01. Mai 2020
Vorerkrankungen können zu einem schweren Verlauf von Covid-19 führen. Jetzt liegen eindeutige Belege vor, dass vor allem Übergewicht sich problematisch bei einer Infektion auswirkt.
Von Katja Ridderbusch
Christopher Petrilli und seine Kollegen und Kolleginnen mochten den Ergebnissen ihrer Untersuchungen zunächst selbst nicht recht trauen. Demnach befördern nicht etwa Asthma, die chronisch-obstruktive Lungenerkrankung COPD oder eine lange Raucherkarriere einen besonders schweren Verlauf von Covid-19. Der größte Risikofaktor – nach dem Alter des Patienten – ist vielmehr: Fettleibigkeit. Im medizinischen Fachjargon: Adipositas.
„Das war tatsächlich ein ziemlich überraschendes Ergebnis für uns“, sagt Petrilli im Gespräch mit WELT.
Petrilli ist Internist am NYU Langone Medical Center in Manhattan und Professor an der Grossman School of Medicine der New York University. Er ist der leitende Autor einer Fallstudie über Risikofaktoren für schwere Verläufe von Covid-19, der Krankheit, die durch das neuartige Coronavirus ausgelöst wird. New York City ist das Epizentrum der Epidemie in den USA, mit mehr als 167.000 Infizierten und etwa 13.000 Toten.
„Schwere Verläufe heißt nach unserer Definition, dass Patienten intensivmedizinisch behandelt und in einigen Fällen auch mechanisch beatmet werden müssen“, erläutert Petrilli.
Die Studie untersucht mehr als 4100 Covid-Patienten, die in vier Kliniken und 260 ambulanten Zentren von NYU Langone zwischen dem 1. März und dem 1. April behandelt wurden. Von den Patienten, die stationär aufgenommen wurden, waren rund 40 Prozent adipös. Knapp die Hälfte dieser Patienten musste später intubiert werden.
Als übergewichtig gilt, wer einen Body Mass Index (BMI) von mehr als 25 hat. Adipös ist jemand mit einem BMI von mehr als 30. Der Index wird errechnet, indem man das Gewicht eines Menschen in Kilogramm durch das Quadrat seiner Körpergröße in Metern teilt.
Das Forscherteam um Petrilli kam ferner zu dem Schluss: Fettleibigkeit gefährde Patienten nicht nur in Kombination mit Risikofaktoren wie ethnische Herkunft, Alter und sozioökonomischer Status, sowie im Verein mit medizinischen Problemen wie hoher Blutdruck, Diabetes, Herz-, Lungen und Nierenerkrankungen, sagt Petrilli. Schweres Übergewicht erhöhe auch „als bedeutender, unabhängiger und alleinstehender Faktor“ das Risiko für lebensgefährliche Verläufe von Covid-19-Infektionen.
„Die chronische Erkrankung, die am stärksten mit einer schweren Covid-Infektion im Zusammenhang steht, ist Adipositas – und zwar in einem substanziell höheren Risikoverhältnis als jede Herz-Kreislauf- oder Lungenerkrankung“, heißt es in der Studie.
Eine weitere NYU-Langone-Untersuchung konzentriert sich auf die Rolle von schwerem Übergewicht bei Patienten unter 60 Jahren. Bei dieser Patientengruppe ist der Zusammenhang noch deutlicher: Fettleibige Covid-Patienten unter 60 wurden doppelt so häufig ins Krankenhaus eingeliefert und mehr als doppelt so häufig auf die Intensivstation verlegt wie ihre normalgewichtigen Altersgenossen.
„Bedauerlicherweise zeigt sich, dass Adipositas bei Menschen unter 60 Jahren als neuer epidemiologischer Risikofaktor gelten muss, der möglicherweise zu den erhöhten Erkrankungszahlen in den USA beiträgt“, schreiben die Autoren um die Infektionsmedizinerin Jennifer Lighter.
Tatsächlich sind die Amerikaner so dick wie nie zuvor. Mehr als 42 Prozent der Erwachsenen in den USA, fast 80 Millionen Menschen, leiden unter Adipositas, hieß es in einem im Februar veröffentlichten Bericht der Gesundheitsbehörde CDC in Atlanta – ein neuer Rekord.
Besonders betroffen sind Afroamerikaner, Hispanics und weiße Amerikaner in ländlichen, sozioökonomisch benachteiligten Regionen. Unter Afroamerikanern und Hispanics, die häufig auch unter anderen chronischen Erkrankungen leiden und außerdem nicht oder schlecht krankenversichert sind, ist die Sterblichkeit an Covid-19 besonders hoch. In Deutschland sind laut Robert-Koch-Institut etwa ein Viertel der Erwachsenen adipös.
Petrilli betont, dass seine Studie bislang nur eine relativ kleine, aber demografisch vielfältige Auswahl von Patienten betrachte. Leider würden in den kommenden Wochen wohl weitere Covid-Patienten stationär behandelt werden müssen, sagt er weiter, und die Autoren der Studie planen, ihr Modell zu verfeinern und die Untersuchung fortzuführen.
Berichte aus anderen Ländern bestätigen die vorläufigen Beobachtungen der New Yorker Mediziner. So kommt das Team um den Hämatologen Arthur Simonnet vom Universitätsklinikum in Lille, Frankreich, in einem Artikel für das Fachmagazin „Obesity“ zu dem Ergebnis: Mehr als drei Viertel der Covid-Patienten, die zwischen Ende Februar und Anfang April intensivmedizinisch behandelt wurden, waren fettleibig bis schwer fettleibig, mit einem BMI über 35. Die Forscher stellten ferner fest, dass die Notwendigkeit zur Beatmung mit der Höhe des BMI anstieg.
88 Prozent mit BMI über 25
Ärzte aus Wuhan, China, wo die Verbreitung des SARS-CoV2-Virus begann, legten ebenfalls die Auswertung ihrer Analyse der Risikofaktoren vor. Danach hatten mehr als 88 Prozent der an Covid-19 Verstorbenen einen BMI von über 25 und waren damit übergewichtig oder fettleibig.
Und auch in Deutschland häufen sich Beobachtungen von Medizinern zum Zusammenhang zwischen schwerem Übergewicht und Covid-19. Er könne die Eindrücke seiner Kollegen aus den USA, China, Frankreich und der Schweiz durchaus teilen, sagt Karsten Schmidt, Facharzt für Anästhesie und leitender Oberarzt auf der anästhesiologischen Intensivstation am Universitätsklinikum Essen. „Die meisten Patienten, die mit schweren Covid-Verläufen zu uns auf die Intensivstation kommen, sind tatsächlich übergewichtig bis adipös“, erläutert er am Telefon. „Die Normalgewichtigen sind in der Minderheit.“
Allerdings warnt er davor, daraus den Umkehrschluss zu ziehen, „dass jeder, der sehr dick ist, automatisch ein Risikopatient für eine schwere Covid-Erkrankung ist“.
Schmidt bestätigt eine weitere Beobachtung aus New York: dass jüngere, sehr übergewichtige Menschen häufig besonders schwerere Covid-Verläufe haben. „Die wenigen invasiv beatmeten Patienten, die jünger als 40 Jahre sind und die wir intensivmedizinisch betreuen oder betreut haben, sind tatsächlich adipös.“
Er habe vor allem einen Patienten vor Augen, sagt Schmidt weiter, „dessen wesentliches und alleiniges Gesundheitsrisiko ist Übergewicht“. Seit Beginn der Pandemie wurden im Universitätsklinikum Essen 141 Covid-Patienten stationär behandelt, etwa die Hälfte davon auf der Intensivstation.
Über die Gründe, warum übergewichtige und adipöse Menschen häufig besonders schwer an Covid-19 erkranken, gibt es bislang nur Hypothesen. Es sei bekannt, dass Adipositas den Körper in den Zustand einer ständigen chronischen Entzündung versetze, sagt Petrilli. „Das Fettgewebe sondert Sekrete ab, die dann beim Zusammentreffen mit dem SARS-CoV2-Erreger im Körper wahrscheinlich eine extrem aggressive Entzündungsreaktion auslösen.“
Was folgt, sei der bei schweren Covid-Verläufen häufig beschriebene Zytokinsturm, erklärt Petrilli weiter, ein unkontrolliertes Überschießen des Immunsystems, das zu Kreislaufschock und multiplem Organversagen führen könne.
Hinzu kommt: Die Erfahrung mit der H1N1-Influenza-Epidemie von 2009, der sogenannten Schweinegrippe, zeigte, dass Adipositas anfällig für Infektionskrankheiten macht. Andere Studien legen nahe, dass fettleibige Menschen durch die jährliche Grippeimpfung weniger stark geschützt sind als normalgewichtige.
Außerdem, berichten zahlreiche Intensivmediziner, könne eine hohe Fettkonzentration vor allem im Bauchraum, wie sie sich besonders häufig und ausgeprägt bei Männern findet, das Zwerchfell und die Lungen zusammendrücken und eine mechanische Beatmung erschweren.
Für die Behandlung von stark übergewichtigen Covid-Patienten bedeuteten die Ergebnisse der aktuellen Studien vor allem, dass Ärzte die Krankheitsverläufe dieser Menschen besonders sorgfältig beobachten und bestimmte Entzündungsmarker im Blut engmaschiger überprüfen müssten, sagt Petrilli.
Er warnt jedoch ausdrücklich vor „fat shaming“ – davor, adipöse Menschen als besondere Risikogruppe zu stigmatisieren und damit vielleicht sogar davon abzuhalten, im Falle einer Erkrankung medizinische Hilfe zu suchen. „Das wäre tragisch und kontraproduktiv.“
© WeltN24 /Katja Ridderbusch