07. September 2020

In seinem 700-Seiten Werk „9/11. Der Tag, an dem die Welt stehen blieb“ erzählt der US-Journalist Mitchell Zuckoff die Geschichten der Menschen dieses Tages, der zum kollektiven amerikanischen Trauma wurde. Herausgekommen ist eine eindrückliche Collage unvollendeter Lebensentwürfe. 

Katja Ridderbusch · Mitchell Zuckoff - "9/11. Der Tag an dem die Welt stehen blieb"

Von Katja Ridderbusch

Wer den 11. September 2001 bewusst erlebt hat, dem sind ikonische Bilder in die Erinnerung gebrannt: der Moment, als das zweite Flugzeug in das World Trade Center flog; die Menschen, die aus den oberen Stockwerken in den Tod sprangen; der Feuersturm, der aus dem Pentagon aufstieg; der rauchende Krater auf einem Feld in Pennsylvania. Und Stunden später, die stählernen Skelette der eingestürzten Zwillingstürme, die sich surreal gegen Glut und Asche abzeichneten.

Doch immer mehr Nachgeborene kennen den Tag, der als 9/11 in die Geschichte einging, nur aus Büchern, Filmen, Erzählungen.  Und davon gibt es, fast 20 Jahre später, zahlreiche. Es gibt Archive, Museen, Gedenkstätten. Die Historisierung ist in vollem Gange.

Braucht die Welt also ein weiteres Buch über 9/11? Unbedingt, sagt Mitchell Zuckoff, dessen 700-Seiten-Werk jetzt auf Deutsch erschienen ist, im Interview mit dem US-Rundfunk.

Die Zahlen mit Namen und Geschichten verbinden

„Heute kämpfen junge Menschen in Afghanistan in einem Krieg, der nach 9/11 begann, aber sie haben keinerlei direkte Verbindung mehr zu dem eigentlichen Ereignis. Die Geschichte von 9/11 wird ja häufig auf Zahlen reduziert, vier Flugzeuge, 19 Entführer, 3000 Getötete.  Aber nur wenige Menschen verknüpfen diese Zahlen mit Namen.“

Mit Namen – und mit Gesichtern. Zuckoff, der als Journalist für den Boston Globe über den 11. September berichtete, will die Geschichten der Menschen von 9/11 erzählen und so dem Vergessen entreißen.  Dazu studierte er die Protokolle der Flugaufsichtsbehörde FAA, Abschriften des Funkverkehrs, Mitschnitte von Telefonaten. Er interviewte Überlebende und Angehörige der Getöteten. 

Zuckoff beginnt sein Buch ganz bewusst mit dem Tag davor, dem 10. September 2001, mit Momentaufnahmen aus dem Alltag der Menschen von 9/11.  Der Flugkapitän, der seiner Tochter bei den Mathe-Hausaufgaben hilft. Eine Offizierin der US-Army, die im Auto Gospelsongs schmettert. Eine Verwaltungsangestellte, die sich mit ihrer Schwester zum Schwimmen trifft.  Zuckoff:

 „Weil das zeigt, wer diese Menschen waren. Sie hatten ganz normale Hoffnungen und Träume. Für viele Angehörige und Überlebende war es schwerer, über den Tag davor zu sprechen als über den Ablauf von 9/11 selbst. Weil am 10. September das Leben noch schön war.“

Letzte Anrufe aus den entführten Flugzeugen

Es folgt ein umfassendes Kapitel über die Ereignisse des 11. September in der Luft. In schmuckloser Sprache und mit schmerzhafter Akribie beschreibt der Autor die letzten Minuten im Leben von Passagieren und Besatzungsmitgliedern. Einige benutzten Airfones – Telefone, die sich damals in vielen Flugzeugen befanden – um sich von ihren Familien zu verabschieden oder die Behörden zu informieren.

Zum Beispiel Peter Hanson, der seinen Vater in Connecticut tröstete, während er selbst mit seiner Frau und Tochter im Flugzeug dem Tod entgegenraste. „Keine Sorge, Dad. Wenn es passiert, geht es sehr schnell.“

Ausführlich beschreibt Zuckoff den Ablauf von United Airlines-Flug 93 auf dem Weg von Newark nach San Francisco. Dessen Passiere rebellierten gegen die Entführer und verhinderten damit vermutlich, dass die Maschine ihr Ziel, das Kapitol in Washington, erreichte. 

„Als United Flug 93 abhob und westwärts flog, befanden sich die Männer und Frauen an Bord in einer Art Schwebe, nicht wissend, dass die Welt bereits eine andere war. (…) Um 09:15, als die Zwillingstürme brannten, hatte Flug 93 bereits seit mehr als 10 Minuten seine Reisehöhe von 35.000 Fuß erreicht. Die Flugbegleiterinnen müssten bereits angefangen haben, die Passagiere zu verpflegen. (…) Alles schien normal.“

In den folgenden Kapiteln widmet sich Zuckoff den Ereignissen am Boden.  Da ist die Frau, die aus einem der oberen Stockwerke der Twin Towers sprang und wie durch ein Wunder noch bei Bewusstsein war, als sie auf dem Asphalt aufschlug. Sie hatte keine Chance zu überleben, rief aber einem vorbeieilenden Sanitäter zu: „Ich bin nicht tot.“ 

Oder Ron Clifford, der einer schwerverbrannten Frau in der Lobby zwischen den Türmern half – nicht wissend, dass seine geliebte Schwester und Nichte im zweiten Flugzeug saßen.

Akribische Chronik eines Traumas

Der Autor führt den Leser ins Pentagon in Washington und in die Kleinstadt Shanksville in Pennsylvania. Er beschreibt, wie Terry Shaffer, der Chef der freiwilligen Feuerwehr in Shanksville, die Lage am Absturzort von United Airlines 93 vorfand.

„(Terry) entdeckte Metallteile, die sich in Bäume gebohrt hatten, Kleidungsstücke in den oberen Ästen, und Schuhe, die leer sein mochten oder auch nicht. (…)  Zunächst wollte Terry die menschlichen Überreste nicht sehen (...), doch schon bald wies er seine Augen an, zwischen den künstlich hergestellten Gegenständen und den unzähligen Stücken verbrannten Fleisches, Knochen, Zähnen und Knorpeln im Gras zu unterscheiden.“

Die meisten dieser Geschichten sind schon oft erzählt worden. Doch in ihrer Stakkato-artigen Reihung und dokumentarischen Dichte sind sie besonders kraftvoll. Das Buch ist keine analytische Aufarbeitung der Terroranschläge von 9/11. Es geht nur am Rande um Politik, um politische Führer und um die Kriege, die die Welt danach aus den Angeln hoben.

Mitchell Zuckoffs Buch will vielmehr eine Chronik und Collage der Menschen entwerfen, die an diesem Tag zu Opfern aus Zufall und zu Helden aus Notwendigkeit wurden. 

Mitchell Zuckoff: 9/11. Der Tag, an dem die Welt stehen blieb. Aus dem Englischen von Tobias Schnettler. Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag, 2020, 704 Seiten, 28 Euro

© Deutschlandfunk | Katja Ridderbusch