03. April 2014
Seit einigen Monaten ist Obamas Gesundheitsreform in den USA in Kraft – doch die Emergency Rooms sind noch immer überfüllt. Besonders die Armen sind auf Hilfe angewiesen. Ist das System überhaupt reformierbar?
Von Katja Ridderbusch
Mit geübtem Griff und einem harten Plopp zieht Dr. David Seaberg die Latexhandschuhe von seinen Fingern und lässt sie in einen Metallcontainer fallen. Er löst sich aus dem Schwarm von Ärzten und Sanitätern, die sich, vermummt in Blau und Grün, um ein Bett scharen, wohlorchestriertes Chaos mit einer Tonkulisse aus heiseren Rufen, garstigem Piepen und monotonem Surren.
David Seaberg ist Unfallchirurg im Emergency Room, kurz: E.R., des Erlanger Hospitals in der Innenstadt von Chattanooga, US-Bundesstaat Tennessee. In dem Bett liegt eine Frau; unter Infusionsschläuchen und Sauerstoffmaske quillt schwarz schimmerndes Haar hervor. „Sie ist erstmal stabil“, sagt Seaberg, „damit ist unser Job getan.“ Die Frau hatte einen Autounfall, wurde aus dem Fahrzeug geschleudert und mit dem Rettungshubschrauber ins Krankenhaus gebracht. Sie ist eine von mehr als 250 Patienten, die jeden Tag in die Notaufnahme kommen.
Die Emergency Rooms seien voller geworden in den letzten Jahren, sagt Seaberg. Nicht wegen der Unfallopfer und der internistischen Notfälle. Die gebe es immer, und fast immer in einem bestimmten Rhythmus. „An Montagen ist mehr los als an anderen Tagen; am Wochenende gibt es mehr Unfälle und in den frühen Morgenstunden mehr Herzinfarkte.“
Vielmehr strömten mehr Patienten in die Notaufnahmen, in Chattanooga und überall im Land, „weil es nicht genug Hausärzte gibt, weil die Menschen ärmer, älter und kränker werden – oder einfach, weil sie schon immer hierher gekommen sind.“ Im E.R. muss jeder behandelt werden – das ist Gesetz in Amerika – ob reich oder arm, versichert oder unversichert, wegen eines Schlaganfalls oder eines Schnupfens. 130 Mio. Menschen suchen in den USA jedes Jahr den Emergency Room auf, das ist mehr als ein Drittel der gesamten Bevölkerung.
Das sollte sich mit der Gesundheitsreform ändern, dem Prestigeprojekt von Präsident Barack Obama, von Freund und Feind „Obamacare“ genannt. Deren Ziel ist es, die Zahl von gut 48 Mio. Nichtversicherten, oder 15,4 Prozent der Bevölkerung, zu verringern. Und in der Folge auch die notorisch verstopften Notaufnahmen zu entlasten.
Doch die Erwartung scheint sich, zunächst zumindest, nicht zu erfüllen. Bis Ende März haben zwar gut sechs Mio. Amerikaner eine der neuen, teilweise subventionierten Krankenversicherungen erworben. Das sind mehr, als Kritiker des Gesetzes erwartet hatten. Doch ist derzeit unklar, wie viele von den vermeintlich Neuversicherten vorher unversichert waren – und wie viele nur den Anbieter gewechselt haben.
Außerdem bleibt es den einzelnen Bundesstaaten überlassen, ob sie ein wichtiges Element der Gesundheitsreform überhaupt umsetzen: die Erweiterung von Medicaid, der staatlichen Krankenversicherung für Arme. Knapp die Hälfte aller Staaten hat sich dagegen entschieden. Tennessee ist einer davon.
Eine Erweiterung von Medicaid soll diejenigen Bevölkerungsgruppen abdecken, die zwar unterhalb der Armutsgrenze leben, aber bislang vom Versicherungsschutz ausgeschlossen waren: jüngere Männer zum Beispiel, oder kinderlose Frauen.
„Als Notärzte wissen wir nicht, ob die Patienten versichert sind, wenn sie durch unsere Türen kommen“, sagt Seaberg. Er lehnt an dem Tresen einer großen ovalen Insel in der Mitte des E.R., Kommandozentrale der Lebensfunktionen mit flimmernden Monitoren. Seaberg ist ein großer Mann Anfang 50. Sein Gesicht wirkt fahl im Neonlicht, die Augen sind gerötet. „Wir behandeln jeden, die kritischen Fälle zuerst.“ Er redet, ruhig und routiniert und mit einer Spur von Ungeduld, während sein Blick kurz zu der Unfallpatientin wandert, die jetzt herausgerollt wird, Richtung Intensivstation oder OP, jedenfalls in ein anderes Stockwerk, eine andere Welt im Krankenhausuniversum.
Der Geräuschwellen aus dem Schockraum ebben ab. Auf dem hellen Linoleumboden haben sich klebrige Lachen von Blut, Erbrochenem und Infusionslösung gebildet, da liegen Papierfetzen, Spritzen, Wundauflagen, Verpackungsmüll.
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Draußen vor dem Krankenhaus steht Dale, mit grauem Haar und grauer Haut. Er war in seinem früheren Leben Vertriebsleiter in einer Elektrofirma, hatte ein Haus und zwei Autos und eine Familie, aber in der Rezession 2008 hat er alles verloren, zuerst seinen Job und seine Krankenversicherung, dann den Rest. „Eine typische amerikanische Absteigerstory“, sagt er und schürzt die Lippen, „vom Mittelklasse-Leben auf die Straße.“ Jetzt arbeitet er halbtags im Supermarkt, räumt Regale ein. Ob sein Geld für eine Krankenversicherung reicht, weiß er nicht. Er will sich erkundigen, demnächst.
In den E.R. ist er wegen einer hartnäckigen Erkältung gekommen. Bei der Eingangsuntersuchung, die in der Notaufnahme „Triage“ heißt, dürfte Dale als minder dringender Fall gelten. Das heißt: Er muss warten. Viele Stunden, vielleicht über Nacht. „Das kenn‘ ich schon“, knurrt er. Er ist öfter hier. Ärzte und Pfleger nennen Patienten wie Dale „Frequent Flyer“.
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„Wir weisen niemanden ab“, sagt Kevin Spiegel, Geschäftsführer des Erlanger Health System, das fünf Krankenhäuser in und um Chattanooga umfasst. „Arme und Unversicherte zu behandeln ist Teil unserer Mission als öffentliches Krankenhaus“. Etwa 20 Prozent der Patienten könnten nicht zahlen, sagt Spiegel. „Das übersetzt sich für uns in Kosten von etwa 92 Mio. Dollar im laufenden Fiskaljahr.“ 10 Prozent mehr als 2013, und Spiegel geht davon aus, dass die Kosten für die Versorgung von Unversicherten weiter rasant anwachsen werden.
Eine große Klinik wie Erlanger mit einem Jahresbudget von 890 Mio. Dollar könne das eine Weile lang aushalten. “Aber langfristig wird auch uns irgendwann das Geld ausgehen“, sagt er. In den vergangenen Monaten mussten bereits mehrere kleinere Krankenhäuser in der Region schließen. Deshalb macht Spiegel zähe Lobbyarbeit im Landesparlament von Tennessee - für die Erweiterung von Medicaid.
In der Zwischenzeit versuchen Erlanger und andere Krankenhäuser in Amerika, die Last ihrer Emergency Rooms abzufedern. Unter anderem, indem sie mit allgemeinmedizinischen Ambulanzen zusammenarbeiten, die die weniger dringenden Fälle behandeln. Mit Einrichtungen wie Mercy Care zum Beispiel. Mercy Care betreibt mehrere Armenambulanzen in Atlanta, Bundesstaat Georgia. Die größte befindet sich in Downtown, in einem roten Backsteinbau zwischen brachliegenden Lagerhäusern und gegenüber einer Güterzugtrasse. Fast keiner der rund 70 Patienten, die hier jeden Tag behandelt werden - oft umsonst, manchmal gegen eine kleine Gebühr – ist versichert, und die meisten sind obdachlos. Finanziert wird Mercy Care, ursprünglich vom katholischen Frauenorden der Barmherzigen Schwestern gegründet, aus staatlichen Fördermitteln und privaten Spenden.
Für Mercy Care hat sich nichts geändert seit dem Inkrafttreten der Gesundheitsreform. „Die meisten unserer Patienten haben nicht genug Geld, sich eine Krankenversicherung, selbst eine subventionierte, zu leisten“, sagt Cathryn Marchman, Leiterin des Sozialdienstes. “Aber viele erfüllen auch nicht die Voraussetzungen, um Medicaid zu bekommen. Sie fallen durch alle Raster.“
Marchman, schlank, rehäugig, schmallippig, kennt die Klagen der überfüllten Notaufnahmen. Dass der Start der Gesundheitsreform nicht automatisch zu einer Entlastung der Emergency Rooms führt, überrascht sie nicht. „Menschen, die seit Generationen in Armut leben, deren Eltern schon nicht versichert waren, gehen nun mal in den E.R. Das haben sie so gelernt, das habe sie immer so gemacht, und deshalb machen sie es weiter so.“ Sie bemühe sich, ihre Patienten - die wenigen, die eine Versicherung haben - „zu trainieren, dass sie zum Hausarzt gehen und nicht in den E.R.“ Aber die alten Gewohnheiten säßen tief, sagt Marchman, und der Lernprozess sei langwierig.
Darryl würde jedenfalls lieber einen Hausarzt aufsuchen als die Notaufnahme. „Die Wartezeiten im E.R. sind zu lang“, sagt er. Darryl ist Mitte 40, Afroamerikaner und Vater von zwei Teenagern. Er arbeitet in verschiedenen Autowerkstätten und konnte sich bislang keine Versicherung leisten, aber jetzt hat er einen Antrag gestellt. „Es wäre toll, eine Versicherung zu haben“, sagt er. „Und einen Termin in einer richtigen Arztpraxis zu bekommen.“ Er lacht leise, schüttelt den Kopf. „Oh Mann, eine Krankenversicherung, das muss so sein, wie im Flugzeug in der ersten Klasse zu reisen.“. Einstweilen ist er froh, dass er zu Mercy Care gehen kann – an diesem Morgen wegen starker Zahnschmerzen.
Neben drei Allgemeinmedizinern arbeiten eine Augenärztin, drei Zahnärzte und mehrere Arzthelferinnen bei Mercy Care. Dr. Rochelle Butler ist Zahnärztin; sie hat Darryl behandelt. „Fast alle unsere Patienten kommen wegen akuter Zahnschmerzen“, sagt sie. „Sie kommen mit Karies, Abszessen, Mundfäule“, sagt sie. Tribut für ein Leben in Armut, ein Leben auf der Straße, ein Leben mit Drogen und Alkohol.
Bei Mercy Care gibt es keine Implantate, keine Verblendungen, keine Kronen - und Gebisse nur für diejenigen Patienten, die regelmäßig zur Untersuchung kommen. „Wir konzentrieren uns hier darauf, die grundlegende Funktion wiederherzustellen, und zwar so schnell wie möglich“, sagt Butler, nickt, wirft ihren straff gebundenen Zopf aus schwarzen Dreadlocks in den Nacken. „Essen können ohne Schmerzen, das ist das Ziel.“
Wenn mehr Patienten Krankenversicherungen hätten, wäre es leichter, sie an Spezialisten zu überweisen, an einen Kiefernchirurgen zum Beispiel. Zwar finden Butler und ihre Kollegen immer wieder niedergelassene Fachärzte, die bereit sind, unversicherte Patienten kostenlos zu behandeln, vom Neurochirurgen bis zum Orthopäden. Doch selbst dann bleiben offene Rechnungen - für Gerätediagnostik, Labortests, Anästhesie.
„Der Alltag sieht heute so aus“, sagt Butler, „wenn ich einen Zahn ziehe, und der Zahn bricht an der Wurzel ab, dann kann ich nur die Wunde verschließen, dem Patienten Antibiotika und Schmerzmittel geben und ihn in die Notaufnahme schicken.“ Zurück dorthin, wo niemand abgewiesen wird. Wo das letzte Sicherheitsnetz gespannt ist.
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Im Emergency Room des Erlanger-Hospitals in Chattanooga macht sich eine Putzkolonne daran, den Fußboden im Schockraum zu säubern.
„Es ist auch für uns Notfallmediziner frustrierend, wenn wir auf Menschen treffen, die arm sind und keine Versicherung haben“, sagt David Seaberg. „Wir kümmern uns um das akute Problem, aber dann können wir nichts mehr tun.“ Einige seiner Kollegen finden, dass Patienten, versichert oder unversichert, den E.R. bisweilen allzu leichtfertig nutzen. Vor allem jüngere Ärzte werden manchmal bitter, wenn sie nach einem Schwerverletzten einen Patienten mit Magenverstimmung oder Erkältung behandeln müssen.
Seaberg zuckt müde mit den Schultern, atmet tief. „Ja. Sicher. Wir sind alle Menschen. Wir haben unsere Gefühle und Meinungen.“ Er selbst arbeitet seit 27 Jahren in der Notaufnahme, „und da lernt man, seine Emotionen abzukoppeln.“ Den Stress, den Frust, auch die Traurigkeit. Bei erwachsenen Patienten gehe das leichter, sagt er. „Bei Kindern – nicht so sehr.“
Die Putzkolonne rückt ab, der Schockraum ist steril, bereit für den nächsten Notfall. Im Übrigen, sagt der Arzt, während er aus einem Pappkarton zwei neue Latexhandschuhe fischt, „haben wir meistens keine Zeit, über solche Dinge nachzudenken. Weil schon die nächsten Patienten warten.“ Für ihn sind das zwölf weitere bis zum Ende seiner Schicht. Ein Patient mit offener Hüftverletzung. Einer mit Bauchschmerzen. Einer mit Brustschmerzen. „So ist das hier.“ Seaberg lächelt, nur mit den Mundwinkeln, und geht dann zum nächsten Behandlungsplatz.
Draußen sitzt Dale, der früher einmal Vertriebsleiter war und eine hartnäckige Erkältung hat. Er wird noch lange warten müssen an diesem Tag.
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Infokasten: Teure Versorgung
Das amerikanische Gesundheitssystem rühmt sich gerne als das beste der Welt. In jedem Fall ist es das teuerste: Die Ausgaben für Gesundheitsversorgung in den USA belaufen sich auf 2,8 Billionen Dollar im Jahr, 17,2 Prozent der Wirtschaftsleistung. In Deutschland machen die Gesundheitsausgaben 11,3 Prozent des BIP aus.
Das Krankenversicherungswesen in den USA ist marktwirtschaftlich orientiert; es gibt aber auch staatliche Versicherungen für Kinder, Militärangehörige, Behinderte, Rentner und Arme. Die Gesundheitsreform, offiziell: „Affordable Care Act“, führt erstmals eine allgemeine Versicherungspflicht ein. Amerikaner, die nicht über ihren Arbeitgeber versichert sind, können seit Oktober 2013 an bundes- oder einzelstaatlich regulierten Online-Börsen erschwingliche Krankenversicherungen erwerben. Außerdem dürfen Menschen nun nicht mehr wegen Vorerkrankungen wie Krebs, Diabetes und Bluthochdruck abgewiesen werden.
Viele Amerikaner suchen auch bei nicht-akuten Krankheiten die Notaufnahmen der Krankenhäuser auf. Dort müssen sie laut Gesetz behandelt werden. Allerdings: Besuche in der Notaufnahme sind teuer. „Die Kapital- ebenso wie die Arbeitskosten im Emergency Room liegen deutlich höher als bei einem Hausarzt“, sagt David Ridley, Gesundheitsökonom an der Duke University in North Carolina. „Der Arzt im E.R. ist in der Regel ein Spezialist; die Geräte sind hochwertiger.“ Nach Erhebungen des North Carolina Medical Journal kostet ein E.R.-Besuch wegen Bauchschmerzen fünfmal so viel wie ein Besuch beim Hausarzt. rid
© Die Zeit / Christ & Welt - Katja Ridderbusch