15. März 2020
Seuchen-Thriller stehen in Zeiten des Coronavirus hoch im Kurs. Bücher und Filme spielen mit unserer Angst – und beeinflussen unser Verhalten in der aktuellen Krise.
Von Katja Ridderbusch
Arztpraxen und Notaufnahmen sind erst überfüllt und später verwaist. Schulen, Banken, Kinos und Restaurants schließen. Reisende werden fern der Heimat unter Quarantäne gestellt. Strom- und Wasserversorgung brechen zusammen, später auch das Mobilfunknetz. Geschäfte werden geplündert. Müll wird nicht mehr abgeholt. Städte werden zu Ödland. Zunächst scheint der Ausnahmezustand vorübergehend, dann wird er unbestimmt und schließlich chronisch. Die Menschen richten sich auf die Katastrophe ein.
Das klingt wie die dystopische Skizze einer möglichen Welt in Zeiten des Coronavirus – und seiner gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Kollateralschäden. Tatsächlich handelt es sich um ein Szenario aus dem Roman „In A Perfect World“ der US-Autorin Laura Kasischke.
Das Buch von 2009 beschreibt die Geschichte einer jungen Frau vor dem Hintergrund einer Pandemie. Die sogenannte Phoenix Flu ist eine antibiotikaresistente Form der Pest, die schleichend das Fundament der modernen Zivilisation zersetzt.
„Wenn wir auf die Geschichte schauen, dann erscheint es nahezu unmöglich, dass eine solche oder eine ähnliche Katastrophe nicht passieren wird“, sagt Kasischke, die als Dozentin an der University of Michigan in Ann Arbor kreatives Schreiben lehrt. Ein Gedanke, eine Gewissheit, die sie dazu bewegt hätten, den Roman über das Leben in Zeiten der Seuche zu schreiben.
Plague-Fiction, wie diese Form des Katastrophengenres in den USA heißt, ist seit dem Ausbruch von Covid-19 besonders gefragt. Amazon verzeichnet eine steigende Nachfrage von Büchern und Filmen über Pandemien. So schnellte der Thriller „Contagion“ mit Matt Damon von 2011 in den Filmcharts von Amazon Prime Video zuletzt nach oben.
Pandemien sind seit jeher ein populäres Thema in Kunst und Kultur. Die Werke lösen Angstlust aus und bieten eine Bühne für ethisch-moralische Fragen. Daniel Defoes „Die Pest zu London“ (1722), Edgar Allan Poes „Die Maske des Roten Todes“ (1842) und vor allem Albert Camus‘ allegorischer Roman „Die Pest“ (1947) gehören zu den Klassikern des Seuchengenres. José Saramago, Stephen King und viele andere Autoren haben Krankheitsausbrüche für ihre Plots benutzt. Die Katastrophenfantasien spiegeln stets das Unbehagen in einer sich rasant verändernden Welt.
Der Streamingdienst Netflix in den USA hat gerade den Viren-Thriller „Outbreak“ mit Dustin Hoffman wieder ins Programm genommen, ebenso wie die ursprünglich nur mäßig erfolgreiche TV-Serie „Containment“ von 2016. Zombie-Serien wie „The Walking Dead“ spielen genauso mit Motiven von Seuche und Ansteckung wie beliebte Computerspiele. Das Smartphone-Spiel „Plague Inc.“ von 2012, bei dem der Spieler einen Virus aussetzt, der die Weltbevölkerung infizieren soll, stand zuletzt in den Download-Charts ganz oben, bis es vom Markt genommen wurde.
„Pandemien stellen eine archaische, eine existenzielle Bedrohung dar, die wir nicht oder nur bedingt unter Kontrolle haben“, sagt Audrey Shafer, Ärztin und Leiterin des Medicine-&-the-Muse-Programms an der Stanford University in Kalifornien, eines interdisziplinären Studiengangs, der Medizin und Geisteswissenschaften zusammenführt. „Seuchen sind eine Bedrohung für uns als Individuen, für unser direktes soziales Umfeld und für die Menschheit insgesamt.“
Die dynamische Entwicklung einer Seuche – die Suche nach den Übertragungswegen, nach Methoden der Eindämmung, nach Impfstoff und all das im Wettlauf gegen die Zeit – enthalte „sehr viel Drama und Stoff für Fiktion“, sagt Shafer. Pandemien wirkten wie ein Vergrößerungsglas für zwischenmenschliche Konstellationen, sagt Romanautorin Kasischke. „Sie exponieren und betonen alltägliche menschliche Verhaltensweisen“ – die guten wie die fragwürdigen.
Zugleich prägten Infektionsfiktionen auch die Wahrnehmungsmuster ihrer Konsumenten, betont Sandro Galea, Infektionsmediziner, Epidemiologe und Professor für Public Health an der Boston University. All die bekannten Bilder von Forschern in gelben Schutzanzügen, entvölkerten Städten oder interaktive Landkarten, die sich mit der Ausbreitung der Seuche immer roter färben. Pandemien tragen tatsächlich nur einen geringen Teil zur globalen Sterblichkeitsrate bei. „Aber als scheinbar willkürlich auftretende Ereignisse verzerren sie die Risikowahrnehmung.“ Popkulturelle Verarbeitungen potenzierten diesen Effekt, sagt Galea.
Pandemiefiktionen können deshalb das Verhalten der Menschen bei realen Infektionsausbrüchen beeinflussen und Reaktionen befördern, die kontraproduktiv oder gar schädlich sind. Der enthemmte Ansturm der Öffentlichkeit etwa auf Atemschutzmasken. „Obwohl Wissenschaftler immer wieder betonen, dass diese Masken sehr wenig Schutz für die breite Öffentlichkeit bieten, aber von medizinischem Personal dringend gebraucht werden“, so Galea.
Er verweist auf eine Studie der Universität von Toronto, die im Nachklang zur Sars-Epidemie 2003 veröffentlicht wurde: Sie beschreibt, wie das kanadische Gesundheitssystem überrollt wurde – und zwar nicht in erster Linie von tatsächlich an Sars erkrankten Patienten, sondern von der hohen Zahl der eingebildeten Kranken. Der Mediziner sehe selbst gerne einen spannenden Seuchen-Thriller, räumt er ein, zuletzt „Contagion“. Dennoch: Der reale Aufklärungswert von Plague-Fiction sei gering, sagt er. „Und es ist auch nicht deren Aufgabe aufzuklären, sondern zu unterhalten.“
Stanford-Dozentin Audrey Shafer sieht die Rolle von Kunst in der Medizin als einen Weg, die Debatte anzuregen. Sie könne sich gut vorstellen, dass – wenn der akute Ausbruch von Covid-19 eingedämmt sei – das Medicine-&-the-Muse-Programm eine Seminarreihe zur Rolle von Seuchen in Literatur und Film anbieten werde.
Im Übrigen könne Fiktion auch besonders engagierte Ärzte schaffen, sagt sie. So schrieb der ehemalige Stanford-Medizinstudent Joshua Spanogle im Jahr 2006 den Seuchen-Thriller „Quarantäne“, der zum Bestseller wurde. Bei der Recherche entwickelte er eine solche Faszination für Infektionskrankheiten, dass er zusätzliche Kurse in diesem Fachbereich belegte. Heute arbeitet Spanogle als dermatologischer Chirurg in Jacksonville, Florida.
Ein Aspekt in nahezu allen Pandemiefiktionen habe besondere Relevanz für reale Krankheitsausbrüche, sagt Shafer: Xenophobie, soziale Ausgrenzung, Suche nach Sündenböcken. „Leider erleben wir das auch ganz aktuell im Zusammenhang mit dem Coronavirus.“ In Kalifornien ist die Zahl fremdenfeindlicher Übergriffe in den letzten Wochen angestiegen. Dort liegt der Prozentsatz asiatischstämmiger Amerikaner mit knapp 14 Prozent höher als überall sonst in den USA.
Viele chinesische Restaurants, Geschäfte und Schönheitssalons berichteten von Einbrüchen bei ihren Besucherzahlen. „Vielleicht kann die Kraft der Geschichten dazu beitragen, diese Vorurteile zu durchbrechen, Empathie für den anderen, den Fremden zu entwickeln“, setzt Shafer hinzu.
Die University of California in Berkeley scheint da weniger optimistisch. Deren Verwaltung versuchte in einem mittlerweile gelöschten Instagram-Post ihre asiatischstämmigen Studenten und Mitarbeiter zu beruhigen, in dem sie erklärte, Intoleranz und Vorurteile seien in Zeiten von Epidemien „normal“ und „weitverbreitet“. Die Geschichte liefert dafür traurige Belege – das antisemitische Stereotyp von den Juden als Brunnenvergifter während der Pestwelle im 14. Jahrhundert beispielsweise.“
Autorin Laura Kasischke recherchierte intensiv über Pestausbrüche, bevor sie ihren Roman „In A Perfect World“ schrieb. Kurz nach Veröffentlichung des Romans im Jahr 2009 brach die reale H1N1-Pandemie aus, häufig auch Schweinegrippe genannt. Sie fühle sich durch ihre Arbeit nicht besser oder schlechter für den Umgang mit realen Seuchen gerüstet, sagt Kasischke.
Das gelte auch für das Coronavirus. Allenfalls habe sie mehr Fragen. „Wir sind als Zivilisation vollkommen abhängig von Dingen, die so unvorhersehbar, so verwundbar, so endlich sind“, sagt sie. Wie gut seien die Menschen wirklich vorbereitet, wenn das Leben nicht mehr wie gewohnt weitergehe? Wenn das Stromnetz kollabiere oder das Internet?
Auch denke sie darüber nach, wie sich jeder Einzelne im Angesicht einer Pandemie verhalten würde. „Ich glaube nicht, dass wir vorhersagen können, wer von uns ein Held wäre und wer als Erster das Haus des möglicherweise infizierten Nachbarn in Brand setzen würde.“ Geblieben sei ihr von der Arbeit an ihrem Roman in erster Linie die Einsicht: „Das Sicherheitsnetz, auf das wir uns im Fall einer globalen Katastrophe verlassen, ist ein sehr, sehr dünnes.“
© WeltN24 | Katja Ridderbusch