09. Juli 2020
Zu Jahresbeginn war Odessa in West-Texas noch eine Boomtown, dank üppiger Ölvorkommen und der umstrittenen Fracking-Technologie. Der Ölpreisverfall und COVID-19 haben das Leben weitgehend zum Stillstand gebracht. Doch die Stadt arbeitet bereits an einem Comeback.
Von Katja Ridderbusch
Wenn Kirk Edwards die großen Fenster in seinem Büro öffnet, kann er an windstillen Tagen das monoton-metallische Heulen des Pumpjacks hören, einer Pferdekopf-Pumpe – die aussieht, wie der Name es nahelegt –, und die unweit der Neubausiedlung Öl tief aus dem Boden hervorholt.
Aber Edwards ist nicht nach einem Ausblick. Er ist in düsterer Stimmung.
Es sehe schlecht aus für die Gegend, sagt er. Im letzten Jahr habe es 450 aktive Bohranlagen gegeben, jetzt seien es nur noch 130. Seine Branche sitze auf Tonnen von Öl, das niemand brauche. Und es gebe keinerlei Anzeichen, dass sich die Dinge bald verbessern.
Edwards, groß, bullig, jovial, ist Inhaber des mittelständischen Öl- und Gasproduzenten Latigo Petroleum mit Sitz in Odessa. Er gehört zum Öl-Adel der Stadt, sein Vater war bereits im Ölgeschäft.
Die Kleinstadt im Westen des Bundesstaates Texas, gegründet 1881, verdankt ihren Namen russischen Eisenbahnarbeitern, die sich an die Steppenlandschaft ihrer Heimat erinnert fühlten.
Odessa liegt im Permischen Becken, das sich von West-Texas bis in den Südosten von New Mexico erstreckt. Auf einer Fläche, mehr als dreimal so groß wie Bayern, wird hier mehr Öl gefördert als überall sonst auf der Welt. Über vier Millionen Barrel am Tag waren es noch Ende 2019. Ein Drittel der amerikanischen Ölproduktion stammt aus dieser Region.
Ölpreisverfall durch Shutdown verstärkt
Seine Stadt sei gewöhnt an die Boom-und-Bust-Zyklen, sagt Edwards, an die Achterbahnfahrten der Ölkonjunktur.
Aber die COVID-Pandemie habe seiner Stadt einen doppelten Schlag versetzt: Als Folge eines Preiskriegs zwischen Russland und Saudi-Arabien begann der Ölpreis schon zu Beginn dieses Jahres zu sinken. Corona und der Shutdown des öffentlichen Lebens taten ein Übriges. Der Energieverbrauch brach ein, immer weniger Flugzeuge flogen, immer weniger Autos fuhren, und immer mehr Fabriken stellten ihre Produktion ein.
Im März stürzte der Ölpreis erstmals in der Geschichte ins Negative. Das bedeutete: Ölproduzenten zahlten Abnehmern Geld, weil die Speicher voll waren. Auch kurbelte der niedrige Ölpreis nicht, wie sonst, andere Sektoren an. Denn der ökonomische Stillstand durch die Pandemie war global.
In Odessa hängt alles vom Öl ab
Odessa ist von der Krise seither besonders stark betroffen. Die Stadt ist das, was Amerikaner eine „One-Industry“-Town nennen: eine Stadt, in der alles von einer Branche abhängt.
Wesley Burnett ist Leiter der Abteilung Wirtschaftsförderung bei der Handelskammer von Odessa.
Alles in Odessa hänge irgendwie mit Öl zusammen. Da sind die Firmen, die Geräte und Dienstleistungen zur Ölförderung und Ölproduktion vermieten – Bohrtürme, Pumpen, LKW. Außerdem Einzelhandel und Hotels, Bauunternehmer und Immobilienmakler, Anwälte und Steuerberater.
Und noch ein weiterer Faktor macht Odessa verwundbar für die Ausschläge des Ölmarktes, die Höhen wie die Tiefen: Hydraulic Fracturing, kurz: Fracking.
Fracking brachte Odessa eine neue Zukunft
Beim Fracking wird festes Schiefergestein mit einer Mischung aus Chemikalien, Wasser und Sand unter hohem Druck aufgesprengt, um das darin enthaltene Öl oder Gas aus der Erde zu holen. 80 Prozent des Rohöls im Permischen Becken werden heute mithilfe von Fracking gefördert, kombiniert mit der Methode des horizontalen Bohrens. Für Odessa sei das der Wendepunkt gewesen, sagt Burnett.
„Fracking hat uns die letzten beiden Boom-Phasen beschert. Ohne Fracking wäre unser Ölfeld vor gut zehn Jahren ausgeschöpft gewesen. Das hätte das Ende für die Stadt und die Region bedeutet. Doch dann kam Fracking, und die Technologie hat Odessa eine neue Zukunft gebracht. Jetzt haben unsere Ölfelder noch einmal 100 Jahre Leben in sich, mindestens. Und das haben wir dem Fracking zu verdanken.“
West-Texas wurde das Epizentrum des neuen Öls. Auch brachte der Fracking-Boom die USA dem Ziel ein Stück näher, unabhängig vom Öl aus dem Mittleren Osten zu sein – ein Ziel, das sich jede Regierung seit Richard Nixon auf die Fahnen geschrieben hat. Und tatsächlich wurden die USA im vergangenen Jahr erstmals zum Nettoexporteur von Öl und Gas.
Doch vor allem für kleinere, unabhängige Ölproduzenten – und sie stellen die Mehrheit der Unternehmen im Permischen Becken – ist Fracking erst ab einem Preis von etwa 50 Dollar pro Fass Rohöl profitabel. Zuletzt lag der Preis bei 40 Dollar. Fracking macht also preissensibel.
Nur wenig kritische Stimmen zu einem hochumstrittenen Thema
Hinzu kommt: Fracking ist hochumstritten. Klimaforscher mahnen seit Jahren vor den Folgen für Menschen und Planet, vor allem durch vergiftetes Grundwasser und die Emissionen von toxischen Treibhausgasen.
In Odessa findet man nur wenige kritische Stimmen zum Fracking. Eine davon gehört Gene Collins. Er ist Umweltaktivist, Versicherungsagent und Pastor. Im Viertel rings um seine kleine Kirche, der Highland and Bunche Church of Christ im Süden von Odessa, leben vor allem Afroamerikaner und Latinos. Flache Holzhäuser mit Wellblechdächern säumen die holprigen Straßen. In den Vorgärten stehen Plastikstühle in vertrocknetem Unkraut. Selbst am Abend sind es knapp 40 Grad.
„Was passiert wirklich beim Fracking? Bis heute habe ich keine zufriedenstellenden Antworten auf meine Fragen bekommen, wie die Chemikalien wirken, die beim Fracking eingesetzt werden. Was tun sie mit unserem Grundwasser? Als ich ein Kind war, hatten wir Wasser aus dem Hausbrunnen, und es war das beste Wasser in der Gegend. Heute kann man das Wasser aus den Brunnen an vielen Stellen nicht mehr trinken.“
Außerdem gebe es immer öfter Erdbeben in der Gegend.
„Manchmal sind es leichte Beben, aber in manchen Nächten muss man sich an den Wänden festhalten, weil das Haus so sehr wackelt. Das gab es hier nie zuvor.“
Collins kennt Argumente der Öl-Unternehmer: Dass Fracking sicher sei und der Grundwasser-Spiegel in der Region von den Bohraktivitäten nicht betroffen. Doch er will nicht schweigen. Collins ist Bezirksleiter der NAACP, einer der ältesten und einflussreichsten afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegungen.
„Ich habe viele Feinde. Aber ich habe gelernt, meine Meinung zur richtigen Zeit zu äußern. Ich sitze in vielen Kommissionen, aber nicht als Schaufensterdekoration. Ich gebe den Menschen eine Stimme, die nicht für sich selbst sprechen können. Und ich bin unabhängig, ich habe keine Aktien in Öl.“
Die Stadt, das Öl und das Virus. Rechts und links der Ausfallstraßen rund um die Stadt stehen vereinzelt Pumpjacks im kargen Weideland; die meisten stehen still. Der Wind lässt Knäuel aus Plastiktüten über den trockenen Boden taumeln.
Pandemie hat Auswirkungen auf die Stadt
Es sei mehr Verkehr als noch vor ein paar Wochen, sagt Monica Tschauner, die für das Fremdenverkehrsbüro in Odessa arbeitet. Sie kommt von hier und zeigt ihre Stadt gern.
Sie finde es frustrierend, wenn Leute abfällig über Odessa reden, sagt sie und schüttelt ihren üppigen braunen Haarschopf. Dass die Stadt hässlich sei.
Tschauner hält auf dem menschenleeren Parkplatz des Ratcliffe Stadium, ein Highschool-Football-Stadion, das 20.000 Besucher fasst.
Highschool Football ist eine ernste Sache in West-Texas. Das Team der Permian High School wurde durch das Buch und den Film „Friday Night Lights“ weit über Odessa hinaus bekannt. Viele Bewohner der Stadt hatten Statistenrollen. Doch der Ruhm ist inzwischen verblasst. In Downtown Odessa, entlang der Hauptstraße, werben das Sahara Motel, das Sunset Motel und das Imperial Hotel mit exotischen Namen und kostenlosem Internet um Kunden.
Vor der Krise waren die Hotels der Stadt fast immer ausgebucht. Viele der Arbeiter auf den Ölfeldern kommen meist nur für ein paar Wochen, leben dann in Hotels oder Containersiedlungen, den sogenannten Man Camps. Aber seit dem Fracking-Boom hätten sich immer mehr Menschen entschieden, in Odessa zu bleiben, sagt Tschauner.
Steigende Lebenshaltungskosten verstärken die Armut
Vor der Krise schossen in den Außenbezirken von Odessa zahlreiche neue Wohngebiete aus dem Boden. Die Häuser verkauften sich schnell, die Wartelisten waren lang.
Als Ölarbeiter könne man in Boom-Zeiten gutes Geld verdienen, sagt Tschauner. Aber die Lebenshaltungskosten seien so hoch, dass man selbst mit einem Jahreseinkommen von 80.000 Dollar nicht weit komme – vor allem, wenn man eine Familie habe.
In einem Industriepark im Norden von Odessa reiht sich an der Einfahrt zu einem großen Parkplatz Auto an Auto, die Schlange zieht sich bis weit auf die Straße. Zweimal in der Woche gibt es bei der West Texas Food Bank eine Drive-in-Lebensmittelausgabe für Bedürftige.
Der Staat Texas hat Unterstützung geschickt: Soldaten der Nationalgarde regeln den Verkehr, laden Kartons mit tiefgefrorenem Fleisch oder Fisch, mit Konserven, Nudeln, Kartoffeln und Brot, außerdem Orangen und Wassermelonen in Kofferräume.
Im Mai und Juni gab die Food Bank jeweils über 450.000 Kilogramm Lebensmittel aus, mehr als je zuvor in ihrer Geschichte. An manchen Tagen standen knapp 500 Autos in der Schlange.
Craig Stoker arbeitet seit fünf Jahren bei der Food Bank: „Wir sehen Menschen in Krisen, in Notsituationen. Wir wollen versuchen, die Ängste dieser Leute ein wenig zu lindern. Viele empfinden ja auch eine große Scham darüber, dass sie ihre Familie nicht ernähren können.“
John ist einer von ihnen. Er lehnt sich aus dem Fenster seines grauen Pickups. Ein Mann um die 60, mit verwittertem Gesicht und schütterem Haar. Sein neongelbes T-Shirt leuchtet aus dem Dunkel des Wageninneren.
„Ich habe so etwas noch nie erlebt“
John lebt seit 30 Jahren in Odessa, hat früher auch mal auf dem Ölfeld gearbeitet und den Beginn des Fracking-Booms miterlebt. Jetzt macht er verschiedene Jobs, lebt ansonsten von einer kleinen Erwerbsunfähigkeitsrente.
Aber derzeit arbeite niemand, alles sei geschlossen, sagt er. Er sei schon einige Male hier gewesen. Und wenn er Lebensmittel übrighabe, dann bringe er sie den Ölarbeitern in den Man Camps – denen, die noch da seien.
Craig Stoker und seine Kollegen tun sich schwer damit zu verarbeiten, was sie in den letzten Monaten erlebt haben. „Ich habe so etwas noch nie erlebt. Das hinterlässt Spuren. Wir sind nicht ausgebildet, um mit dieser Art von Trauma umzugehen. Wir wissen, wie wir Lebensmittelpakete packen und verteilen. Aber es ist etwas anderes, so unmittelbar die Verzweiflung auf den Gesichtern der Menschen zu sehen und die gleichen traurigen Geschichten zu hören, immer und immer wieder.“
Odessa wird auch diese Krise überstehen – und stärker daraus hervorgehen. Diesen Satz hört man hier häufig in diesen Tagen. Ein Mantra aus Trost, Trotz und dem „Texas Spirit“, dem legendären Unabhängigkeitssinn der Texaner.
„Texans are fiercely independent. We’ll get through this. And we’ll be stronger.“
Bürgermeister David Turner. Im Hauptberuf ist er Restaurantbesitzer. Ihm gehören sieben Subway-Sandwichläden in Odessa. In einem Hinterzimmer eines seiner Fastfood-Restaurants befindet sich sein Büro. Von hier aus führt er auch seine Amtsgeschäfte. „Odessa Strong“ steht auf der Schaufensterscheibe neben dem leuchtenden „Open“-Schild.
„Die Ölförderung wird zurückkommen. Die Branche liegt in den Startlöchern. Aber wir müssen abwarten, bis sich die Corona-Situation entspannt. Und mit COVID werden viele Arbeitsprozesse anders sein.“
Infektionszahlen schnellen in die Höhe
Die Pandemie habe direkte und indirekte Auswirkungen auf die Ölindustrie, so Turner.
„Wenn COVID zuschlägt, wird mit einem Schlag eine große Gruppe von Menschen aus dem Arbeitsprozess abgezogen. Wenn zum Beispiel eine Ölfirma an einem Bohrloch arbeitet – das sind manchmal 50 bis 60 Leute –, und einer von ihnen infiziert sich mit COVID, dann muss ein Unternehmen erst einmal die gesamte Bohranlage stilllegen.“
Seine Sorge ist berechtigt, denn die Infektionszahlen schnellen seit Ende Juni in Texas und in anderen Bundesstaaten rasant in die Höhe. Dennoch ist man sich in Odessa einig: Das Fracking wird wiederkommen, wann und in welcher Form auch immer. Eine Prognose, die viele Ökonomen teilen. Ray Hill ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Emory University in Atlanta.
„Das Öl ist im Boden. Es verschwindet nicht. Die Geräte sind da. Wir haben das mehrfach erlebt: Der Ölpreis fällt, Fracking-Unternehmen stellen ihre Arbeit ein. Einige kleinere Ölfirmen werden pleitegehen oder von größeren aufgekauft werden. Und wenn der Ölpreis wieder steigt und die Fracking-Firmen Profit machen können, werden sie zurückkehren.“
Hill hält es für möglich, dass sich das Verbraucherverhalten in den westlichen Industrieländern auch langfristig verändern werde – weniger Flüge, weniger Autofahrten.
Klimaaktivist hofft auf Umdenken
Auch Klimaaktivist Gene Collins erwartet, dass die Branche alles tun wird, um die Förderung von Rohöl – und damit auch Fracking – so schnell wie möglich wieder anzukurbeln. Aber vielleicht führe die Zwangspause ja dazu, dass neue, strengere Richtlinien verabschiedet werden. Und er hat noch eine weitere Hoffnung:
„Viele Menschen hier sagen: Wir sind von dem neuen Öl abhängig. Aber das stimmt gar nicht. Wir können Unabhängigkeit mit Solar- und Windenergie erreichen. Wir stehen noch ganz am Anfang, diese alternativen Energievorkommen zu erkunden.“
Tatsächlich stehen im Permischen Becken riesige Wind- und Solarparks. Immer mehr Ölunternehmen in der Region beziehen die Energie für ihre Rohölförderung aus Ökostrom. Weltweit ist der Staat Texas der fünftgrößte Erzeuger von Windkraft. Wesley Burnett von der Handelskammer in Odessa geht davon aus, dass erneuerbare Energien in Zukunft eine wichtigere Rolle für die Region spielen.
Er verzeichnet ein wachsendes Interesse bei Investoren. Und überhaupt sei es sinnvoll, dass sich die Wirtschaft der Region breiter aufstelle, sagt er, jenseits vom Öl.
„Aber man kann den Energiebedarf der Welt nicht allein mit Solar und Wind decken. Man braucht Kohlenwasserstoffe, vor allem Öl und Gas. Und Fracking ist der Schlüssel, um ausreichende Mengen zu produzieren – ob einem das nun gefällt oder nicht.“
Auch Ölmann Kirk Edwards ist überzeugt: Selbst wenn das Coronavirus die Stadt, das Land und die Welt noch eine Weile im Schwitzkasten habe und Saudi-Arabien erneut versuche, den Ölpreis zu steuern – Odessa wird ein Comeback erleben.
„We will survive, and that’s when this place will boom again.“
Sein Blick geht auf den Pumpjack hinter seinem Bürogebäude. Anders als die 10.000 Kilometer entfernte Hafenstadt in der heutigen Ukraine habe Odessa in West-Texas keinen Ozean zu bieten, nur Sand und Steppe. Edwards lächelt dünn. Hier gebe es vielleicht nicht den besten Ausblick, aber dafür habe Gott Odessa mit einem großartigen Ölfeld gesegnet.
„But God blessed us with an incredible oil field, the largest in the world.“
© Deutschlandfunk | Katja Ridderbusch