14. März 2021
Der US-Sozialpsychologe James Pennebaker gilt als Begründer des therapeutischen Schreibens. Nun analysiert er, was Menschen in der Corona-Krise notieren – um so einen Einblick in ihre Psyche zu erhalten
Von Katja Ridderbusch
Schreiben kann Menschen dabei helfen, mit Trauma, Stress und Ängsten umzugehen. Der amerikanische Sozialpsychologe James A. Pennebaker, einer der weltweit führenden Experten seines Fachs, entwickelte in den 1980er-Jahren die Methode des expressiven Schreibens, die Therapeuten wie Selbsthilfegruppen in aller Welt nutzen. Mit seinem Team an der University of Texas in Austin hat Pennebaker ein Forschungsprojekt ins Leben gerufen: Die Wissenschaftler werten Aufzeichnungen aus, die Menschen in der Covid-19-Pandemie verfassen.
WELT AM SONNTAG: Schreiben als Seelenhilfe – funktioniert das auch in der Corona-Krise?
James Pennebaker: Wann, wenn nicht jetzt? Es ist der natürliche Reflex der Menschen, in Zeiten der Unruhe enger zusammenrücken. Aber genau das können wir während der Pandemie nicht, weil andere Menschen eine Gefahr darstellen. Unsere traditionellen sozialen Verbindungen sind gekappt – Verbindungen zur Familie und zu engen Freunden. Telefon und Zoom sind kein wirklicher Ersatz. Zum Schreiben dagegen brauchen wir nur uns selbst. Wenn wir etwas in Worte fassen, verändert es die Art, wie wir das Erlebtein unserem Kopf sortieren. Es hilft uns, von unseren Gedanken ein Stück weit zurückzutreten, sie in einem breiteren Kontext zu verstehen.
WELT AM SONNTAG: In Deutschland sind Termine bei Therapeuten derzeit schwer zu bekommen, in den USA können sich viele Menschen eine psychotherapeutische Behandlung nicht leisten. Kann Schreiben den Besuch beim Therapeuten ersetzen?
Pennebaker: Na ja, Schreiben ist in jedem Fall ein wunderbar einfaches, billiges und in der Regel auch sehr wirkungsvolles Instrument. Es lohnt sich, das auszuprobieren, egal ob man mit einem Therapeuten arbeitet oder nicht. Expressives Schreiben kann akute Hilfe leisten in Phasen, in denen wir aufgebracht sind, weil eine Beziehung gescheitert ist, weil wir eine Niederlage erlebt haben oder weil wir uns alleingelassen fühlen. Die Realität ist: Die meisten Leute gehen deshalb nicht zum Therapeuten. Zum expressiven Schreiben braucht es nicht viel. Man setzt sich 15 Minuten allein hin, drei oder vier Tage hintereinander, und schreibt die Dinge auf, die einen gerade belasten. Man muss nicht für den Rest des Lebens ein Tagebuch führen.
WELT AM SONNTAG: In Ihrer aktuellen Forschung „Pandemic Project“ analysieren Sie mit Ihrem Team, was Menschen in der Corona-Krise niederschreiben. Warum tun Sie das?
Pennebaker: Wir versuchen, über die Sprache Muster zu erkennen, wie sich der psychische Zustand und das Sozialverhalten der Menschen im Pandemie-Alltag verändert. Dabei arbeiten wir mit verschiedenen Methoden der Datenerfassung. Zum einen verschicken wir Fragebögen. Das ist eine sehr effiziente Methode, die aber auch teilweise blind machen kann. Weil sie sich allein auf Fragen konzentriert, von denen wir Wissenschaftler meinen, dass sie wichtig sind. Die Befragten haben vielleicht andere Prioritäten. Der andere Datensatz, den wir benutzen und auswerten, sind verschiedene Communitys auf Reddit (eine Social-Media-Plattform,Anm. d. Red.). Ich mag diese Methode, weil die Daten für sich selbst sprechen. Da kommen manchmal Themen hoch, die wir Forscher gar nicht bemerken würden, die der Computer aber sehr wohl registriert.
WELT AM SONNTAG: Gibt es Trends, die Sie besonders überrascht haben?
Pennebaker: Ja, zum Beispiel die Tatsache, dass der Aggressionspegel der Menschen in den ersten drei, vier Monaten der Pandemie relativ stabil war oder sogar gesunken ist. Wir hatten ja erwartet, dass Fälle von häuslicher Gewalt hochschnellen, der Alkoholmissbrauch zunehmen würde. Das ist dann später ja auch leider so gekommen, aber eben nicht am Anfang. Interessant war auch, wie stark die Black-Lives-Matter-Bewegung, die Proteste gegen soziale Ungerechtigkeit, in der amerikanischen Gesellschaft eingeschlagen sind. Das hatte sehr viel mit Covid zu tun. Die Probleme waren ja nicht neu, die Polizeigewalt, der systemische Rassismus. Aber der Tod von George Floyd war so öffentlich und drastisch, die Leute saßen zu Hause, saßen fest vor ihren Bildschirmen und konnten der Realität der Gewalt nicht entkommen. Da sind lang schwelende Konflikte explodiert. Übrigens gab es schon während der Grippepandemie 1918/1919 schwere Rassenunruhen in den USA. Die Parallelen sind ziemlich bemerkenswert.
WELT AM SONNTAG: Wie wird sich das Verhalten der Menschen nach der Pandemie ändern?
Pennebaker: Die Corona-Pandemie ist für jeden von uns eine einmalige Erfahrung – und für einen Sozialpsychologen wie mich eine einzigartige Feldstudie. Wir alle haben uns seit einem Jahr in unseren Häusern und Wohnungen vergraben. Und viele von uns haben gemerkt, dass das gar nicht so schlimm ist. Ich selbst arbeite eigentlich gern von zu Hause. Werde ich nach der Pandemie so viel reisen wie vorher? Werde ich so häufig zum Essen ausgehen? Werde ich so einfach mein altes Leben wieder aufnehmen? Wahrscheinlich nicht. Wir sollten uns jedenfalls auf interessante kulturelle Veränderungen einstellen.
Zur Person:
James Pennebaker ist einer der bekanntesten amerikanischen Sozialpsychologen. Er forscht und lehrt an der University of Texas in Austin im Grenzbereich von Linguistik, klinischer und kognitiver Psychologie und Computerwissenschaften. Sein bekanntestes Werk ist „Heilung durch Schreiben“.
Logbücher für die Forschung: Wissenschaftler in den USA erfassen systematisch Tagebucheinträge während der Pandemie. Sie analysieren, wie die Menschen auf die Krise reagieren – und erstellen gleichzeitig ein Archiv für künftige Generationen.
Von Katja Ridderbusch
Früh am Morgen, wenn es noch ganz still ist um sie herum, macht sich Helen McGill einen Kaffee, setzt sich an den Schreibtisch in ihrer Küche und beginnt, in eine Kladde zu schreiben. Für zehn Minuten oder eine halbe Stunde, selten länger. „Ich reflektiere über den zurückliegenden Tag und setze den Ton für den Tag, der vor mir liegt“, sagt sie.
Es ist ein Ritual, das Helen McGill, Yoga-Lehrerin und Ausdruckskünstlerin in Boise im US-Bundesstaat Idaho, seit vielen Jahren pflegt. Wie sie greifen immer mehr Menschen in diesen Zeiten zu einem Mittel, dessen positive Effekte wissenschaftliche Studien bestätigen: das Schreiben – mal als handschriftliche Aufzeichnungen in einem Tagebuch oder einem „Journal“, wie die Selbst-Chronik im Englischen heißt; mal als Notizen in einem digitalen Logbuch; mal als Niederschrift der eigenen Lebensgeschichte.
In den USA erleben Journaling-Plattformen wie Penzu, Diaro oder Journey derzeit einen Boom, ebenso Hersteller gebundener Notizbücher. Einen ähnlichen Trend in Deutschland bestätigt Silke Heimes, Ärztin und Professorin für Journalistik. Sie gründete 2007 das Institut für kreatives und therapeutisches Schreiben in Darmstadt. Seit Beginn der Pandemie erhält sie immer mehr Anfragen von Menschen, die nach schreibtherapeutischer Betreuung suchen.
Therapeuten empfehlen Patienten seit Langem, ihre Ängste, Zweifel oder Glücksmomente zu protokollieren. Neben dem expressiven Schreiben arbeiten Therapeuten auch mit anderen Formen, dem autobiografischen Schreiben oder dem kreativen Schreiben. Das Schreiben wirke dem emotionalen Kontrollverlust entgegen, sagt Silke Heimes. „Die Menschen erfahren: Sie haben die Macht, sich selbst zu helfen. Indem sie ihre Gefühle niederschreiben, bekommen sie Distanz dazu und können Einfluss darauf nehmen.“
Schreiben für Kinder und Enkel
In den USA hilft das Schreiben nicht nur bei der privaten Stressbewältigung, sondern dient mittlerweile auch der Forschung. Mehrere Projekte haben sich zum Ziel gesetzt, Corona-Journale zu dokumentieren und analysieren. Eines davon ist das „Pandemic Project“ an der University of Texas unter Leitung von James Pennebaker.
Ein anderes ist das „Pandemic Journaling Project" an der University of Connecticut. „Wir wollen den Menschen die Möglichkeit geben, ihre persönlichen Geschichten festzuhalten, für sich selbst, für ihre Kinder und Enkel“, so beschreibt es die Anthropologin Sarah Willen, die das Projekt mit ihrer Kollegin Katherine Mason von der Brown University in Rhode Islandleitet.
„Zugleich wollen wir ein historisches Protokoll erstellen, ein Archiv, das auch künftigen Generationen Einblick gewährt, wie der Alltag während der Corona-Krise aussah, das Chaos, die Verluste, die Hoffnungen.“ Eine Collage von Zustandsskizzen in Zeiten der Pandemie.
Interessant seien Fragen wie: Sind die Älteren, die Kriege durchlebt haben, widerstandsfähiger? Oder: Wie gestaltet sich der Pandemie-Alltag in anderen Ländern? „Anders als wir in den USA lebt meine Familie in Deutschland seit Dezember im Lockdown“, sagt Forscherin Sarah Willen, die mit einem Deutschen verheiratet ist. „Das sind sehr unterschiedliche Erfahrungen.“
Die Teilnehmer melden sich auf der Website an, es folgen ein paar Fragen zu Alter, Geschlecht, Wohnort, Ausbildung, Tätigkeit, Einkommen. Namen werden nicht abgefragt, aber die Nutzer können sich entscheiden, ob sie ihre Einträge – neben schriftlichen Posts können sie auch Audiodateien und Fotos hochladen – nur für die Forscher oder auch für die Öffentlichkeit einsehbar machen. Mitmachen kann jeder, der mindestens 18 Jahre alt ist und Englisch oder Spanisch spricht.
Mehr als 1300 Pandemie-Protokollanten aus mehr als 40 Ländern tragen inzwischen mit ihren Berichten zu dem Projekt bei. In den Einträgen der Teilnehmer spiegele sich viel Stress, Angst, Trauer, sagt Willen. „Das ist nicht überraschend.“
Überrascht habe sie vielmehr, dass sich bei einigen Schreibenden Dankbarkeit mit Schuld mische – zum Beispiel das Gefühl, „dass sie Sauerteigbrot backen können, während andere an der medizinischen Front arbeiten oder um ihre wirtschaftliche Existenz bangen“. Dabei handele es sich nicht nur um die Schuldgefühle wohlsituierter Amerikaner und Europäer. „Die Bemerkungen kommen auch von Menschen, die weniger privilegiert sind, von schwarzen und hispanischen Studenten beispielsweise oder von Familien aus unteren Einkommensschichten.“
Viele der Schreibenden berichten auch über die positive Wirkung des Schreibprozesses selbst. Der therapeutische Nutzen sei ein erfreulicher Nebeneffekt, betont Willen: „Aber es geht bei unserem Projekt nicht nur darum, dass die Menschen sich besser fühlen. Sondern auch darum, Geschichte zu dokumentieren.“
© Welt / Katja Ridderbusch