19. September 2021
Gerade ältere Patienten sind nach einer Operation häufig verwirrt und orientierungslos. Manche werden nie wieder sie selbst. Anästhesisten entwickeln Strategien, die das verhindern sollen.
Von Katja Ridderbusch
Atlanta – Francis Webber war 95, als er innerhalb weniger Stunden in eine Nebelwelt glitt. Der ehemalige Polizist aus der Kleinstadt Macon im US-Bundesstaat Georgia lebte bis zu diesem Tag allein, er las die Zeitung, stritt mit seinen Kindern und Enkeln über Politik. Dann hatte er einen Zwölffingerdarm-Durchbruch, wurde in die Klinik eingeliefert. Vor der Notoperation nahm die Anästhesistin Webbers Tochter zur Seite. „Heute stirbt kaum noch jemand auf dem OP-Tisch“, sagte sie. „Aber Sie werden Ihren Vater anders wiederbekommen.“ Die Ärztin hatte recht. Francis Webber überlebte die Operation. Aber von da an sprach er kaum noch. Er musste ins Pflegeheim und starb ein knappes Jahr später.
Laut einer Studie der Duke University in North Carolina sterben in den USA fünfeinhalb Prozent aller Patienten innerhalb eines Jahres nach einer größeren Operation. Die Sterberate bei Patienten über 65 Jahren liegt fast doppelt so hoch, bei 10,3 Prozent. Dabei sei das größte Risiko nicht der Eingriff selbst, sondern die Narkose, sagt Itay Bentov, Professor für Anästhesiologie an der University of Washington in Seattle und Vorstandsmitglied der US-Gesellschaft für Geriatrische Anästhesie, SAGA.
Diese Tatsache und die weltweite demografische Entwicklung hin zu einer schnell alternden Gesellschaft rücken einen Bereich der Anästhesie in den Fokus, der lange vernachlässigt worden ist: die Altersanästhesie, im Fachjargon „geriatrische Anästhesie“ genannt – die Narkose für Betagte und Hochbetagte.
Die Erkenntnis, dass ältere Menschen, ebenso wie Kinder, anders auf Narkosen reagieren als der durchschnittliche Erwachsene um die 40, sei seit Jahrzehnten bekannt, sagt Daniel Cole, Professor für Anästhesiologie an der University of California in Los Angeles (UCLA). Aber erst in den vergangenen zehn Jahren sei geriatrische Anästhesie ins Bewusstsein der Ärzte und der Politik gerückt, „weil die Menschen immer älter werden, dabei immer gesünder sind, aber auch immer mehr Operationen brauchen.“
Das Feld der Altersanästhesie hat seine Wurzeln in den USA. In Deutschland ist es noch wenig präsent, es gibt bislang nur einen Lehrstuhl für Gerontoanästhesiologie– am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Inhaber ist Rainer Kiefmann. In der Altersanästhesie liege „ganz klar die Zukunft unseres Fachbereichs“, sagt er.
Die häufigsten Folgeschäden der Narkosen bei älteren Patienten sind kognitive Beeinträchtigungen. Sie fallen vor allem in zwei Kategorien: Da ist zum einen das postoperative Delir, wenn Patienten verwirrt aufwachen. Die Symptome, die meist vorübergehend sind, variieren zwischen Ängstlichkeit und Aggressivität, Apathie und Halluzinationen. Oft stürzen Patienten in dieser Phase. Postoperatives Delir kann jeden Patienten befallen, aber ältere Menschen sind besonders häufig betroffen.
Seltener, schwieriger zu diagnostizieren und meist dauerhaft ist die postoperative kognitive Dysfunktion oder POCD. Sie zeigt sich durch einen subtilen Abbau der kognitiven Leistungsfähigkeit und geht bisweilen auch mit einer Persönlichkeitsveränderung einher. Häufig beginnt die postoperative Dysfunktion mit einem Delir.
Kann eine Narkose also Demenz verursachen? „Wir wissen es schlicht nicht genau“, sagt US-Anästhesist Cole. Aufgrund von Studien und seiner eigenen Erfahrung mit Patienten geht er davon aus, dass die Anästhesie allein kein auslösender Faktor ist. „Aber die Narkose in Kombination mit dem Stress der Operation kann eine beginnende Demenz beschleunigen.“
Die Gründe, warum ältere Patienten Vollnarkosen schlechter vertragen, seien vielfältig, sagt Bentov. „Aber sie alle haben eine Ursache: den Prozess des Alterns selbst.“ Ältere Menschen sind häufiger von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Schlaganfällen betroffen. Neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson könnten das Narkoserisiko deutlich erhöhen. Auch reagiere das Gehirn älterer Menschen „empfindlicher auf Narkosemittel“, ergänzt Anästhesist Cole.
Deshalb müsse der gesamte Prozess der Operation an die spezifischen medizinischen Bedürfnisse der älteren Patienten angepasst werden, sagt er. Geriatrische Anästhesisten empfehlen ein dreistufiges Modell, eine engmaschige Beobachtung und Betreuung vor, während und nach der Operation. Die Vorbereitung umfasst eine Batterie von Tests zur Erfassung des mentalen und körperlichen Status der Patienten. Neben einem kognitiven Test führen viele Kliniken den sogenannten Frailty-Test durch – eine Art Gebrechlichkeitsmessung. Diese versucht, den Grad von Mobilität, Muskelkraft und körperlichen Reserven eines Patienten zu erfassen; dabei spielen Aspekte wie Gewichtsverlust, Griffschwäche, schnelle Erschöpfbarkeit und Gangunsicherheit eine Rolle.
Auf der Basis der Ergebnisse wird der Patient auf den Eingriff und die Narkose gezielt vorbereitet. Drei Pfeiler müssen dabei berücksichtigt werden, sagt Itay Bentov von der US-Gesellschaft SAGA. „Der erste ist Bewegung – Ausdauer, Muskelkraft, Balance, Flexibilität.“ Der zweite sei eine ausgewogene, proteinreiche Ernährung. Der dritte umfasse die psychosoziale Komponente – und reiche von sozialer Stimulanz bis zu ausreichendem Schlaf, sechs bis neun Stunden pro Tag. Die Anästhesistin und Intensivmedizinerin Claudia Spies von der Berliner Charité betont, dass eine gute Vorbereitung nur interdisziplinär funktioniert: Anästhesie, Geriatrie, Neurologie, Chirurgie, Pflegedienst, aber auch Psychologen, Physiotherapeuten und Ernährungsberater müssten zusammenarbeiten.
Allerdings können ältere Patienten nur bei geplanten Operationen vorbereitet werden, etwa bei Hüft- und Knieersatz, Tumoroperationen oder bestimmten Eingriffen am Herzen. Bei Notoperationen wie beim Zwölffingerdarm-Durchbruch von Francis Webber aus Georgia geht das nicht. In diesen Fällen müssen die Ärzte während und nach der OP gezielt Maßnahmen einleiten, sagt Claudia Spies.
Gesucht: Ein Narkosemittel mit weniger Nebenwirkungen
Die Wahl des Narkosemittels spiele beispielsweise eine wichtige Rolle. Intuitiv scheine eine regionale Anästhesie die bessere und schonendere Wahl für ältere Patienten zu sein, sagt sie. „Aber das ist nicht immer der Fall.“ Wenn ein Patient sehr große Angst davor habe, die Operation bewusst mitzuerleben, brauche man so viele Medikamente zur notwendigen Beruhigung, dass eine Vollnarkose bisweilen sinnvoller sei.
Ein Narkosemonitoring, also die Überwachung der Hirnströme von Patienten mittels eines EEGs, hilft, die richtige Dosierung zu finden. Nach der Operation sei es wichtig, Patienten möglichst schnell zurück in die Normalität zu holen, sagt Itay Bentov. Das beginne damit, dass sie unmittelbar nach dem Aufwachen ihre Brillen und Hörgeräte benutzen können müssen. Sie sollten zügig aufstehen und sich bewegen und, wenn möglich, solle ein Familienmitglied bei ihnen sein.
An der Berliner Charité gibt es derzeit ein Erfolg versprechendes Pilotprojekt zu Vermeidung eines postoperativen Delirs: Als das Projekt 2017 startete, litten etwa 30 Prozent ihrer Patienten an dieser häufigen Komplikation, sagt Claudia Spies. „Bei den Älteren waren es noch mehr.“ Vier Jahre später liegt der Anteil bei elf Prozent. Dank der Vorbereitung der Patienten auf die Operation, der Überwachung und engen Betreuung nach dem Aufwachen sei der „Trend zum Delir klar abfallend, und das ist großartig.“ Flächendeckend werden Initiativen in Deutschland allerdings noch nicht umgesetzt. Es gibt aber Universitätskliniken, die Schwerpunkte in der Altersanästhesie eingerichtet haben, etwa an den Universitätskliniken in Hamburg, Aachen, Münster und München.
Auch in den USA geht es nur langsam voran: „Wir reden viel darüber, aber es passiert noch immer zu wenig“, sagt der SAGA-Vorstand Itay Bentov. Vor allem Kliniken in kleineren Städten und auf dem Land hätten weder Budget noch Personal für eine individuelle und ganzheitliche Betreuung älterer Patienten. Und auch bei der ärztlichen Ausbildung ist die geriatrische Anästhesie weder in Deutschland noch in den USA weit verbreitet. Immerhin hat die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin, DGAI, vor einiger Zeit eine Kommission zur Gerontoanästhesiologie gegründet, um sich mit dem Themenkomplex auch wissenschaftlich zu befassen.
Rainer Kiefmann, Deutschlands erster und bislang einziger Professor für Altersanästhesie, weist seine Fachkollegen auf die zunehmende Relevanz des Themas hin – angesichts der wachsenden Zahl älterer Patienten. „Wir müssen ein für alle Mal aufhören, uns als reine Narkosemacher zu sehen.“
Unterschätzte Gefahr der Überdosis
Narkosen sind, wie jüngere Studien zeigen, auch deshalb für ältere Patienten so gefährlich, weil sie häufig zu hoch dosiert werden. Da im Gehirn von Senioren Narkosemittel langsamer verstoffwechselt werden, können sie sich dort in gefährlichen Konzentrationen ansammeln. Untersuchungen haben ergeben, dass ältere Patienten deshalb in der Regel bis zu 25 Prozent weniger Narkosemittel benötigen. Eine genaue Überwachung der Dosierung der Anästhetika ist während der Operation nötig.
Für besonders problematisch halten Anästhesisten die Opioide, die die Schmerzen während der Operation ausschalten sollen. Forscher vermuten, dass durch Opioide toxische Reaktionen begünstigt werden, die dann wiederum das postoperative Delir auslösen können. Minimalinvasive Eingriffe sind oft die bessere Wahl für ältere Menschen, aber nur, wenn dafür nicht zu viele Beruhigungsmittel notwendig sind.
© WELT | Katja Ridderbusch