24. Oktober 2013
Tabu: Nirgendwo sonst in den USA sterben so viele Menschen an Aids wie in den Südstaaten. Betroffen sind oft homosexuelle Schwarze. Mehr denn je werden sie auch aus religiösen Gründen diskriminiert
Von Katja Ridderbusch
Marilyn Swyers ist es gewohnt, bei Spendenveranstaltungen auf taube Ohren zu stoßen. „Wenn man keine Kinder oder Tiere zu bieten hat, kann man es vergessen“, sagt sie und schiebt sich energisch die große Designersonnenbrille in ihren roten Haarschopf. „Ich meine das gar nicht zynisch, aber bei uns kommen eben keine Kuschelgefühle auf.“
Seit 16 Jahren leitet Marilyn Swyers eine Aids- Organisation in der Nähe von Auburn, einer Kleinstadt in Alabama, die vor allem wegen ihres Footballteams bekannt ist. Hier, im tiefen ländlichen Süden Amerikas, führen die vermeintlichen Stadtkrankheiten HIV und Aids ein dunkles und verborgenes Eigenleben. Hier im Süden, wo 37 Prozent der amerikanischen Bevölkerung leben, wird nach Erhebungen der Seuchenschutzbehörde CDC die Hälfte aller neuen HIV- und Aids-Diagnosen gestellt. Hier im Süden sterben mehr Menschen an Aids als irgendwo sonst in Amerika. „Armut, schlechte Infrastruktur und eine Kultur von Scham und Verschwiegenheit: Das ist der perfekte Nährboden für HIV“, so Swyers.
Das Unity Wellness Center unterstützt HIV- und Aids-Patienten aus der Region, vor allem Nicht- und Unterversicherte. Die Organisation mit angeschlossener Ambulanz ist im Erdgeschoss eines unauffälligen braunen Bürogebäudes nahe der Autobahn untergebracht. An diesem Morgen ist es leer; in den langen, fensterlosen Gängen mit beigefarbenen Wänden und beigefarbenem Linoleumboden riecht es nach scharfem Reinigungsmittel. 14 Mitarbeiter sind hier beschäftigt, darunter eine Krankenschwester und eine Laborantin, mehrere Sozialarbeiter, Drogenberater und ein Fahrer. Ein Infektionsarzt und ein Allgemeinmediziner halten regelmäßig Sprechstunden ab. Neben jeder Tür hängt ein Spender mit Desinfektionslösung. Die Hilfsorganisation betreut gut 200 HIV- und Aids-Patienten, manche sind mehrmals in der Woche hier, andere nur einmal im Monat.
Omar Vinson ist der erste Patient an diesem Tag. Er kommt in einer dramatischen Parfümwolke und einem signalroten Hemd, das auf seiner tiefschwarzen Haut leuchtet. Der 31-Jährige ist guter Dinge, denn wahrscheinlich kann er bald wieder arbeiten. „Ich freue mich darauf. Sehr“, sagt er mit einem Seufzer. Omar arbeitet seit neun Jahren als Leichenbestatter in Auburn. Er balsamiert die Toten ein, stellt Gesichter und Körper wieder her, wenn sie durch einen Unfall oder eine schwere Krankheit entstellt wurden.
Als er im Mai 2010 seine Diagnose erhalten habe, da sei ihm sein Job „plötzlich ganz nah auf den Leib gerückt“, da wurde die Arbeit auf einmal „doch sehr persönlich“. Besonders, weil er gerade zwei Menschen auf dem Präpariertisch liegen hatte, die an Aids gestorben waren, beide ziemlich jung. „Da habe ich mich gefragt, wie ich mich darauf vorbereiten soll, auf das Äußerste, das Letzte.“ Kurz darauf beginnt Omar eine Therapie mit virenhemmenden Medikamenten. „Ich will mir wenigstens nicht vorwerfen, dass ich nicht alles versucht habe.“ Rückschläge gibt es natürlich immer wieder. Zuletzt wurde bei ihm eine chronische Darminfektion festgestellt. Omar nahm ab, von 77 auf 40 Kilo. Mittlerweile gehe es ihm aber wieder besser. „Und ich sehe auch wieder gut aus, oder?“
Omar Vinson ist schwul und bekennt sich dazu. Es dauerte jedoch ein Jahr, bis er seiner Familie und seinen Freunden erzählen konnte, dass er HIV-positiv ist. Er erinnert sich, wie er mit seiner Mutter im Auto zum Einkaufen fuhr und plötzlich zu reden begann, weil sein Geheimnis aus ihm herauswollte. „Ich hatte Angst, meine Mutter würde gegen den nächsten Telefonmast fahren. Aber sie war ganz ruhig.“ Ob es ihm denn gut gehe, fragte sie ihn. „Ich antwortete: Ja, Mama, es geht mir gut. Und sie sagte: Dann geht es mir auch gut.“
Omar Vinson ist ein typischer und untypischer Patient zugleich. Typisch, weil Afroamerikaner als ethnische Gruppe in den USA am stärksten von HIV betroffen sind. Sie machen 14 Prozent der amerikanischen Bevölkerung aus, stellen jedoch laut CDC 44 Prozent der insgesamt 1,1 Millionen HIV-Infizierten im Land. Untypisch, weil Homosexualität und HIV in den Südstaaten, und vor allem unter Afroamerikanern, noch immer Tabuthemen sind. „Man hört nichts darüber, man spricht nicht darüber“, sagt Omar.
Trevon Lowe ist der zweite Patient. Seinen richtigen Namen will er nicht nennen. Er ist 34, schwarz, schwul und seit zehn Jahren HIV-positiv. Anders als Omar erzählt Trevon nur wenigen, dass er homosexuell ist. Auch von seiner HIV-Infektion wissen nur „ein paar enge Freunde“, nicht aber seine Mutter und seine Geschwister. Er habe ein enges Verhältnis zu seiner Familie, sagt er, „wir können über alles reden, über Glauben, Politik und Geld, aber eben nicht über diese Sache.“ Er zuckt mit den Schultern, nestelt an seiner Brille. „Sie würden das nicht verstehen. Ich habe Angst, ausgeschlossen zu werden, nicht mehr Teil meiner Familie zu sein.“ Er sei jedenfalls froh, dass er nie etwas erzählt habe, und er hofft, „dass die Dinge so bleiben, wie sie sind“.
Marilyn Swyers hört Geschichten wie die von Trevon jeden Tag. Nicht nur von Patienten, auch von Mitarbeitern, die aus der Region kommen. „Deren Familien und Freunde sind oft geschockt, wenn sie erfahren, dass jemand für eine Aids-Organisation arbeitet.“ Sie selbst habe in den vergangenen Jahren gelernt, jedem Klischee, jedem Vorurteil zu misstrauen. Obwohl 67 Prozent ihrer Patienten schwarz sind und 63 Prozent am Rande oder unterhalb der Armutsgrenze leben, staune sie immer wieder, wer bisweilen im Wartezimmer sitze. „HIV macht keinen Unterschied, es überschreitet alle sozialen und ökonomischen Grenzen, reich oder arm, gebildet oder nicht.“ Klopft an alle Türen, besucht Hütten und Paläste. „Wer Sex hat, ist gefährdet. Punkt.“
Marilyn ist eine große Frau mit vielen Sommersprossen. Sie trägt einen langen Baumwollrock in Pastellfarben und auffälligen Silberschmuck. Die 56-Jährige ist eine Fremde im Süden, sie kommt eigentlich aus Long Island, besuchte eine katholische Privatschule, studierte Modedesign in New York und zog mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern über Alaska, Virginia und Ohio bis nach Alabama. Nach der Geburt ihrer ältesten Tochter benötigten Mutter und Kind Bluttransfusionen. Das war 1983. Damals war gerade erst bekannt geworden, dass es so etwas wie HIV überhaupt gibt. Als die Tochter mit zwei Jahren an einem hartnäckigen Infekt erkrankte, ordnete der Hausarzt HIV-Tests für Mutter und Kind an. Der Verdacht machte seinen Weg vom Arzt zur Arzthelferin, von der Arzthelferin in die Nachbarschaft, von der Nachbarschaft in die Stadt. Die Tests waren negativ, „aber seither weiß ich, was Stigma ist“.
Stigma, Scham und Schweigen – diese fatale Trias ist tief verwurzelt im kulturellen Boden des amerikanischen Südens, im Bibelgürtel, wo die Menschen religiöser und die Prediger lauter sind als anderswo im Land. Schilder vor dem Eingang vieler Kirchen lassen keinen Zweifel, wer willkommen ist und wer nicht: „Gott ist gut, Schwule sind böse“, steht darauf, „Gott hasst Schwuchteln“ oder: „Aids ist die Rache Gottes“.
Vor allem afroamerikanische Kirchengemeinden bestehen in ihrer Mehrheit aus Frauen. „Unter Afroamerikanern sind Männer, die für eine stabile Beziehung zur Verfügung stehen, Mangelware“, sagt Gina Wingood, Verhaltensforscherin an der Emory-Universität in Atlanta. „Ein Grund ist, dass viele Männer in den Gefängnissen sitzen.“ Knapp 40 Prozent aller Häftlinge in den USA sind schwarz. Und so beklatschen die Frauen oft am lautesten die Hasstiraden der Kanzelredner gegen Homosexuelle – damit der Pool verfügbarer Männer nicht noch weiter schrumpft.
Wingood, selbst Afroamerikanerin, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Religion, Frauen und HIV. „Kirchen in den Südstaaten sind mächtige Meinungsmacher“, sagt die Forscherin. Und weil die Männer den Zorn Gottes und der Frauen fürchten, führen einige von ihnen ein Doppelleben, öffentlich mit einer Frau, heimlich mit verschiedenen Männern. Damit verbreiten sie das Virus – häufig nicht einmal wissend, dass sie selbst infiziert sind. So ist es kein Zufall, dass entgegen dem nationalen Trend in den Südstaaten die Zahl der HIV-infizierten Frauen ansteigt.
Etta Johnson (Name geändert) wurde vom Vater ihrer jüngsten Tochter infiziert, vor 20 Jahren war das. Heute ist sie als Sozialarbeiterin für den Staat Alabama im Einsatz. Etta ist 45, groß und schwer, mit raspelkurzen Locken und neongrün bemalten Kunstfingernägeln. Sie habe sich an das Leben mit HIV gewöhnt, sagt sie, „manchmal muss ich mich kneifen, um mich überhaupt zu erinnern, dass ich positiv bin“. Für eine Langzeitüberlebende, wie Etta Johnson im medizinischen Fachjargon heißt, werden andere Gebrechen relativ: Sie hat zu hohen Blutdruck, zu hohe Cholesterinwerte, eine Nierenschwäche, Gallensteine und Fetteinlagerungen als Folge der Medikamenteneinnahme. „Ich habe so ziemlich alles außer Krebs“, sagt sie trocken. „Aber ich lebe.“ Manchmal glauben andere Patienten nicht, dass sie HIV-positiv sei. „Die meinen, du siehst nicht nach HIV aus, und dann sage ich: HIV hat kein Aussehen!“
Etta hält die Patienten dazu an, Arzttermine nicht schleifen zu lassen, ihre Medikamente sorgfältig zu nehmen. Das ist tatsächlich eines der größten Probleme für HIV-Hilfsorganisationen in den Südstaaten: Menschen, die sich spät, oft zu spät, behandeln lassen, die die Behandlung abbrechen oder unterbrechen. Dafür gibt es viele Gründe, sagt Marilyn Swyers, „wo soll man da anfangen?“
Armut ist einer, und die ist im Süden größer als anderswo in den USA. Obdachlosigkeit ist weit verbreitet, doch sie tritt versteckter auf als im Norden. Etwa 40 Kilometer außerhalb von Auburn hat das Unity Wellness Center gemeinsam mit Architekturstudenten drei Häuser gebaut, in denen Patienten untergebracht werden können. „Damit helfen wir wenigstens einigen“, sagt Marilyn. Doch die Hilfsorganisation ist klein. Der Großteil des Jahresbudgets von 750 000 Dollar kommt aus staatlichen Mitteln, der Rest sind Spenden.
Außerdem ist die medizinische Infrastruktur in den Südstaaten löchrig. Es gibt hier weniger Kliniken und HIV-Ambulanzen als im Norden und Westen des Landes oder in den großen Städten. „Manche Patienten müssen eineinhalb Stunden fahren, um zu uns zu kommen“, sagt Marilyn. Doch öffentliche Verkehrsmittel sind rar, und viele Patienten haben kein Geld für ein Auto. In den meisten Landkreisen des Südens dürfen Lehrer an öffentlichen Schulen bis heute beim Sexualkundeunterricht weder das Wort „Beischlaf“ noch das Wort „Kondom“ erwähnen. „Abstinence only“, lautet die generelle Linie. Völlig weltfremd findet Marilyn das. Und gefährlich. „75 Prozent aller Jugendlichen im Alter von 17 Jahren sind sexuell aktiv. Das darf man nicht ignorieren.“
Schließlich misstrauen viele Afroamerikaner im Süden dem öffentlichen Gesundheitswesen und suchen deshalb erst einen Arzt auf, wenn sie schon sehr krank sind. Die Tuskegee-Experimente sind noch immer präsent im kollektiven Gedächtnis der Region: Von 1932 bis 1972 hatten Vertreter des Gesundheitsministeriums afroamerikanische Farmpächter mit Syphilis die Behandlung verweigert, um den Verlauf der Krankheit zu studieren. Die Kleinstadt Tuskegee liegt nur 30 Kilometer südwestlich von Auburn entfernt.
Omar Vinson hat das Trauma seiner Väter und das Stigma seiner Krankheit hinter sich gelassen. Er sei HIV-positiv, aber er sei frei, sagt er. „Wenn ich viele Patienten sehe, so voller Scham und Angst, wie in Ketten. So will ich nicht leben.“ Er winkt zum Abschied. „Bis übernächste Woche.“ Dann wird er vielleicht auch wieder arbeiten, als Leichenbestatter in Auburn, Alabama. Marilyn Swyers lächelt, zieht die Augenbrauen hoch. Menschen wie Omar, Trevon und Etta motivieren sie, Menschen, die alles tun, um einfach weitermachen zu können. Sie macht ja auch weiter, einfach immer weiter, obwohl wieder einmal ein Antrag auf einen Zuschuss abgelehnt wurde. Obwohl überall bürokratische und sonstige Widerstände lauern und sie in den Augen vieler Menschen im Süden nichts Brauchbares zu bieten hat, nicht einmal Kinder und Tiere.
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Etwas zerbricht
Die überproportional hohe Zahl von HIV-Infektionen im amerikanischen Süden ist ein Thema, das Forscher, Politiker und Aktivisten in den USA zunehmend beschäftigt. So waren die Südstaaten denn auch der regionale Schwerpunkt der diesjährigen United States Conference on Aids, der größten Tagung zum Thema HIV und Aids in den USA, die im September in New Orleans stattfand.
Ein drängendes Thema, findet Lisa Biagiotti. „HIV ist der Indikator einer zerbrechenden sozialen Infrastruktur, eine Art GPS der fragilsten Regionen unseres Landes“, sagt die freie Journalistin und Filmemacherin aus New York. Zweieinhalb Jahre reiste sie durch den tiefen Süden Amerikas, durch Mississippi, Louisiana, Alabama, Georgia, Tennessee, North und South Carolina, 20 000 Kilometer insgesamt. Sie sprach mit mehr als 400 Menschen und drehte schließlich einen Dokumentarfilm: „Deepsouth“ begleitet HIV-Infizierte und Sozialarbeiter, lässt einen homophoben Prediger und eine hilflose Sexualkundelehrerin zu Wort kommen.
Bislang, sagt Biagiotti, sei die Darstellung von HIV über die Jahre hinweg weitgehend gleich geblieben: weiße, schwule Männer in den Städten. „Das ist eine wichtige Geschichte. Aber es ist nicht die einzige.“ „Deepsouth“ wurde bereits auf zahlreichen unabhängigen Filmfestivals in den USA und Europa gezeigt und mit mehreren Preisen ausgezeichnet. rid
© Die Zeit / Christ und Welt - Katja Ridderbusch