19. September 2020
Bis zu zwei Drittel der Amerikaner könnten im November ihre Stimme per Briefwahl abgeben. Präsident Trump schießt sich auf die US-Post ein und behauptet, Briefwahl sei ein Rezept für Wahlbetrug. Experten widersprechen und betonen: Die wahren Gefahren für Wahlmanipulation liegen in Verunsicherung und Desinformation.
Von Katja Ridderbusch
Seit Wochen steht eine Institution unter politischem Beschuss, die zu den USA gehört wie die Eisenbahn und Mississippi-Dampfer: Der United States Postal Service, die amerikanische Post.
Sie ist in diesem Jahr besonders gefordert: Wegen der Corona-Pandemie könnten zwei Drittel der Wahlberechtigten im November ihre Stimmen per Briefwahl abgeben, laut einer Umfrage des Pew Instituts. 2016 waren es etwa 20 Prozent.
Doch Präsident Donald Trump sät Zweifel, ob die Post der Herausforderung gewachsen sei. Eine Finanzspritze von 25 Milliarden US-Dollar für die wirtschaftlich stark angeschlagene Agentur will er blockieren.
Briefwahl, sagte er, öffne Tür und Tor für Wahlbetrug.
„Mail-in voting is going to be catastrophic.”
Seither ist in den USA eine hitzige Debatte über Wahlmanipulation entbrannt. Die Demokraten und einige Republikaner werfen Trump vor, die Post zu destabilisieren, gar zu sabotieren.
Briefwahlbetrug ist selten, aber Briefwahl ist fehleranfällig
Ist Briefwahl tatsächlich ein Rezept für Wahlbetrug?
„No. It’s not.“
Nein, sagt Charles Stewart, Wahlforscher am Massachusetts Institute of Technology bei Boston.
“Large scale voting fraud is not something that’s been happening using mail ballots in American presidential elections.”
Betrug in großem Stil bei der Briefwahl habe es bei amerikanischen Präsidentschaftswahlen noch nie gegeben. Allerdings: Briefwahl sei fehleranfälliger als die persönliche Stimmabgabe, so Stewart weiter. Etwa drei Prozent der Briefwahlstimmen seien in der Regel ungültig. Das größte Problem:
„Die Leute machen Fehler beim Ausfüllen der Wahlunterlagen. Da kann ein winziger Kugelschreiberstrich auf dem Wahlzettel vom Scanner als doppelte Stimmabgabe gelesen werden. Manche Wähler vergessen, die eidesstattliche Erklärung zu unterschreiben. Oder die Leute schicken die Wahlunterlagen zu spät ab. All das wäre mit besserer Aufklärung zu beheben.“
Dann gebe es noch den bewussten Briefwahl-Betrug, sagt Stewart. Wenn jemand eine Unterschrift fälscht, zum Beispiel. Oder wenn Stimmzettel illegal gedruckt und verschickt werden, wie vor Jahren bei einer Bürgermeisterwahl in Miami.
„Systematische Briefwahl-Manipulation passiert jedoch meist nur auf lokaler Ebene, wo schon ein paar Hundert Stimmen einen Wahlausgang entscheiden können.“
Mehr ethnische Minderheiten unter den neuen Briefwählen
Der Streit um Risiken und Grenzen des Briefwahl-Betrugs hat jedoch eine tiefere politische Dimension. Im Juni trat der neue Generalpostmeister Louis DeJoy sein Amt an. DeJoy hatte in der Vergangenheit für Trumps Wahlkampf gespendet.
Der neue Postchef setzte umgehend Sparmaßnahmen in Gang: Tausende von Briefkästen wurden abgebaut, zahlreiche Sortieranlagen stillgelegt. Das Problem dabei sei der Zeitpunkt, nicht die Maßnahmen selbst, sagt Bernard Fraga, Politikwissenschaftler an der Emory-Universität in Atlanta.
„Viele Beobachter interpretieren diese Schritte als Versuch, Hürden für die Briefwahl aufzubauen, es schwieriger für die Leute zu machen, Wahlunterlagen pünktlich zu bekommen und abzuschicken, so dass ihre Stimmen gezählt werden.“
Zwar hat Postmeister DeJoy mittlerweile einen Teil der Sparpläne auf Eis gelegt. Doch die Debatte über die knapp 230 Jahre alte Behörde habe zu Verunsicherung unter den Wählern geführt, sagt Fraga.
„Historisch sind die meisten Briefwähler älter, weiß, wohlhabend und gut informiert. Die Pandemie dürfte dazu führen, dass deutlich mehr Menschen per Briefwahl abstimmen, darunter auch viele, die ethnischen Minderheiten angehören und sich nicht gut mit dem Wahlsystem auskennen. Die Sorge ist, dass einige dieser Leute am Ende gar nicht wählen gehen, weil sie dem System nicht vertrauen.“
Dabei handelt es sich vor allem um potenzielle Wähler der Demokraten.
Desinformation ist schlimmer als Briefwahlbetrug
Die Briefwahl ist allerdings nur eine kleinere Quelle für Wahlmanipulation und Wählerunterdrückung. Ein gängigeres Problem: die Debatte über Ausweispapiere von Wählern. Viele Menschen werden am Wahllokal abgewiesen, weil ihr Führerschein abgelaufen ist oder in einem anderen Bundesstaat ausgestellt wurde. Doch die Bestimmungen sind häufig nicht eindeutig.
Gezielte Desinformationen, die Zweifel, Frust und Verwirrung unter Wählern stiften, seien folgenreicher als ein überschaubarer Briefwahlbetrug, sagt Politikwissenschaftler Fraga.
„Das ist eine Art von Manipulation, die vor den Wahlen passiert, die sehr viel realistischer ist und die den Ausgang von Wahlen beeinflussen kann. Sie führt dazu, dass Menschen, die wählen gehen könnten, vom Gang an die Urne abgehalten werden. Es ist ein Versagen der Demokratie, wenn nicht die Stimmen aller Menschen gehört werden.“
© Deutschlandfunk | Katja Ridderbusch