben Aufklärungskampagnen und mehr Geld für Therapieplätze ist mittlerweile auch die Justiz aktiv geworden. Gegen Purdue Pharma, den Hersteller des Blockbusters Oxycontin, laufen mehr als 1600 Klagen. Der Konzern soll das Medikament mit dem falschen Versprechen beworben haben, dass es nicht abhängig mache.
Eine erste Klage wurde vor kurzem außergerichtlich beigelegt – Purdue muss 270 Millionen Dollar für Therapiemaßnahmen im Bundesstaat Oklahoma zahlen. Auch hat die Gesundheitsbehörde CDC strengere Richtlinien für die Verschreibung opioidhaltiger Schmerzmittel verabschiedet. Ein wichtiger Schritt, findet Drogenexperte Lopez.
„Wenn wir uns die Ärzte und ihre Verordnungspraxis ansehen, dann wird deutlich, dass wir stärker in die Schulung der Mediziner für eine effektive Schmerzbehandlung und einen sinnvollen Einsatz von Opioiden investieren müssen. Das ist eine Strategie, die bereits erste Erfolge zeigt, denn die Zahl der Verschreibungen für Opioide sinkt.“
Und zwar auf den tiefsten Stand seit zehn Jahren. Da jedoch nicht mehr allein Schmerzmittel, sondern vor allem synthetische Opioide die Drogenkrise antreiben, müsse man mehrere Lösungsansätze kombinieren, betont Lopez.
Gegenmittel wie das Opioid-Antidot Naloxon müssten noch breiter und zu erschwinglicheren Preisen verfügbar sein. Drogenbehörden müssten die illegalen Handelsrouten schärfer überwachen.
Das Problem kann nicht länger verdrängt werden
Chris Haugh ist dankbar, dass er eine zweite Chance bekommen hat. Heute arbeitet er in der Lagerhaltung bei einem Hersteller für Vitaminpräparate in Atlanta. Es gehe es ihm gut, sagt er.
„Es gibt Dinge, die kann man nicht mehr umkehren. Ich habe neun Zähne verloren. Heute trage ich ein Teilgebiss. Das erinnert mich an die Jahre der Abhängigkeit – jedes Mal, wenn ich es einsetze.“
Was hat sich in seinem Umfeld, in der Öffentlichkeit verändert seit Beginn der Krise, seit er sich vor zwölf Jahren aus der Handtasche seiner Mutter bediente? Man könne die Opioid-Epidemie nicht mehr verdrängen, sagt Haugh.
„Die Menschen sterben wie die Fliegen, jeden Tag. Jeder kennt irgendjemanden, der wegen Drogenabhängigkeit sein Leben verloren hat. Wir können das Problem nicht mehr in eine dunkle Ecke verbannen, das hässliche Gesicht der Krise ist überall. Und wir müssen so offen wie möglich damit umgehen.“
Copyright: Deutschlandfunk / Katja Ridderbusch