25. Juni 2021
2020 war kein gutes Jahr für Polizisten in den USA: der Tod von George Floyd, die Proteste gegen Polizeigewalt, eine feindselige Öffentlichkeit. Immer mehr Polizisten leiden unter Burn-out, viele quittieren den Dienst. Polizeiseelsorger werden zu Stresstherapeuten. Die Polizei am Limit?
Von Katja Ridderbusch
Brookhaven ist eine Gemeinde nahe Atlanta im US-Bundessstaat Georgia. Es ist ein Spätnachmittag im Juni. Officer Brian Vaughan – 35 Jahre alt, groß, dunkle Uniform, die schwarze Sonnenbrille auf dem Kopf – ist hier als Streifenpolizist unterwegs:
„Ein Mann hatte Ladendiebstahl in einem Supermarkt begangen, er widersetzte sich der Festnahme und war bewaffnet. Als ich ihm schließlich Handschellen angelegt hatte, stand der Verkehr auf der fünfspurigen Straße still. Fußgänger hatten sich versammelt und ihre Mobiltelefone gezückt. Ich habe kein Problem mit Videoaufnahmen, aber ich habe das Gefühl, viele Leute warten nur darauf, dass wir einen Fehler machen.“
Was Vaughan in Atlanta erlebt hat, geschieht derzeit jeden Tag in jeder beliebigen Stadt in den USA. Nach mehreren spektakulären Fällen von weißer Polizeigewalt gegen schwarze Amerikaner explodierten die aufgestauten Spannungen im Frühjahr vergangenen Jahres, als in Minneapolis George Floyd unter dem Knie des ehemaligen Polizisten Derek Chauvin erstickte.
Eine Welle von Protesten schwappte über das Land, die Feindseligkeit gegenüber der Polizei erreichte ein neues Niveau. „All Cops Are Bastards“ – Alle Bullen sind Schweine – wurde mal wieder zum Schlachtruf. Nicht nur in den USA.
Das Jahr der Gewalt hat tiefe Spuren hinterlassen – mit Folgen auch für Moral, Motivation und mentale Gesundheit der Polizei. Immer mehr Polizisten leiden unter Burn-out, Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Das ergeben Erhebungen von Psychologen an der University of Buffalo in New York.
Polizeibehörden sind unterbesetzt
Mark Zimmerman kann das bestätigen. Er ist Gemeinderabbiner in Atlanta, arbeitet eng mit örtlichen Polizeistationen zusammen.
„Big Brother sieht die Polizisten – fast ununterbrochen und in Form von Bürgern, die mit ihren Handys filmen. Viele Polizisten fühlen sich schutzlos und unter Generalverdacht. Das ist ein riesiger Stressfaktor – zusätzlich zu den Herausforderungen der Polizeiarbeit. Die wenigsten Polizisten sprechen darüber. Aber wenn man in ihre Augen sieht, erkennt man da den Druck.“
Viele Polizisten haben in den vergangenen Monaten gekündigt, Polizeibehörden sind dramatisch unterbesetzt. So wie das Gewaltmonopol des Staates dadurch ins Wanken gerät, so schießt die Zahl der Gewaltverbrechen in die Höhe.
Scott Wolfe ist Professor für Strafjustiz an der Michigan State University. Die minutiöse kritische Beobachtung wirke sich nicht nur auf die mentale Gesundheit der Polizisten aus, sondern auch auf ihre Motivation und ihre Leistung, sagt er. Viele Polizisten verlören das Selbstvertrauen, hätten das Gefühl, dass alle sie hassen.
Seelsorger – ein Pol der Ruhe
Eine Situation, die auch Polizeiseelsorger auf den Plan ruft. In den USA arbeiten gut 800.000 Polizisten. Sie unterstehen der Zentralregierung, den Einzelstaaten, den Landkreisen oder Kommunen. Größere Polizeieinheiten haben festangestellte Seelsorger, einige davon sind selbst Polizisten.
Richard Hartman ist lutherischer Pfarrer und Chefseelsorger bei der Polizei von Fort Wayne in Indiana, einer Einheit mit 460 Polizisten.
„Als Seelsorger ist es unsere Aufgabe, präsent zu sein, als ein Pol der Ruhe – für die Bürger wie für die Polizisten. Wenn wir zu einem Tatort oder einer Unfallszene gerufen werden, oder wenn wir gemeinsam mit Polizisten eine Todesnachricht überbringen müssen. Intern helfen wir den Polizisten vor allem, indem wir zuhören.“
Dass Polizisten, insbesondere Streifenpolizisten, schweren psychischen und physischen Belastungen ausgesetzt sind, ist lange bekannt. Die Selbstmordrate bei amerikanischen Polizisten liegt über dem Bevölkerungsdurchschnitt. Der ständige Wechsel zwischen Tag- und Nachtschichten führt bei vielen zu chronischer Erschöpfung. Das kann die Leistungsfähigkeit beeinflussen und langfristig auch körperliche Folgen haben, von Herzkreislauferkrankungen bis zu Krebs.
„Zynismus ist weitverbreitet“
Auch posttraumatische Belastungsstörungen sind unter Polizisten weit verbreitet, sagt Oliver Fladrich, Polizei-Major in Dunwoody, einem Vorort von Atlanta. Fladrich ist geborener Deutscher und arbeitet seit 30 Jahren als Polizist in den USA.
Als Polizist sei man in fast jeder Schicht traumatischen Erlebnissen ausgesetzt, sagt er. Er und seine Kollegen sähen in einer Woche manchmal mehr Verbrechen, Elend und Tod als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben. Und einige täten sich schwer, das zu verarbeiten.
Eine besonders schwere Form des Burn-out ist das, was Psychologen „Depersonalisierung“ nennen: wenn sich jemand von seiner Umwelt und seinen Emotionen abkoppelt – und damit auch die Fähigkeit zur Empathie verliert. Polizisten sind davon häufiger betroffen als andere Bevölkerungsgruppen. Kein Wunder, meint Rabbi Zimmerman:
„Wenn man ständig den schlimmsten Aspekten des menschlichen Verhaltens ausgesetzt ist – und das ist bei Polizisten der Fall – dann kann das ein Weltbild schon ziemlich verzerren. Zynismus ist weitverbreitet unter Polizisten; die Einstellung, dass die Menschen es nicht wert sind, beschützt zu werden.“
Der Gang zum Psychologen ist verpönt
Neben Seelsorgern arbeiten bei größeren US-Polizeibehörden auch festangestellte Psychologen und Therapeuten. Sie helfen bei Trauma-Verarbeitung und Stressmanagement. Doch in der sogenannten „Cop Culture“, der Polizeikultur, gilt Verwundbarkeit häufig als Zeichen der Schwäche, sagt Kriminologe Scott Wolfe.
In diesem hyper-maskulinen Beruf psychologische Hilfe zu suchen sei bei vielen Polizisten noch immer verpönt. Zwar gingen die jüngeren Polizistinnen und Polizisten offener mit Fragen der mentalen Gesundheit um; dennoch werde es dauern, bis das vollkommen akzeptiert sei. Auch fürchten viele Polizisten arbeitsrechtliche Konsequenzen, wenn sie über ihre psychischen Probleme sprechen, sagt Wolfe.
Genau deshalb sei es so wichtig, dass Polizisten Netzwerke bilden, wo sie über ihre Sorgen sprechen können, sagt Polizei-Major Fladrich. Das sei ein altbewährtes Konzept – schließlich hätten schon die römischen Legionäre um das Lagerfeuer gesessen und über ihre Kämpfe gesprochen, die inneren und die äußeren. Ein Team zu haben gebe Kraft, sagt er.
Seelsorger könnten eine Mittlerrolle spielen, ergänzt Rabbi Zimmerman:
„Wenn man den Rat eines Geistlichen sucht, dann gibt man damit ja nicht zu, dass man ein psychisches Problem hat. Aber wenn man zu einem Therapeuten geht, ist das zumindest aus der Sicht vieler Polizisten mit einem gewissen Stigma behaftet.“
Dabei sei es egal, welcher Glaubenstradition ein Polizist angehöre, oder ob er überhaupt religiös sei, sagt Chaplain Hartman.
Seelsorger auf Streife
Brian Vaughan aus Atlanta hat in den 13 Jahren, in denen er als Polizist arbeitet, öfter das Gespräch mit Seelsorgern gesucht. Deren tröstender und heilender Ansatz habe ihm sehr geholfen, sagt er. Hartman hält es für wichtig, dass er und seine Seelsorger-Kollegen eng mit Polizeipsychologen zusammenarbeiten.
„Damit wir die gleiche Sprache benutzen, wenn wir mit den Polizisten sprechen. Auch die Botschaften von uns Seelsorgern müssen wissensbasiert sein. Nur so können wir den Polizisten glaubhaft vermitteln, dass psychische Gesundheit genauso wichtig ist wie körperliche Gesundheit, dass ein offener Umgang damit nichts ist, wovor man Angst haben muss.“
Die größte Hilfe, die Seelsorger in diesen Tagen Polizisten anbieten könnten, sei eine ganz praktische, sagt Hartman: regelmäßig mit ihnen Streife zu fahren.
„Bei uns sind die meisten Streifenpolizisten alleine unterwegs, sie können mit niemandem teilen, was sie erleben. Wenn sie zu einem Autounfall mit Toten und Verletzten gerufen werden oder einem Gewaltverbrechen, haben sie danach oft nur wenige Minuten Zeit, ihren Bericht zu schreiben – und müssen dann zum nächsten Einsatz. Wenn Seelsorger dabei sind, können wir den Polizisten helfen, das Erlebte zu sortieren, so dass sich all die traurigen Szenen nicht in ihrer Erinnerung anhäufen – und in ihrem Leben.“
Officer Brian Vaughan hat keine Zeit, um Momente von Furcht, Frust und Feindseligkeit zu sortieren – nicht jetzt, nicht heute. Sein Funkgerät spuckt Wortfetzen aus, er muss zum nächsten Einsatz. Und er wird alleine in seinem Streifenwagen sein.
„Ich versuche auszublenden, was ich nicht kontrollieren kann. Aber ich habe mich in letzter Zeit schon öfter gefragt: Ist es das wert? Welche Auswirkungen hat dieser Job auf mich und auf meine Familie? Trotzdem: In dem Moment, wo ich die Uniform anziehe, muss ich im Frieden sein mit dem, was ich tue.“
© Deutschlandfunk / Katja Ridderbusch