04. Mai 2020

Viele Menschen überstehen eine Covid-19-Erkrankung ohne Klinikaufenthalt. In offiziellen Statistiken gelten sie als genesen, doch viele haben weiterhin mit wiederkehrenden Symptomen zu kämpfen.

Von Katja Ridderbusch 

Als Anthony Nitsos vor einigen Tagen seinen Rasen mähte, fühlte er sich anschließend „wie vom Lastwagen überrollt“. Er war so erschöpft, dass er um halb neun am Abend ins Bett ging. Nitsos ist 57, freischaffender Finanzberater für Start-ups in Ann Arbor im US-Bundesstaat Michigan und im Nebenjob Yogalehrer. Vor acht Wochen erkrankte er an Covid-19. Es gehe ihm mittlerweile besser, sagt er, aber er sei „noch lange nicht wiederhergestellt“.

Ilya Noé, 46, mexikanische Perfomancekünstlerin und Kunstdozentin in Berlin, lebt seit sechs Wochen weitgehend isoliert von ihrem Mann in ihrem Arbeitszimmer in der gemeinsamen Wohnung in Berlin. Und zwar seitdem klar wurde, dass auch sie sich mit dem Coronavirus infiziert hatte. Sie fühlt sich noch immer krank, hat wenig Energie, ist nervös, traurig, reizbar. „Die einzige Gesellschaft, die ich im Moment habe, ist mein Kaktus“, sagt sie. 

Gaby Winter, 37, Marketingmanagerin in München, kämpft seit ihrer Covid-19-Diagnose vor mehr als fünf Wochen mit Husten und Fieber, beides kommt und geht. Solange sie nicht für mindestens 48 Stunden symptomfrei ist, darf sie ihre Quarantäne nicht verlassen. „Es ist wie eine Achterbahnfahrt“, sagt sie. Eine Achterbahnfahrt in einer gefühlten Endlosschleife. 

Sie können die Symptome einfach nicht abschütteln

Winter gehört nicht zu einer der Risikogruppen, bei denen eine Infektion mit dem Coronavirus eine besonders schwere Erkrankung auslösen kann. Auch Anthony Nitsos und Ilya Noé waren nicht besonders gefährdet. Und tatsächlich machten alle drei nur das durch, was Ärzte einen „milden Verlauf“ von Covid-19 nennen. Doch nun erweist sich ihre Genesung als zäh. Sie können ihre Symptome einfach nicht abschütteln. 

Die drei gehören zu der Gruppe von Patienten, die in Nachrichten und offiziellen Statistiken als Erfolgsmeldungen auftauchen – zu denjenigen, die Covid-19 überstanden haben, sogar ohne Klinikaufenthalt. Nach Angaben der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore im US-Bundesstaat Maryland gelten weltweit etwa eine Million Menschen als von Covid genesen – rund 124.000 in Deutschland, ebenso viele in den USA. 

Hinter den Erfolgsmeldungen verbergen sich oft Krankengeschichten mit noch offenem Ende. Die Gruppe der Patienten, die überlebt haben, aber auch nach Wochen nicht wieder richtig gesund sind, könnte größer sein als bislang angenommen. „Wir müssen den Stimmen von Coronavirus-Überlebenden mehr Aufmerksamkeit schenken“, forderte die Autorin Fiona Lowenstein in der „New York Times“. „Die gängigen Narrative erzählen zu selten von den langen und verschlungenen Wegen zur Genesung, die der akuten Erkrankung oftmals folgen.“

Nachdem die 26-jährige Lowenstein, bis dahin nach eigenen Angaben eine kerngesunde Yogalehrerin, Anfang März an Covid-19 erkrankte und einige Tage im Krankenhaus verbringen musste, gründete sie zusammen mit einer Kollegin eine Online-Selbsthilfegruppe für Covid-Überlebende. 

Das Projekt begann als kleiner Gruppenchat auf Instagram. Mittlerweile ist es auf die Plattform Slack umgezogen, hat mehr als 4000 Mitglieder aus aller Welt, mehrere Untergruppen und Kanäle. Es ist der Ort, an dem auch Anthony Nitsos, Ilya Noé und Gaby Winter ihre Erfahrungen austauschen. 

Zwei negative Faktoren

„Als Mediziner freuen wir uns, wenn Patienten eine Covid-Erkrankung überstehen, vor allem wenn es sich um einen schweren Verlauf handelt“, sagt Michael Wilson, Internist an der Mayo Clinic in Rochester im US-Bundesstaat Minnesota. Aber dann fange die wirkliche Arbeit erst an. „Wir beginnen erst zu verstehen, wie der Prozess der Genesung bei dieser Krankheit verläuft.“ 

Es gebe zwei Faktoren, von denen schon jetzt eine negative Wirkung auf den Verlauf von Krankheit und Genesung zu erwarten sei, sagt der Arzt: die Einsamkeit und die Angst der Patienten. Wer an Covid-19 erkrankt, ist meist ganz allein – selbst wenn er sich zu Hause auskuriert. Patienten müssen sich isolieren, den Kontakt zu Partnern, Kindern oder Mitbewohnern, soweit es geht, reduzieren, um niemanden anzustecken. Wer in die Klinik muss, sieht Familie und Freunde gar nicht mehr, private Besuche sind in den meisten Krankenhäusern untersagt.

Hinzu komme die Angst vor möglichen Langzeitschäden einer Krankheit, „die völlig neu ist, über die wir noch sehr wenig wissen“, sagt Wilson. Am Ende habe ein Covid-Patient die Infektion vielleicht überstanden, sei aber „mental beeinträchtigt, hat Angststörungen und leidet möglicherweise unter körperlichen Folgen wie andauernder Kurzatmigkeit“. 

Über Patienten, deren Zustand keine Einweisung ins Krankenhaus erfordert, gebe es „bislang so gut wie keine verlässlichen Daten“, sagt Wilson. Einer der Gründe ist, dass Betroffene vor allem in der Frühphase der Pandemie so gut wie gar nicht zum Arzt gehen konnten.

Nitsos wurde nicht getestet

Anthony Nitsos spürte die ersten Symptome am 8. März: Husten, Fieber, Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns. Fünf Tage später wurde seine Frau krank, noch ein paar Tage später ging es ihr so schlecht, dass der Hausarzt sie in die Notaufnahme schickte, von wo man sie sofort auf die Intensivstation verlegte. Dort wurde sie positiv auf Sars-Cov-2 getestet. 

Nitsos saß zu Hause mit zwei kleinen Kindern, und die Angst schnürte ihm die Luft noch weiter ab. „Ich durfte meine Frau nicht besuchen und war nicht sicher, ob ich sie wiedersehen würde“, sagt er. Seine Frau wurde inzwischen entlassen, doch bis heute fühlen sich beide ausgelaugt, angeschlagen, nicht gesund. 

Trotz der Diagnose seiner Frau und eigener Symptome wurde Nitsos nicht getestet – „weil ich nicht alt genug bin und keine Vorerkrankungen habe“. Er solle davon ausgehen, dass er Covid-19 habe, wurde ihm gesagt.

Er wisse nicht, ob er noch ansteckend ist. Und er wisse nicht, ob die anhaltende Schwäche und der Husten, der ihn bis heute plagt, Überbleibsel der Covid-Erkrankung oder vielleicht Symptome einer bakteriellen Zweitinfektion sind. Auch mental fühle er sich instabil, sagt er, er sei launisch, ungeduldig, empfindlich. Er versuche, viel Yoga zu machen, aber das tiefe Atmen falle ihm noch schwer. 

Noés Krankheit zog sich fünf Wochen hin

Ilya Noé hatte fast alle der bekannten Symptome von Covid-19: Halsschmerzen, Husten, Durchfall, Schwindel, Gliederschmerzen, Kopfschmerzen, außerdem einen ständigen „Druck auf der Brust und Nebel im Hirn“, erzählt sie. Und immer wieder Fieber. 

Die Künstlerin, die sagt, sie sei sonst fit und ohne Vorerkrankungen, hatte gehofft, die Infektion in 14 Tagen überstanden zu haben. Aber als sich die Krankheit hinzog, drei, vier, fünf Wochen, als die Kurve ihrer Genesung nicht linear verlief, „da dachte ich, ich bin entweder ein Freak oder eine eingebildete Kranke“, sagt sie. 

Zusätzlich sei sie auch psychisch noch sehr labil, erzählt sie. Kleine Probleme bei ihrer Arbeit werfen sie aus der Bahn: Sie streite mit ihrem Mann, der keine Symptome entwickelte und sorge sich um ihre Eltern, die in Mexiko-Stadt in Quarantäne leben und denen sie noch nichts von ihrer Erkrankung erzählt hat. 

Sie sei froh, die Online-Selbsthilfegruppe gefunden zu haben. Mit ihren Freunden spreche sie nicht besonders viel über ihre Krankheit. Weil die nicht recht verstehen, warum sie sich noch immer so schlecht fühle, warum sie niedergeschlagen und müde sei. 

Winter hatte einen Rückfall

Auch Gaby Winter aus München dachte, sie sei eine der wenigen, die sich schwer damit tun, gesund zu werden. „Und dann war ich überrascht, dass es Tausenden anderen ganz ähnlich ergeht.“ 

Zunächst sah es so aus, als sei die Mutter von zwei kleinen Töchtern mit einer leichten Infektion davongekommen. In der letzten Märzwoche entwickelte sie die typischen Symptome, vor allem trockenen Husten und Fieber, aber nach vier Tagen ging es ihr wieder gut. Ihr Mann wurde ebenfalls krank und erholte sich nach zwei Tagen. 

Doch dann hatte sie einen Rückfall, fühlte sich elend und schwach, hatte Schüttelfrost, verlor Geruchs- und Geschmackssinn. Ein Team des Münchner Gesundheitsamts kam zu ihr nach Hause und führte einen Test auf das Coronavirus durch. Eine Woche später kam die Bestätigung. 

Seither versucht sie, mit den ständigen Rückfällen zu leben. Jedes Mal seien die Symptome etwas schwächer, aber sie kommen immer wieder. Wenn sie gewusst hätte, wie lange sich die Krankheit hinziehen würde, „dann hätte ich mich mental darauf einstellen können“, sagt sie. „Aber diese Reise ins Ungewisse, ohne Endpunkt, das ist aufreibend und frustrierend.“ 

Wenn man Ärzte fragt, warum manche Patienten sich wochenlang mit Symptomen von Covid-19 herumschlagen, warum sie an einem Tag wieder Sport treiben können, am nächsten wieder mit leichtem Fieber zurück auf die Couch müssen, dann lautet die Antwort: Man weiß es noch nicht. 

„Als Mediziner lernen wir jeden Tag mehr über Covid, und wir lernen vor allem von denen, die die Krankheit überwunden haben“, sagt Michael Wilson von der Mayo Clinic. Man benötige systematische und umfassende Langzeitstudien von Covid-Überlebenden, um diese Frage beantworten zu können. 

Je schwerer der Verlauf der Infektion, desto langwieriger scheint häufig der Weg zur Gesundung zu sein. Patienten, die künstlich beatmet wurden, tun sich anschließend besonders schwer. Allerdings gibt es für diese Patienten auch die besten Vergleichsdaten. Warum auch die Genesung von leicht Erkrankten mitunter so zäh verläuft, kann bisher niemand erklären.

Wilson beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit langfristigen Krankheitsverläufen, insbesondere von Patienten, die mit akutem Lungenversagen, in der Fachsprache Acute Respiratory Distress Syndrome (ARDS), auf der Intensivstation behandelt wurden. ARDS ist die häufigste Komplikation bei Patienten mit schweren Covid-19-Verläufen. „Für viele dieser Patienten, mit oder ohne Covid, kann der Weg zur Genesung zäh und steinig sein“, sagt der Arzt. 

Die Mayo Clinic hat für die rund 200 Covid-Patienten, die bisher in einem der drei Zentren in Minnesota, Florida und Arizona behandelt wurden, ein „Covid Recovery Program“ entwickelt. Wer entlassen wird, erhält einen Pulsoximeter, der am Finger die arterielle Sauerstoffsättigung misst, ein Blutdruckmessgerät sowie als Leihgabe ein iPad. 

Alle paar Tage haben Patienten einen Online-Termin mit einer Krankenschwester oder einem Pfleger. „Auf diese Weise versuchen wir, mögliche medizinische Veränderungen, Einbrüche oder Rückfälle früh zu erkennen und darauf zu reagieren“, sagt Wilson.

Ein solches Programm steht den meisten Covid-Patienten nicht zur Verfügung. Anthony Nitsos, Ilya Noé und Gaby Winter haben ihre Hausärzte kontaktiert, via Telefon oder Videochat. Sie bekamen den Rat: Sobald sie sich besser fühlten, sollten sie ihre Blutwerte untersuchen lassen, um mögliche Folgeerkrankungen aufzuspüren, gegebenenfalls sei auch ein CT-Scan der Lunge sinnvoll. Warum die Genesung so zäh verlaufe? Die Ärzte in Ann Arbor, Berlin und München haben auf diese Frage keine Antwort.

Photo courtesy of Anthony Nitsos

© WeltN24 / Katja Ridderbusch