24. Juni 2020
In den USA sterben Afroamerikaner überproportional häufig bei Einsätzen der Polizei. Experten entwickeln nun Trainingsprogramme für mehr Selbstkontrolle und Deeskalation. So soll es funktionieren.
Von Katja Ridderbusch
Als im August 2014 in Ferguson im US-Bundesstaat Missouri ein weißer Polizist den 18-jährigen unbewaffneten Afroamerikaner Michael Brown erschoss, als eine Protestwelle die Stadt und später das Land erfasste, wurde D. Brian Burghart zu einem gefragten Mann. Fernsehsender aus aller Welt interviewten ihn, Forscher suchten seine Hilfe. „Das waren meine 15 Minuten Ruhm“, sagt der ehemalige Journalist und Datenwissenschaftler.
Diese Momente wiederholen sich seither in regelmäßigen traurigen Abständen – meist dann, wenn ein Afroamerikaner bei Auseinandersetzungen mit der Polizei zu Tode kommt. Zuletzt, als George Floyd in Minneapolis unter dem Knie eines Polizisten erstickte und Rayshard Brooks von zwei Kugeln in den Rücken getroffen wurde und kurz darauf starb.
Eigentlich arbeitet Burghart lieber im Dunkeln als im Scheinwerferlicht. 2012 startete er eine Webseite, die Vorfälle von Polizeigewalt mit tödlichem Ausgang in den USA seit dem Jahr 2000 zusammenträgt. „Fatal Encounters“ heißt das Projekt, tödliche Begegnungen.
Danach sterben in den USA jedes Jahr mehr als 1000 Menschen durch die Hand der Polizei. Mehr als 28.100 Tote in 20 Jahren. 26 Prozent der Opfer – also jeder Vierte – sind Afroamerikaner, obwohl Schwarze nur 13 Prozent der amerikanischen Bevölkerung ausmachen. „Die Daten sprechen eine klare und eindeutige Sprache“, sagt Burghart.
Die Todesfälle von Floyd und Brooks haben in den USA eine Grundsatzdebatte über systemischen Rassismus und soziale Gerechtigkeit angestoßen. Schon länger werten Soziologen und Kriminologen die verfügbare Daten aus und erforschen, wie man die Polizeigewalt reduzieren könnte. Ganz oben auf der Liste der derzeit diskutierten Maßnahmen steht eine Reform des Polizeitrainings.
Die Forderung sei nicht neu, sagt Justin Nix, Professor für Kriminologie an der Universität von Nebraska in Omaha. Deeskalations- und Sensibilisierungstraining zur Überwindung von Vorurteilen gibt es seit Jahrzehnten und wird in vielen der 18.000 Polizeibehörden in den USA durchgeführt.Allerdings: Es komme auf die Art und Tiefe des Trainings an. „Einmal im Jahr einen Wochenendkurs abzuhalten, das kann es nicht sein“, sagt Nix. Polizisten müssten regelmäßig, praxisnah und nachhaltig geschult werden.
So wie in einer randomisierten Kontrollstudie, die Scott Wolfe, Kriminologe an der Michigan State University, vor Kurzem zusammen mit Kollegen bei zwei Polizeibehörden durchführte.Bei der Polizei in Lafayette, einer Stadt in South Carolina mit starkem schwarzen Bevölkerungsanteil, und bei der Polizei in Tucson (Arizona), wo knapp 42 Prozent der Bewohner hispanischer Abstammung sind.
In beiden Behörden wurde jeweils eine Gruppe von Polizisten ein halbes Jahr lang einem intensiven sozialen Interaktionstraining unterzogen: Welche verbalen und nicht verbalen Mittel der Deeskalation sind in welcher Situation einsetzbar, wie behält ein Polizist seine Selbstkontrolle und widersteht dem Reflex, sofort eine tödliche Waffe zu benutzen?
Die Ergebnisse, die demnächst im Fachblatt „Criminology & Public Policy“ veröffentlicht werden, wecken Hoffnung. „Polizisten, die das Training durchlaufen haben, legen größeren Wert auf Verfahrensgerechtigkeit – auf eine faire Kommunikation mit den Bürgern“, sagt Wolfe. Auch zeigten einige der Probanden nach dem Training mehr Selbstbeherrschung im Einsatz, berichtet Wolfe – „und greifen weniger schnell zur Gewalt als erstem Mittel“.
Anders als in Deutschland stehe in den USA der Schusswaffengebrauch im Zentrum des Polizeitrainings, sagt Anne Nassauer, Professorin für Soziologie am John-F.-Kennedy-Institut für Amerikastudien der FU Berlin und Gastforscherin an der Yale University in New Haven (Connecticut). „Unter anderem, weil in den USA wesentlich mehr Menschen eine Schusswaffe besitzen und die Polizei damit rechnen muss, dass eine Person bewaffnet ist und im Zweifelsfall schnell schießt. Aber auch weil die Polizei insgesamt mehr darauf trainiert wird, ihre Schusswaffen zu gebrauchen.“
Viele der Fälle, in denen Afroamerikaner bei Begegnungen mit der Polizei zu Tode kommen, zeigen ein ähnliches Muster: Sie widersetzen sich der Verhaftung oder versuchen zu fliehen, die Polizisten greifen zur Schusswaffe und feuern. So geschah es bei Brown in Ferguson 2014 und bei Brooks vor knapp zwei Wochen in Atlanta.
Verschiedene Modelle der Gewaltprävention schlagen vor, Polizisten stärker in einem abgestuften Einsatz von alternativen, nicht tödlichen Waffen zu schulen – von Tasern und Gummigeschossen über Schlagstöcke bis zu Pfefferspray.
Studien belegen ferner: Rassistische Stereotype reduzieren die Hemmschwelle zur Gewalt. „Viele Polizisten fühlen sich von einer schwarzen Person stärker bedroht“, sagt Nassauer. Die Forscherin verweist auf die Theorie vom Iconic Ghetto, die der amerikanische Soziologe Elijah Anderson entwickelt hat: die Assoziation, dass Afroamerikaner aus einem kriminellen Innenstadtgetto kommen und damit eine größere Gefahr darstellen.
So meldete der Polizei-Dispatcher im November 2014 in Cleveland (Ohio), dass ein afroamerikanischer Mann in einem Park mit einer Waffe hantiere und gab Code eins aus, die höchste Gefahrenstufe. Tatsächlich handelte es sich um den zwölfjährigen Jungen Tamir Rice, der mit einer Spielzeugpistole unterwegs war. Der Streifenpolizist, der als Erster vor Ort war, eröffnete umgehend das Feuer. Der Junge starb einen Tag später.
Ein effektives Training zum Abbau rassistischer Vorurteile und Denkmuster dürfe sich indes nicht damit begnügen, auf einen abstrakten Rassismus zu verweisen, betont Nassauer. Vielmehr müsse es konkrete situative Szenarien durchspielen und Polizisten helfen, „die Mechanismen ihrer Wahrnehmung aufzubrechen, zu hinterfragen“.
Die Demilitarisierung von Polizeieinheiten gilt unter Forschern ebenfalls als wichtige Maßnahme zur Gewaltprävention. Sie soll dem sogenannten 1033-Programm entgegenwirken, Teil eines Gesetzes, das Präsident Bill Clinton im Jahr 1997 unterzeichnet hatte. Es sieht vor, dass das Pentagon überschüssiges Material – von Panzerfahrzeugen und Hubschraubern über Granatwerfer, Bajonette und Sturmgewehre bis hin zu Gasmasken – kostenlos an die Polizei abgibt.
Eine Studie der Gardner-Webb University in North Carolina kommt 2017 zu dem Ergebnis, dass „ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Transfer (von militärischem Gerät) und der Zahl von Toten bei einem Polizeieinsatz mit Schusswaffengebrauch besteht“.
Die Autoren folgern, dass ein Ende des Programms und ein Rückruf der militärischen Ausrüstung zu „weniger Tötungen durch die Polizei“ führen werde. Doch die Chancen dafür stehen derzeit eher schlecht. Präsident Barack Obama hatte 2015 per Präsidialdekret das Programm eingeschränkt, sein Nachfolger Donald Trump hob die Einschränkung wieder auf.
Der Slogan „Defund the Police“ – die Forderung nach Budgetkürzungen bei der Polizei – rufe bei vielen die reflexhafte Angst vor einem Anstieg der Kriminalität hervor, sagt Nix. Aber das müsse nicht notwendigerweise so kommen.
„Wenn Budgets strategisch gekürzt und Mittel planvoll umverteilt werden, dann kann das auch dazu führen, dass die Polizei künftig stärker in Bereichen eingesetzt wird, wo sie wirklich gebraucht wird – und dass in anderen Bereichen Experten übernehmen, die für die jeweilige Situation besser geeignet sind.“
Zum Beispiel: Wenn Menschen mit psychischen Krankheiten – wie Schizophrenie, Psychosen, Alkohol- und Drogenabhängigkeit – öffentlich auffällig werden, werde in der Regel die Polizei als Ersthelfer gerufen, „weil es keine andere Anlaufstelle gibt“, sagt Nix.
Doch Polizisten sind häufig kaum im Umgang mit psychisch Kranken ausgebildet, fehlinterpretieren deren Reaktionen, und die Situation eskaliert. Laut „Washington Post“ leiden 25 Prozent der Personen, die jedes Jahr bei Polizeieinsätzen getötet werden – mehr als 250 Menschen also – unter psychischen Krankheiten.
Dagegen haben sich die Erwartungen, dass durch den Einsatz von Körperkameras tödliche Polizeieinsätze zurückgehen würden, nicht erfüllt, sagt Nix. Immerhin zeigten Studien, die die Wirkung von Bodycams untersuchen: Es gibt weniger Beschwerden über Polizisten. Das könne daran liegen, dass sich Polizisten professioneller verhielten oder dass die Bürger Hemmungen hätten, belanglose Beschwerden einzureichen, sagt der Forscher.
Bodycams können außerdem dabei helfen, den Verlauf eines Polizeieinsatzes Schritt für Schritt zu rekonstruieren, wie derzeit im Fall von Brooks, der am 12. Juni in Atlanta von Officer Garrett Rolfe erschossen wurde. Brooks hatte mit seinem Auto die Durchfahrt zu einem Fast-Food-Restaurant blockiert, als er – offensichtlich angetrunken – am Steuer eingeschlafen war. Rolfe befragte Brooks gut 40 Minuten lang, das Gespräch verlief ruhig und professionell.
Als Rolfe Brooks nach einem Atemtest schließlich festnehmen und mit aufs Revier nehmen wollte, wehrte sich Brooks, attackierte Rolfe und seinen Kollegen, entwendete einen Taser, richtete die Waffe auf Rolfe, der daraufhin mehrere Schüsse auf den fliehenden Brooks abfeuerte.Brooks starb kurz darauf im Krankenhaus; der Staatsanwalt erhob Mordanklage gegen Rolfe.
Präsident Trump unterzeichnete jetzt unter dem öffentlichen Druck ein Dekret zur Polizeireform, das die Demokraten jedoch als zu schwach und schwammig bezeichneten.Die Verfügung schränkt zwar die Anwendung des Würgegriffs, bei dem Floyd starb, ein und fordert den Austausch von Informationen zwischen Polizeibehörden, erleichtert aber nicht die Strafverfolgung von Polizisten, die exzessive Gewalt anwenden.
Neben dem mangelnden politischen Willen stelle auch die enorme demografische, soziale und administrative Vielfalt der USA eine riesige Herausforderung für eine wirksame Polizeireform dar, sagt Kriminologe Nix. Jede der 18.000 Polizeibehörden im Land arbeite in einer anderen Gemeinde, die andere Probleme habe. Die Zentralregierung müsse einen klaren Rahmen vorgeben. „Aber eine Polizeireform in Los Angeles sieht anders aus als eine Polizeireform in New York oder in Atlanta.“
Dennoch: Wider alle Hürden sei „das Fenster für tiefgreifende Reformen im Moment offener, als es je war“, sagt Nix weiter. „Und als Land müssen wir diese Chance nutzen.“
© WeltN24 / Katja Ridderbusch