04. April 2020
Explodierende Kosten, mangelnde Transparenz, marktbedingte Konkurrenz zwischen Laboren und Krankenhäusern: Die Coronakrise entblößt die Schwächen des amerikanischen Gesundheitssystems. Doch viele glauben, dass damit die Chance auf eine zukünftige, allgemeine Gesundheitsversorgung entsteht.
Von Katja Ridderbusch
Tag für Tag überschlagen sich die Fernsehnachrichten mit explodierenden Fallzahlen und düsteren Rekorden, mit dramatischen Bildern und bewegenden Geschichten. Die USA sind zum globalen Epizentrum der Coronakrise geworden.
Die Politik hätte gewarnt sein müssen, sagt Bill Custer, Gesundheitsökonom an der Georgia State University in Atlanta, im Gespräch via Skype. Die Gesundheitsbehörde CDC habe vor zwei Jahren in einem Planspiel getestet, wie die USA für eine Pandemie gerüstet sind. Die Simulation habe gezeigt, dass medizinisches Material, Masken und Beatmungsgeräte Mangelware sein würden, sagt er. Das Problem war erkannt, doch es passierte nichts.
Die Gesundheits-Infrastruktur ist zerstückelt
Jetzt ist das Planspiel bittere Wirklichkeit, die COVID-19-Epidemie überrollt das Land und legt brutal die strukturellen Schwächen des amerikanischen Gesundheitssystems offen. Die Reaktion auf die Krise war ein perfekter Sturm aus menschlichem und institutionellem Versagen, sagt Bill Custer.
Zunächst spielte die Trump-Regierung die Gefahr des Virus herunter und verlor damit kostbare Zeit. Hinzu kommt: Die Infrastruktur des amerikanischen Gesundheitssystems ist kleinteilig und zerstückelt. Der Versuch, die verschiedenen Einheiten in der Krise zu bündeln, sei gescheitert. Ein Beispiel dafür sind die Tests für COVID-19. Keren Landman ist Infektionsmedizinerin und Epidemiologin in Atlanta. Neben der Verzögerung sieht sie noch ein weiteres, tiefer greifendes Problem beim Testen: Die großenteils privaten Labore arbeiteten intransparent und unkoordiniert, sagt Keren Landman. Grund dafür sei, dass sie in normalen Zeiten ihre Marktposition vor allem mit patentrechtlich geschützten Tests behaupten. Die wettbewerbsorientierte Natur dieser Labore führe dazu, dass sie unfähig sind, ihre Arbeit in Krisenzeiten abzustimmen. Die Folge: Uneinheitliche und fehleranfällige Tests, lange Wartezeiten bei Durchführung und Auswertung.
Kein einheitliches Management
Ähnlich wie die Welt der Test-Labore, so behindere auch die Struktur der verschiedenen Krankenhaus-Systeme sowie wie die kommunalen, regionalen, einzel- und bundesstaatlichen Gesundheitsagenturen ein zügiges Epidemie-Management, sagt Gesundheitsökonom Custer. So sei es schwierig, notwendiges medizinisches Gerät und Ausrüstung effizient zu verteilen, wenn jedes Krankenhaus, jede Behörde nur auf die eigenen akuten Probleme fixiert sei und nicht das größere Bild im Blick habe, so Bill Custer.
Diese strukturellen Schwächen lähmen die Reaktionsfähigkeit des amerikanischen Gesundheitssystems – die Fähigkeit, im Krisenfall eine große Zahl von Patienten schnell und gut zu versorgen. Dabei geht es nicht nur um die technische Infrastruktur: Intensivbetten, Beatmungsgeräte, Schutzausrüstung, sondern auch um Fachpersonal wie Beatmungsspezialisten.
Das teuerste Gesundheitssystem der Welt
Die USA haben das teuerste Gesundheitssystem der Welt. Arzt- und Krankenhausrechnungen sind die Hauptursache für Privatinsolvenz. Das hat in der Coronakrise gefährliche, potentiell tödliche Folgen, sagt Infektionsmedizinerin Landman. Viele Menschen zögerten, sich auf das Virus testen oder sich behandeln zu lassen. Und erhöhten damit das Risiko für ihre Familie und Gemeinde.
Dabei hätte es noch schlimmer kommen können. Mitten in der anschwellenden Corona-Krise feierte die Gesundheitsreform des ehemaligen Präsidenten Barack Obama ihren zehnten Geburtstag. Der Affordable Care Act, von Freund und Feind Obamacare genannt, sollte Amerikanern einen umfassenden und erschwinglichen Krankenversicherungsschutz bringen.
Das ist nur zum Teil gelungen. Immerhin sind heute 20 Millionen mehr Amerikaner krankenversichert als noch vor zehn Jahren. Doch die Trump-Administration hat bereits Teile von Obamacare außer Kraft gesetzt und andere geschwächt. Das Gesetz sei wie ein verwundeter Boxer, der immer wieder aufstehe, sagt Bill Custer. Auch in der Coronakrise biete Obamacare Schutz vor allem für ärmere Amerikaner und Hilfe für kleinere, regionale Krankenhäuser.
Gesundheitsreform wird Topthema werden
Klar ist: Die Reform des Gesundheitswesens dürfte nach der Krise höchste Priorität haben, auch im derzeit eingefrorenen Präsidentschaftswahlkampf. Epidemiologin Keren Landman hofft, dass die Corona-Pandemie den Weg für eine allgemeine und öffentliche Krankenversicherung öffnen werde. Allgemeine Gesundheitsfürsorge ist nicht nur ein System, sagt sie, sondern eine Kultur. Eine Kultur, die verstehe, dass unsere eigene Gesundheit eng mit der Gesundheit der Menschen um uns herum verbunden ist.
© Deutschlandfunk / Katja Ridderrbusch