30. August 2021

Im Sommer 2020 schwappte eine Welle von Protesten gegen systemischen Rassismus und Polizeigewalt über die USA. Ein Jahr später suchen Kirchengemeinden von Atlanta bis Minneapolis noch immer nach ihrer Rolle in der großen Debatte über soziale Gerechtigkeit und eine antirassistische Gesellschaft. 

Katja Ridderbusch · Ein Jahr nach dem Tod von George Floyd: US-Kirchen zwischen Versöhnung & Politik

Von Katja Ridderbusch

Als im Sommer 2020, mitten im Jahr eins der Corona-Pandemie, eine Welle von Protesten gegen Rassismus, Polizeigewalt und soziale Ungleichheit über Amerikas Städte schwappte, waren Kirchenführer fast immer dabei. 

In Minneapolis, wo der gewaltsame Tod von George Floyd unter dem Knie des weißen Polizisten Derek Chauvin zum Katalysator einer neuen Antirassismus-Bewegung wurde. Oder in Atlanta, der Wiege der Bürgerrechtsbewegung – und der Stadt, wo drei Wochen nach Floyds Tod der Afroamerikaner Rayshard Brooks durch die Schüsse eines Polizisten starb.

Pastor David Jordan von der First Baptist Church of Decatur, einer progressiven Baptistengemeinde östlich von Atlanta, ging damals regelmäßig mit auf die Straße. 

„Meine Kollegen und ich haben uns unter die Menge gemischt,“ sagt Jordan. „Wir trugen unsere Stolen und hatten eine Vereinbarung mit der örtlichen Polizei getroffen: Die Beamten nahmen eine bewusst passive Rolle ein, und wir als Geistliche haben versucht dafür zu sorgen, dass die Atmosphäre friedlich blieb – einfach, um einen Ort zu schützen, an dem sich vor allem Afroamerikaner sicher fühlen konnten, ihre Stimmen zu erheben.“

In Jordans Gemeinde kommen weiße, schwarze und hispanische Gläubige zusammen, junge Familien und ältere Mitglieder. „Auch politisch ist bei uns das gesamte Spektrum vertreten,“ betont Jordan. Das sei faszinierend, sorge für vielfältige Meinungen und teilweise sehr hitzige Diskussionen. „Aber leider gibt es auch bei uns die traurige Tendenz, dass wir alle in unseren Echo-Kammern sitzen.“

Triggerwörter wie „systemischer Rassismus“ spalten die Gemeinden

Jordan, der weiß ist, ließ nach Floyds Tod am Eingang seiner Kirche ein Black-Lives-Matter-Banner anbringen. Daran stießen sich einige der konservativeren Gemeindemitglieder, wofür Pastor Jordan durchaus Verständnis hat. Denn es seien oftmals jene Trigger-Wörter, die die Spaltung vertieften – auf zwar beiden Seiten: Black Lives Matter, Blue Lives Matter, systemischer Rassismus, weiße Privilegien, Antirassismus. 

Er und seine Kollegen hätten versucht, in Predigten, offenen Briefen und Gesprächen diese Schlagwörter aufzuschlüsseln, so Jordan – oder ganz zu vermeiden und stattdessen die Konzepte dahinter zu erklären, sagt er. 

Wie am Beispiel der GI Bill, einem Bundesgesetz aus dem Jahr 1944. Das Gesetz erleichterte ehemaligen US-Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg den Wiedereinstieg ins Berufsleben – vor allem mit einer kostenlosen Collegeausbildung und günstigen Krediten für Selbstständige. Das Problem: Diese Leistungen standen nur weißen Kriegsveteranen zur Verfügung.

„Der Lebensweg eines ehemaligen weißen Soldaten, der eine Starthilfe von der Regierung bekommt, und der Lebensweg eines ehemaligen schwarzen GI, dem all diese Zuwendungen vorenthalten bleiben, könnten verschiedener nicht verlaufen,“ sagt Jordan. Das sei ein Grund dafür, dass das Wohlstandsgefälle auch in der Generation der Kinder und Enkel noch so groß ist. „Die GI Bill ist also ein Beispiel dafür, wie systemischer Rassismus aussieht und sich anfühlt.“

Wird das Gedenken an George Floyd zur Heiligenverehrung?

Von Atlanta im tiefen Süden der USA nach Minneapolis im Mittleren Westen. An der Kreuzung von Chicago Avenue und der 38. Straße zwingen bunte Betonbarrieren den Verkehr zum Schritttempo. Am George Floyd Square – so der inoffizielle Name - haben seit Mai vergangenen Jahres Aktivisten die Kontrolle übernommen, streiten derzeit mit der Stadt über eine schrittweise Wiederöffnung des Platzes.

Aus den Läden quillt Musik, Straßenhändler bieten „Black Lives Matter“ T-Shirts feil, rund um ein provisorisches Denkmal, eine große Faust aus Stahl, sitzen Menschen auf Picknickstühlen. Eine Frau steht mit einer Gruppe von Kindern an dem ehemaligen Tatort, ein Schrein auf dem Asphalt mit Blumen und Bildern und Kerzen. 

Etwa 150 Meter südlich auf der Chicago Avenue liegt die Calvary Lutheran Church. Über dem Eingangsportal prangt überlebensgroß das Konterfei von George Floyd. Eine Art Heiligenverehrung? Oder auch: Götzenverehrung? Kaum, sagt Pastor Hans Lee.

„In gewisser Weise ist George Floyd sicher zu einer überlebensgroßen Figur geworden, und das wäre nicht das erste Mal in der Geschichte, dass Leute zu Märtyrern gemacht werden,“ betont der Pastor. Aber es gehe ja nicht nur um Floyd. Dieser Ort – George-Floyd-Square – diene einer größeren Bewegung, bringe Menschen zusammen in der gemeinsamen Erfahrung von rassistischer Gewalt – und zwar in einer Weise, in der es vorher nicht geschehen sei.

Calvary ist eine progressive Kirchengemeinde mit größtenteils weißen Mitgliedern. Sie engagiert sich seit Jahren für soziale Gerechtigkeit und gegen Rassismus. Nach Floyds Tod habe seine Kirche die Rolle eines Alliierten der Black-Lives-Matter-Bewegung übernommen, sagt Lee.

Wir lassen uns nicht in den politischen Kampf hineinziehen, aber wir unterstützen die, die für mehr soziale Gerechtigkeit streiten – auch ganz konkret.“ So hätten Mitglieder seiner Gemeinde zum Beispiel haben über den ganzen letzten Sommer Wasser, Snacks, Masken und Desinfektionsgels an die Menschen am George Floyd Square verteilt. „Wir haben die Aktivisten begleitet, und wir haben zugehört,“ sagt Lee.

„Was ist die angemessene Antwort, wenn man Zeuge eines Mordes wird?“

Die Krawalle, die Plünderungen und die Gewalt, die in den Tagen nach Floyds Tod Minneapolis erschütterten, konzentrierten sich rund um das Dritte Polizeirevier, nur wenige Meilen vom George Floyd Square entfernt.

Angela Khabeb ist Pastorin der Holy Trinity Church, einer afroamerikanischen Kirchengemeinde nahe der umkämpften Polizeiwache. Ihre Kirche wurde zur Protestzentrale – und damit auch zum vorübergehenden Asyl für Gewalttäter.

„Was ist die angemessene Antwort, wenn man Zeuge eines Mordes wird“, fragt Khabeb. In den USA zähle das Leben eines Schwarzen noch immer weniger als der Besitz eines Weißen. Und solange das so sei, würden Ausschreitungen die Antwort sein. 

Khabeb erinnert sich genau an die Tage nach Floyds Tod. „Unser Viertel stand in Flammen. Holy Trinity wurde zur provisorischen Sanitätsstation,“ erzählt sie. Mitarbeiter der Kirche hätten sich um Aktivisten gekümmert, die Tränengas abbekommen hatten, die von Gummigeschossen verletzt wurden oder die einfach einen Moment der Ruhe brauchten. „Wir waren ein offener Raum für die Bürger.“

Allerdings nicht für alle. Am George Floyd Square warnen handgeschriebene Schilder: Cops Not Allowed – Bullen nicht willkommen. 

„Ich will Polizisten gar nicht dämonisieren,“ sagt Pastor Lee „Viele von ihnen kämpfen mit ihrem eigenen Trauma.“ Und er hätte auch kein Problem damit, in seiner Kirche ein Gesprächsforum mit Polizisten zu veranstalten. „Aber es reicht nicht zu zeigen, dass es auch gute weiße Polizisten gibt. Das wissen wir. Dieses Problem liegt tiefer, ist systemischer.“

Und deshalb gehe es um sehr viel mehr als nur um George Floyd und um Derek Chauvin, den Heiligen und den Sünder. Als Pastor hoffe er natürlich, dass Chauvin Vergebung und Erlösung in seinem Leben finde, sagt Lee.

Das Narrativ der zweiten Chance ist auch tief in der amerikanischen Kultur verwurzelt, eine Art zivilreligiöses Mantra. Doch Vergebung funktioniert nur, wenn der Gefallene zuvor öffentlich Abbitte leistet. Und Derek Chauvin hat bislang weitgehend geschwiegen. 

„Im Übrigen meine ich, dass es nicht die Aufgabe der Kirche ist, sich um Chauvins Seelenheil zu sorgen“, sagt Lee weiter. Es gebe so viele Menschen, die der Gnade und Vergebung bedürften. „Da sollte Derek Chauvin keinen Sonderplatz einnehmen.“

Die Kirche lädt zum Kaffee mit Cops ein

Auch in Atlanta, in der Kirchengemeinde von Pastor David Jordan, kann Amerikas meistgehasster Cop auf wenig Mitgefühl hoffen. Aber immerhin stehen die Chancen für seine Kollegen besser. Jordan will auch in Zukunft aktiv daran arbeiten, das Verhältnis zwischen seiner Gemeinde und der Polizei zu verbessern.  Ein Jahr nach dem Sommer der Gewalt hat Jordan auf dem Rasenplatz vor seiner Kirche zu einem lockeren Treffen mit den Mitgliedern der örtlichen Polizeiwache eingeladen – unter dem Motto: „Coffee with a Cop“. 

„Die Veranstaltung hat zwei Stunden gedauert, es waren etwa 100 Gemeindemitglieder dabei, auch Afroamerikaner“, sagt Jordan. Und fast alle Polizisten aus unserem Revier sind vorbeigekommen, das sind knapp 50.“ Auf dem Gelände seiner Kirche befinde sich eine Vorschule, die ethnisch sehr vielfältig sei. „Die Kinder waren neugierig, sie haben mit den Cops geredet und gemerkt: Das sind normale, nette Frauen und Männer, die eben Uniform tragen.“

Insgesamt war Jordan ein bisschen enttäuscht, dass das Interesse in seiner Gemeinde nicht größer war. Überrascht sei er allerdings nicht, sagt er.

„Aus der Sicht der Afroamerikaner kann ich das sogar verstehen. Sie denken, wir haben so lange   versucht, diese Art von Dialogen zu führen, und es hat wenig genützt.“ Im Übrigen sehe er eine große Gefahr: Die Menschen hörten auf, miteinander zu kommunizieren. Die Gräben seien so tief, dass die Leute kontroverse Themen komplett vermieden und nicht mehr über substanzielle Dinge sprächen, sagt er weiter. „Und ich bin genauso schuldig wie alle.“

Dennoch: Er wolle die Diskussion mit den Mitgliedern seiner Gemeinde auch über schwierige Themen am Leben halten, bewusst und behutsam, sagt Pastor Jordan. Das sei oft schwer, und es funktioniere nicht immer. Aber sie müssten es weiter versuchen.

© Deutschlandfunk / Katja Ridderbusch