16.  September 2020

Immer mehr Amerikaner suchen Halt bei humanistischen Seelsorgern. Dieser Trend reflektiert die steigende Zahl von Religionsfreien sowie von Menschen aus interreligiösen Familien in den USA. Doch für manche Christen sind die säkularen Helfer Abgesandte des Teufels.

Katja Ridderbusch · Trost ohne Gott: Humanistische Seelsorger in den USA

Von Katja Ridderbusch

Die garstige Geräuschtapete der Intensivstation. Der beißende Geruch von Desinfektionsmitteln. Das Gewirr aus Kabeln und Schläuchen vor bleichen Wänden. Kein Ort für Spirituelles. Doch Krankenhaus-Seelsorger sind es gewohnt, durch das aseptische Dickicht eine Verbindung zum Menschen zu knüpfen.

Die Corona-Pandemie hat die Arbeit von Seelsorgern sichtbarer gemacht, besonders in den USA, wo Covid-19 mehr Infizierte und Tote gefordert hat als irgendwo sonst auf der Welt. Aber es liegt nicht nur am medialen Fokus.

Auch zahlenmäßig suchen immer mehr Amerikaner die Nähe zu kirchlichen wie konfessionell ungebundenen Seelsorgern. Und das nicht erst seit Corona. Um mehr als 20 Prozent stieg die Nachfrage nach diesen spirituellen Helfern in den letzten zwei Jahren, laut einer Umfrage des Pew-Instituts.

Er habe den Eindruck, dass im Land eine Öffnung für religiöses Leben im Gange sei, sagt Gary Laderman, Religions- und Kulturhistoriker an der Emory-Universität in Atlanta im Gespräch via Zoom. Besonders in Zeiten von Angst, Leiden, Tod.

Steigende Nachfrage nach humanistischen Seelsorgern

Eine Gruppe, die von dieser Entwicklung besonders profitiert, sind säkulare, oder – humanistische – Seelsorger. Die gab es erstmals in der niederländischen Armee in den 1960er-Jahren.

Nach Angaben der amerikanischen Humanistischen Gesellschaft arbeiten in den USA heute gut hundert Humanisten als zertifizierte Seelsorger. Die meisten dieser „Humanist Chaplains“ sind in Krankenhäusern tätig, andere an Universitäten, wenige in Gefängnissen.

Benjamin Iten ist einer von ihnen. Er arbeitet an einem Klinikzentrum in Columbus, Ohio.

„Ich bin vor allem auf Intensivstationen tätig, habe Kontakt mit Patienten, Angehörigen, Mitarbeitern. Wie jeder Seelsorger versuche ich, emotionalen und spirituellen Beistand zu leisten. Der spezifisch humanistische Aspekt meiner Arbeit kommt bei Menschen zum Tragen, die der Existenz eines Gottes skeptisch gegenüberstehen.“

Iten, der ein Master-Studium in Judaistik und Theologie absolviert hat, erinnert sich besonders an einen Patienten. Der litt unter einer unheilbaren Krankheit und forderte eine aggressivere Behandlung als die Ärzte für sinnvoll hielten. Der Mann weigerte sich zunächst, mit einem Seelsorger zu sprechen, weil er fürchtete, dass der ihn bekehren wolle.

„Ich habe mich vorgestellt und gesagt: Ich bin ein humanistischer Seelsorger, ich glaube nicht an Gott. Und er sagte, prima, ich auch nicht.

Dann haben wir uns unterhalten, und es stellte sich heraus, dass der Mann nicht Angst vor dem Sterben hatte, sondern davor, seine Angelegenheiten nicht mehr rechtzeitig für seine Familie und Freunde ordnen zu können. Dabei habe ich ihm dann geholfen, und er starb kurz darauf, ruhig und menschenwürdig.“

Praktisch-irdische Hilfe also statt Spiritualität bei der Sterbebegleitung? Sicher, sagt Iten, aber er habe den Austausch mit dem Patienten auch als eine sehr spirituelle Konversation empfunden.

Missionieren gilt als Tabu

Die Nachfrage nach humanistischen Seelsorgern reflektiert einen doppelten Trend in den USA. Immer mehr Menschen fühlen sich keiner Religion zugehörig, und immer mehr kommen aus religiös gemischten Familien. Gary Laderman:

„In Zukunft werden deshalb auch diejenigen spirituellen Helfer eine stärkere Rolle spielen, die nicht einer eindeutigen religiösen Marke zuzuordnen sind, ob Methodisten oder Juden oder Tibetische Buddhisten. Weil immer mehr Menschen jenseits der konventionellen religiösen Gemeinschaften Räume für die Pflege ihre Seele suchen.“

Grundsätzlich seien Seelsorger – egal welcher Religion, Konfession oder Philosophie sie sich zugehörig fühlten – versiert im interreligiösen Dialog, sagt Gregory McGonigle, leitender Seelsorger der Emory-Universität. Missionieren gilt als Tabu.

Die meisten Seelsorger seien deshalb eigentlich humanistisch im Wortsinn, sagt er weiter. Weil sie den Menschen dort träfen, wo er gerade sei.

McGonigle selbst gehört der Unitarisch-Universalistischen Vereinigung an, einer liberalen Kirche in den USA.

Bevor er nach Atlanta kam, arbeitete er an der Tufts-University bei Boston und stellte dort den zweiten humanistischen Seelsorger einer amerikanischen Universität überhaupt ein – eine Antwort auf die wachsende Zahl von Studierenden, die sich als Atheisten oder Agnostiker identifizieren.

Den Anfang hatte Harvard in den 1970er-Jahren gemacht. Heute haben knapp zehn Universitäten in den USA einen humanistischen Seelsorger in ihrem Team.

Humanisten als Abgesandte des Teufels

Obwohl er persönlich an die Existenz eines Gottes glaube, sei er tief geprägt von humanistischen Ideen, sagt McGonigle, fühle sich als Verbündeter der Humanisten.

Doch humanistische Seelsorger haben auch Feinde, und zwar nicht wenige. Einige seiner Kollegen begegneten ihm mit Skepsis, sagt in Ohio der Humanisten-Kaplan Benjamin Iten. Doch nur ein Mal habe ihm einer unterstellt, ein Humanist könne diesen Job nicht machen.

„Und ich habe erklärt, warum ich das sehr wohl kann. Für mich als Humanist liegt Spiritualität darin, wie Menschen ihren Beziehungen zueinander Bedeutung geben. Gott spielt dabei keine Rolle, aber auch wir finden Sinn in unseren Geschichten und unseren Erfahrungen.“

Die USA seien noch immer eine tief religiöse Gesellschaft, sagt Historiker Laderman, und die Glaubenskriege zwischen konservativen Christen und progressiven Säkularen würden gerade jetzt im Präsidentschaftswahlkampf mit zunehmender Leidenschaft geführt.

„Viele konservative religiöse Gruppen sehen humanistische Seelsorger in einem finsteren Licht: nicht nur als Symptom der Säkularisierung, sondern geradezu als Abgesandte des Teufels, die die amerikanische Gesellschaft infiltrieren und korrumpieren – und von Gott entfremden.“

Seelsorge mit Harry Potter

Doch die Zeit dürfte für die Humanisten spielen, so Laderman. Vor allem die Jüngeren würden sich zunehmend an humanistische Seelsorger wenden.

Universitäts-Seelsorger McGonigle glaubt noch aus einem weiteren Grund an die Zukunft seiner säkularen Kollegen. Anders als klar definierte Glaubensgemeinschaften, die für feste Rituale und Orte stehen, schöpften Humanisten ihre Spiritualität aus vielen verschiedenen Quellen. In der Oper zum Beispiel oder im Yoga-Studio.

Deshalb sei humanistische Seelsorge auch flexibler, tue sich häufig leichter mit neuen Formen der Gemeinschaft, wie Online-Communities.

Bereits Jahre vor Corona haben die humanistischen Seelsorger Vanessa Zoltan und Casper ter Kuile – beide ausgebildet am Theologischen Seminar der Harvard-Universität – mit ihrem Podcast „Harry Potter and the Sacred Text“ eine große und treue Gefolgschaft gewonnen.

Und auch wenn das humanistische Projekt „Harry Potter und der heilige Text“ keine klassische Seelsorge ist – Benjamin Iten im Krankenhaus von Columbus ist überzeugt, dass er und seine Kollegen in Zukunft gefragter sein werden denn je.

„Wir sind mitten in einem Paradigmenwechsel. Wenn das gesellschaftliche Umfeld in den USA immer säkularer wird, dann dürften humanistische Seelsorger, die spirituell kreativ und flexibel sind, besonders gut aufgestellt sein, um diesen Wandel zu begleiten.“

© Deutschlandfunk | Katja Ridderbusch