Juni

Buch des Monats: Matthew Desmond, Zwangsgeräumt. Armut und Profit in der Stadt.

Von Katja Ridderbusch

Ein nachlässig aufgeschütteter Haufen von Dingen türmt sich auf dem Bürgersteig: schäbige Möbelstücke, ein Knäuel aus Kleidung und Schuhen, Hausrat, Spielzeug. Kein ungewöhnlicher Anblick in den Ghettos der amerikanischen Innenstädte. Es ist das, was vom Zuhause der Menschen übrigbleibt, der Inhalt ihrer Wohnungen, ausgespuckt nach einer Zwangsräumung.

Dieses Bild zieht sich als Motiv durch das neue Buch von Matthew Desmond, Soziologe an der Princeton-Universität: „Zwangsgeräumt“. Seine Studie erschien in den USA bereits 2016, wurde von der Kritik hochgelobt und mit dem Pulitzer-Preis gekürt. Jetzt liegt sie auf Deutsch vor.

Er wolle dem Wesen der Armut in Amerika auf die Spur kommen, erklärte Desmond im Radiosender „NPR“: „Im Vergleich zu anderen prosperierenden Demokratien sind die Tiefe und das Ausmaß der Armut in Amerika einzigartig.“ Vor allem habe er verstehen wollen, welche Rolle Wohnraum im Kreislauf der Armut spielt. Deshalb entschied er sich, „mit den Menschen zu leben, die aus ihren Wohnungen geworfen werden“.

Das tat er, 15 Monate lang. Der Forscher mietete sich in einem weißen Trailer-Park und später in einem schwarzen Ghetto in Milwaukee ein, einer Stadt im Bundesstaat Wisconsin im Mittleren Westen der USA. Er begleitete acht Familien, schwarze und weiße, junge und alte, Arbeiter und Akademiker. Unter ihnen ist Arleen, alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen. Und Lamar, dem die Füsse abfroren, als er eine Zeit lang obdachlos und auf Crack war. Oder Scott, ein ehemaliger Krankenpfleger, der wegen seiner Schmerzmittelsucht seinen Job verlor.

In Milwaukee lebt jeder vierte Einwohner unterhalb der Armutsgrenze, jeder achte wird aus seiner Wohnung geworfen. In anderen Großstädten sei die Lage ähnlich, sagt Desmond. Tatsächlich gehen Schätzungen davon aus, dass Millionen von Menschen in den USA jedes Jahr durch Zwangsräumungen ihr Zuhause verlieren.

Weil es zu wenig Sozialwohnungen gibt, sind immer mehr Menschen am unteren Rand der Gesellschaft gezwungen, Wohnungen auf dem freien Markt zu mieten. Doch die sind rar, vor allem in den Städten – und seit der großen Rezession von 2007/2008, als viele Amerikaner die Kredite für ihre Häuser nicht mehr bedienen konnten, diese verlassen mussten und zu Mietern wurden. Die steigende Nachfrage treibt die Mietpreise nach oben.

Desmonds Protagonisten zahlen 70, 80, manchmal 90 Prozent ihrer mageren Einkünfte für Wohnungen, die oft in schlechtem Zustand sind und gegen Bau- und Gesundheitsvorschriften verstoßen. Zwar steht es den Mietern frei, sich an die Stadtverwaltung zu wenden. Doch säßen die Vermieter am längeren Hebel, betont der Autor: Sie hätten „jederzeit die Möglichkeit, Mieter wegen Zahlungsrückstand oder anderer Verstöße auf die Straße zu setzen“.

Da ist zum Beispiel die Afroamerikanerin Arleen. Arleen und ihren Söhnen Jori und Jafaris bleiben von monatlich 628 US-Dollar Sozialhilfe nach Abzug der Miete noch zwei Dollar pro Tag zum Leben. So wird der Mietrückstand schnell chronisch, der Weg in die Schuldenspirale ist zwangsläufig. In einer solchen Situation kann ein banaler Streich schlimme Folgen haben, etwa die Sache mit dem Schneeball. Den wirft der 13jährige Jori auf ein vorbeifahrendes Auto, dann läuft er ins Haus. Der Fahrer steigt aus, tritt wütend die Wohnungstür ein. Arleen kann die Reparatur nicht bezahlen, woraufhin die Vermieterin sie mit ihren Jungs auf die Straße setzt. Es ist nicht das erste Mal, dass sie ihre Wohnung verlieren. Und es dürfte nicht das letzte Mal sein.

Desmond mischt Statistik mit Reportage, Analyse mit Milieustudie. Er begegnet seinen Protagonisten mit Empathie, aber er überhöht sie nicht. Viele von ihnen treffen falsche Entscheidungen – aus Unwissenheit, Wut, Leichtsinn oder Verzweiflung. So gibt die 54jährige Larraine ihre gesamte Monatsration an Lebensmittelmarken für ein einziges luxuriöses Dinner aus Hummerschwänzen, Königskrabben und einem Zitronen-Baiser aus.

Der Autor lässt auch Vermieter zu Wort kommen, wie die Afroamerikanerin Sherrena, ehemalige Lehrerin und heute millionenschwere Unternehmerin. Sie hat sich auf die heruntergekommenen Wohngegenden von Milwaukee konzentriert. Dort ist die Profitmarge höher als im bürgerlichen Vorstadtland. Zwar kommt sie ihren Mietern durchaus entgegen, indem sie ihnen die Möglichkeit gibt, ihre Mietschulden durch kleinere Reparaturen im Haus abzuarbeiten. Aber zugleich lässt sie keinen Zweifel daran, wie die Rollen im sozialen Machtgefüge verteilt sind.

Desmond begleitet auch Umzugsunternehmen und Polizisten, die auf Zwangsräumungen spezialisiert sind. „Bei diesem Job bekam man einiges zu sehen“, schreibt er, „den Typen mit zehntausend Audiokassetten voller Aufnahmen von UFO-Aktivitäten.“ Eine Frau mit Einmachgläsern, in denen Urin abgefüllt ist. Oder ein Mieter, der sich im Keller verschanzt, während oben eine Meute von Chihuahuas über das Haus herrscht. „Erst vor einer Woche hatte ein Mann Sheriff John darum gebeten, ihm noch ein paar Minuten zu geben“, schreibt Desmond. „Dann schloss er
die Tür hinter sich und jagte sich eine Kugel in den Kopf.“

Besonders schlechte Karten auf dem Wohnungsmarkt für Arme haben Familien mit Kindern. In sieben von zehn Fällen werden sie abgewiesen. Auch stellen ihnen Vermieter noch häufiger Vollstreckungsbescheide zu als Kinderlosen. „Kinder bereiten Vermietern Kopfschmerzen“, schreibt der Autor lakonisch. „Kinder benutzen Vorhänge als Superhelden-Capes, spülen Spielzeug in der Toilette herunter und treiben die Wasserrechnungen in die Höhe.“ Außerdem, setzt Desmond hinzu, seien Kinder anfälliger für Bleivergiftungen – und alte Bleirohre auszutauschen, könne für Vermieter teuer werden.

Zwangsräumungen, erläutert der Forscher, trieben sozial schwache Familien in eine düstere Spirale des Abstiegs, setzten einen toxischen Kreislauf aus Entwurzelung und Armut in Gang. Die Dauerschleife aus Zwangsräumungen und Wohnungssuche führt häufig zum Verlust des Jobs: Wer fürchten muss, schon bald kein Dach mehr über dem Kopf zu haben, ist unkonzentriert und macht Fehler; wer ständig von einer Wohnungsbesichtigung zur nächsten eilt, kommt zu spät zur Arbeit und irgendwann gar nicht mehr. Wer dauernd den Wohnsitz wechselt, verpasst wichtige Briefe, Vorladungen vom Sozialamt zum Beispiel. Schließlich: Wer einmal per Zwangsvollstreckung aus seinem Zuhause geworfen wurde, der verliert sogar den Anspruch, irgendwann eine subventionierte Wohnung zu bekommen.

Im Zuge von Zwangsräumungen sinkt für Kinder zudem die Chance gegen null, den Teufelskreis der Armut durch Schulbildung zu durchbrechen. Arleens Sohn Jori beispielsweise wechselte in zwei Schuljahren fünfmal die Schule. Desmond betont daher: „Zwangsräumungen sind eine Ursache von Armut und keine Begleiterscheinung.“

Im letzten Kapitel nennt der Autor mögliche Lösungsansätze. Er plädiert etwa dafür, das bestehende sogenannte Voucher-Programm radikal auszuweiten. Dabei übernimmt der Staat einen Teil der Mieten, die einkommensschwache Menschen auf dem freien Markt zahlen. Doch Desmonds Hoffnung, dass diese Maßnahme den Kreislauf tiefsitzender Armut durchbrechen werde, wirkt etwas naiv.

Pragmatischer klingt da sein Vorschlag, bedürftigen Mietern einen kostenfreien Rechtsbeistand zu stellen. Das ist in den USA, anders als in Deutschland, nicht selbstverständlich. So hätten bei Gerichtsverfahren 90 Prozent der Vermieter einen Anwalt und 90 Prozent der Mieter nicht. Kein Zufall also, dass die meisten vorgeladenen Mieter erst gar nicht vor Gericht erscheinen. Hätten sie staatlich bestellte Anwälte, argumentiert der Autor, könnten diese zumindest die illegalen Zwangsräumungen verhindern und dafür sorgen, dass Mieter keine faulen Vergleiche unterschreiben. „Das wäre ein kluger Gebrauch öffentlicher Gelder“, sagt Desmond, „und würde dazu führen, dass wir als Gesellschaft einen weniger hohen Preis zahlen, finanziell wie moralisch.“

Matthew Desmonds Studie „Zwangsgeräumt“ verstört, beunruhigt und schreckt auf. Als Feldforscher ist Desmond ganz nah dran an seinen Protagonisten; sein Blick ist unverstellt, dokumentarisch und manchmal auch radikal subjektiv. Sein Ziel hat der Autor in jedem Fall erreicht: das Wesen der Armut in Amerika zu durchleuchten – und die Schlüsselrolle, die Wohnraum dabei spielt.

Buch des Monats:
Matthew Desmond, Zwangsgeräumt.
Armut und Profit in der Stadt. Aus dem
Englischen von Volker Zimmermann,
534 S., 26 Euro, Ullstein Verlag 2018.

© Blätter für deutsche und internationale Politik / Katja Ridderbusch