27. September 2016
Der amerikanische Insektenforscher Justin Schmidt hat einen Index der Insektenstich-Schmerzen erstellt. An der Spitze steht der Stich der 24-Stunden-Ameise - mit der Note 4 plus.
Von Katja Ridderbusch
Unter seinen Kollegen und Studenten gilt er als der Schmerzensmann: Justin O. Schmidt, 69, Professor für Entomologie an der Universität von Arizona in Tucson, reist seit Jahrzehnten um die Welt und lässt sich im Namen der Wissenschaft von Wespen, Bienen und Ameisen stechen. Seine Rangliste der Insektenstichschmerzen, der „Schmidt Sting Pain Index“, genießt unter Forschern und Fans gleichermaßen Kultstatus. In seinem Buch „The Sting of the Wild“ erzählt er die Geschichten hinter den Stichen.
Die Welt: Professor Schmidt, das Autorenfoto, das Sie mir geschickt haben, zeigt Sie mit einer üppigen Ameise auf der Nase. Um welche Gattung handelt es sich?
Justin O. Schmidt: Das ist eine Riesenameise, Dinoponera gigantea, die größte Ameise der Welt. Sie lebt am Boden und ernährt sich von Aas. Ich nenne sie den sanften Giganten: Sie sieht Furcht einflößend aus, ist aber eigentlich harmlos. Ich musste sie erst provozieren, mich zu stechen. Und als sie es schließlich getan hat, habe ich kaum etwas gespürt.
Die Welt: Tatsächlich? Sie geben der Riesenameise immerhin die Note 1,5 auf Ihrer Schmerzskala, die von 1 bis 4 plus reicht?
Schmidt: Naja, der Stich hat schon ein bisschen wehgetan. Als wenn man mit einer kleinen Wunde im Salzwasser badet.
Die Welt: Einige Ihrer Beschreibungen Ihrer Schmerzskala klingen wie Auszüge aus einem Gourmetführer: „Von kunstvoller Schärfe und hoher Reinheit“, heißt es da zum Beispiel. Oder: „Leicht und flüchtig, fast fruchtig“, oder auch „scharf trifft würzig“. Mögen Sie Schmerzen?
Schmidt: Das würde ich so nicht sagen. Ich mag nicht die Schmerzen selbst, aber ich mag es, darüber zu schreiben, über die Details, die Abstufungen, die Variationen. Wenn der Schmerz nicht allzu intensiv ist, kann man auch darüber lachen, oder man kann seine Schönheit genießen. Bei Stichen, die kaum wehtun, bin ich manchmal fast enttäuscht. Man hat sich in der Erwartung des Schmerzes gewappnet, wie beim Arzt vor einer Impfung – und dann kommt nichts. Sicher, das ist eine angenehme Enttäuschung, aber dennoch: eine Enttäuschung.
Die Welt: Welcher Insektenstich verursacht den schlimmsten Schmerz?
Schmidt: Keine Frage, der Stich der 24-Stunden-Ameise. Das ist der Heilige Gral der Insektenstiche. Da hat man rasende, intensive Schmerzen für eine ziemlich lange Zeit, wie der Name schon sagt. Deshalb hat dieser Stich auch die höchste Note auf meiner Skala, 4 plus.
Die Welt: Aber Sie sind trotzdem froh, dass Sie von einer 24-Stunden-Ameise gestochen wurden?
Schmidt: Ja, sicher. Man kann nicht glaubwürdig über so etwas sprechen, wenn man es nicht selbst erfahren hat. Und wenn der Schmerz vorüber ist, ist man glücklich und erleichtert und kann ihn als Erfahrung verbuchen.
Die Welt: Ist Schmerz nicht eine sehr subjektive Empfindung? Wie kann man Schmerzen in einer Rangliste erfassen?
Schmidt: Klar, Schmerz ist teilweise sehr subjektiv. Deshalb enthält mein Index ja nicht nur Zahlen, sondern eben auch Beschreibungen. Wir Wissenschaftler mögen Zahlen, weil wir sie in Vergleich setzen. Aber die meisten Menschen ticken nicht so. Es sind Bilder und Geschichten, die sich in das Gedächtnis brennen. Mir geht es ja selbst so: Wenn ich an die Begegnung mit einer bestimmten Bienen-, Wespen- oder Ameisenart denke, erinnere ich mich sofort an den spezifischen Schmerz.
Die Welt: Welche Maßeinheiten haben Sie für die Vermessung des Schmerzes entwickelt?
Schmidt: Es gibt drei Oberkategorien. Erstens: die Intensität. Zweitens: die Dauer. Drittens: der Verlauf. Bei manchen Insektenstichen ist der Schmerz wie eine abfallende Kurve. Bei anderen verläuft er periodisch, schwillt an und ab. Und dann sind da die verschiedenen Arten des Schmerzes. Der diffus brennende Schmerz beim Stich einer Honigbiene, als wenn einem ein Streichholz den Arm versengt. Der reine, saubere Schmerz – ich nenne ihn den chemischen Schmerz, wie ein Stich mit einem Skalpell. Oder der juckende, bohrende Schmerz, der typisch ist für den Stich der Ameisenwespe. Schließlich gibt es Sonderformen wie die Stinkameise, bei der nicht der Schmerz das Schlimme ist, sondern der Geruch. Eine Mischung aus fauligem Knoblauch und Abwasserkanal – ganz übel.
Die Welt: Korreliert der Grad des Schmerzes bei einem Insektenstich eigentlich immer mit der Wirksamkeit des Gifts?
Schmidt: In den meisten Fällen, ja. Es gibt ein paar Ausnahmen. Die Tarantula-Wespe zum Beispiel, die Vogelspinnen jagt. Der Stich tut rasend weh – Note 4 auf meiner Skala – aber das Gift ist, zumindest für uns Menschen und viele andere Säugetiere, nicht giftig. Der Grund: Die Tarantula-Wespe will ihre Beute nur lähmen, aber nicht ihr Gewebe zerstören. Weil sie die Spinne als Wirt für ihre Larven braucht.
Die Welt: Welche Funktion hat dann der Schmerz des Insektenstichs?
Schmidt: Das ist der eigentliche Kern meiner Forschung. Der Stich dient nicht nur dazu, die Beute außer Gefecht zu setzen. Er dient auch der Verteidigung. Der Schmerz ist also ein Mittel zur Abschreckung, eine Art Ankündigung des Schadens, den das Gift verursachen kann. Wer ihn einmal erlebt hat, vergisst ihn nicht mehr. Der Schmerz kreiert eine negative Erinnerung, eine Warnung im Hirn des Angreifers.
Die Welt: Ihr Stichschmerz-Index ist sehr populär, nicht nur bei Wissenschaftlern, sondern auch in der breiteren Öffentlichkeit. Warum?
Schmidt: Schmerz erschreckt uns, er macht uns Angst, und Angst übersetzt sich in Faszination. Das liegt im Menschen. Und das Praktische an Insektenstichen ist, dass sie zwar ein bisschen beängstigend sind, aber nicht wirklich gefährlich, zumindest für die meisten Menschen. Wir haben den Schmerz, wir haben den Kick, aber wir begeben uns dabei in der Regel nicht in Lebensgefahr.
Die Welt: Gibt es Insektenstiche, die noch auf Ihrer Wunschliste stehen?
Schmidt: Es gibt eine Ameise im Kongo, die in Bäumen lebt. Ihr Stich soll angeblich einen sehr einzigartigen, brennenden, Blasen werfenden Schmerz verursachen. Dann gibt es eine Ameisenart im Osten Perus, deren Stich ein Forscher einmal als den schmerzvollsten überhaupt beschrieben hat. Ich bin da skeptisch, weil ich schon von einer Reihe verwandter Ameisen gestochen wurde. Das war ein scharfer und reiner Schmerz, aber bestimmt nicht schlimmer als der Stich der 24-Stunden-Ameise. Ich würde diesen Mythos gerne ausräumen. Und schließlich ist da noch die Asiatische Riesenhornisse, die angeblich jedes Jahr mehrere Dutzend Menschen in Japan und China tötet. Ich bin noch nie von ihr gestochen worden, deshalb bin ich neugierig. Ich vermute, dass ich ihrem Stich die Note 3 geben würde. Aber ich würde meine Vermutung gerne verifizieren.
Die Welt: Sie arbeiten seit mehr als 40 Jahren mit Ameisen, Bienen, Wespen. Wie ist Ihr Verhältnis zu Ihren Studienobjekten?
Schmidt: Ich kenne sie. Ich mag sie. Ich bewundere und respektiere sie. Außerdem geben sie mir einen wunderbaren Grund, durch die Welt zu reisen – und in meinen eigenen Garten zu gehen. Ich habe dort Tarantula-Wespen, eine schwarze Witwe, ein paar Skorpione, außerdem Ameisenwespen und Ernteameisen.
Die Welt: Teilt Ihre Familie Ihre Leidenschaft für Insekten?
Schmidt: Jeder auf seine Weise. Meine Frau hilft beim Marketing meines Buches. Mein jüngerer Sohn interessiert sich für die Forschung, die Theorie der Insektenkunde. Der Ältere geht gerne mit mir auf Exkursionen. Aber eigentlich hat meine Familie gar keine Wahl, als sich mit den Insekten zu arrangieren, denn sie gehören zu mir.
© WeltN24 / Katja Ridderbusch