16. August 2018
Die Organisation Sojourn kämpft in den konservativen Südstaaten für Toleranz und sexuelle Vielfalt
Von Katja Ridderbusch
Wenn Rebecca Stapel-Wax mit ihrer Frau Jennifer in Midtown Atlanta unterwegs ist und dort, wo sich die 10. Straße mit der Piedmont Avenue kreuzt, über die Zebrastreifen in Regenbogenfarben schlendert, freut sie sich. Jedes Mal. »Das ist wunderschön und ein großartiges Gefühl«, sagt sie und lacht.
Doch zugleich ist ihr bewusst: Atlanta mag ein sicherer Hafen für Mitglieder der LGBT-Community sein, für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und alle, die nicht in die Kategorien der traditionellen Geschlechteridentitäten passen. In Atlanta mag sich die größte LGBT-Gemeinde der Südstaaten befinden und eine der größten in den USA. Aber Atlanta ist nur eine liberale Insel in einem Ozean aus erzkonservativen Bundesstaaten. »Daran werden wir immer wieder erinnert«, sagt Stapel-Wax.
DIVERSITY Rebecca Stapel-Wax ist Geschäftsführerin von Sojourn, dem Southern Jewish Resource Network for Gender and Sexual Diversity. Die Non-Profit-Organisation widmet sich der Erziehung, Aufklärung und Lobbyarbeit rund um die Themen LGBT und Geschlechtervielfalt – für jüdische Gemeinden und aus einem jüdischen Blickwinkel.
Der Standort – der amerikanische Süden – sei Segen und Fluch zugleich, sagt Stapel-Wax. Auf der einen Seite falle es vielen Menschen etwas leichter, die Arbeit ihrer Organisation zu akzeptieren, »ganz einfach, weil wir eine religiöse Perspektive mitbringen«, sagt sie. Selbst wenn viele Südstaatler, vor allem auf dem Land, nicht viel über das Judentum wüssten: »Der Glauben ist ein zentraler Faktor ihrer Identität und ihres Lebens.«
Auf der anderen Seite sei das politische und gesellschaftliche Klima im amerikanischen Süden intolerant, häufig feindselig gegenüber Angehörigen der LGBT-Community. Stapel-Wax verweist auf eine Reihe von Gesetzen, die in mehreren US-Bundesstaaten, zuletzt in North Carolina und Mississippi, erlassen wurden – und die unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit grünes Licht für die Diskriminierung von LGBT-Personen geben. So dürfen zum Beispiel Angestellte von Unternehmen und staatlichen Einrichtungen LGBT-Kunden »aus religiösen Gründen« abweisen.
ANFÄNGE Sojourn wurde 2001 gegründet, 14 Jahre bevor der Oberste Gerichtshof der USA die gleichgeschlechtliche Ehe auf Bundesebene legalisierte. Damals nannte sich Sojourn noch »Rainbow Center« und war Teil der gemeinnützigen Organisation »Jewish Family & Career Services« in Atlanta, die zum Netzwerk der Jewish Federations of North America gehört.
Vor fünf Jahren koppelte sich Sojourn ab, erweiterte seinen Wirkungsradius über Atlanta und den Bundesstaat Georgia hinaus. Die Mitarbeiter von Sojourn – die meisten sind Freiwillige – veranstalten Seminare und Workshops in Schulen, Synagogen und Gemeindezentren. Sie klären über gendergerechte Sprache auf, sprechen mit Vorschulkindern und deren Eltern über Geschlechterrollen und -stereotype, diskutieren mit Jugendlichen und Lehrern über Mobbing, Diskriminierung und Geschlechtervielfalt.
»All das hat auch mit zentralen jüdischen Werten zu tun«, betont Stapel-Wax, die Psychotherapeutin ist und seit 2004 für Sojourn arbeitet. »Es geht darum, einem Menschen die Möglichkeit zu geben, sich zu entwickeln, frei, in Würde und ohne Erniedrigung.«
Laut Schätzungen identifizieren sich zwischen drei und zehn Prozent der amerikanischen Bevölkerung als LGBT – bei Juden sind die Zahlen ähnlich.
Sojourn veranstaltet auch Workshops zum Thema Selbstmordprävention. »Das ist ein riesiges Problem in der LGBT-Community«, sagt Stapel-Wax. 41 Prozent aller Transgender-Personen in den USA haben bereits einmal versucht, sich das Leben zu nehmen, verglichen mit zehn bis 20 Prozent der Schwulen und Lesben. Die Ursache liege eindeutig im sozialen Stigma, sagt Stapel-Wax.
Schließlich widmet sich Sojourn noch einer anderen, für die jüdischen Gemeinden sehr zentralen Frage: der Vereinbarkeit von LGBT mit den Texten von Tora und Talmud. Deren Interpretation und Auslegung bestimmt, ob und in welcher Weise die verschiedenen jüdischen Gemeinden und Bewegungen in den USA das Thema LGBT aufgegriffen und die Menschen, ihre Werte und ihren Lebensstil akzeptiert haben. Oder eben nicht.
ABLEHNUNG Atlanta hat eine lebendige jüdische Gemeinde, die größte im amerikanischen Süden. Bis heute hält sich vor allem in orthodoxen Gemeinden ein hartnäckiger Widerstand gegenüber Homosexualität, vor allem unter Männern. Als Begründung führen jüdische Autoritäten zwei Verse aus der Tora an. Im 3. Buch Mose 18,22 heißt es: »Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Gräuel.« An anderer Stelle heißt es: »Wenn jemand bei einem Mann liegt wie bei einer Frau, so haben sie getan, was ein Gräuel ist, und sollen beide des Todes sterben; Blutschuld lastet auf ihnen« (20,13).
In diesem Sinne sehen viele jüdische Gelehrte in der Homosexualität eine Todsünde. Allerdings streiten sich die Rabbiner darüber, wie diese Gebote im Einzelnen auszulegen sind, ob es um homosexuelle Beziehungen an sich geht oder um den eigentlichen Geschlechtsakt zwischen Männern, insbesondere den Analverkehr. Entsprechend verschieden fällt der Umgang jüdischer Gemeinden in den USA nicht nur mit Homosexuellen, sondern mit der LGBT-Community insgesamt aus.
In Los Angeles wurde 1972 die erste amerikanische Synagoge für Schwule und Lesben gegründet: Beth Chayim Chadashim. Heute richtet sich die Reformsynagoge an die gesamte LGBT-Community.
Als erste jüdische Gemeinde öffnete die rekonstruktionistische Bewegung, eine betont progressive Strömung, ihre Rabbinerseminare 1984 offiziell für schwule und lesbische Studenten. Wenige Jahre später folgte das Reformjudentum, dem die meisten jüdischen Amerikaner angehören.
Auch konservative Gemeinden haben sich, wenngleich erst später, der LGBT-Community geöffnet und unterstützen heute die Ordination von Transgender-Rabbinern und -Kantoren.
Das orthodoxe Judentum lehnt insbesondere Homosexualität als unvereinbar mit der Halacha ab. Doch haben sich in den vergangenen Jahren eine Reihe sehr aktiver Graswurzelbewegungen für die Integration von LGBT in den orthodoxen Gemeinden gegründet. Darunter sind Organisationen wie Eshel und die Jewish Queer Youth (JQY).
Die New Yorker Stiftung JQY richtet sich an alle jüdischen LGBT-Jugendlichen, spricht aber besonders Teenager aus dem orthodoxen Milieu an. Diese Jugendlichen seien mit einer »seltsamen Form von Homophobie konfrontiert«, sagt Gründer Mordechai Levovitz. Ihre Familien übten oft moralischen Druck auf die Kinder aus. »Sie sagen: Wir haben kein Problem damit, dass du schwul oder trans bist, aber die Gemeinde wird deine Schwester oder deinen Bruder bestrafen, und dein Vater wird seinen Job verlieren.«
KOOPERATION Rebecca Stapel-Wax und ihre Kollegen wollen in ihren Seminaren einen alternativen Blick auf die alten biblischen Texte werfen, die, so die Aktivistin, häufig als eine Art ideologische Waffe gegen Mitglieder der LGBT-Community benutzt würden. Da sei zum Beispiel die Schöpfungsgeschichte. Der Mensch, den Gott »nach seinem Bild« erschaffen habe, sei »eigentlich eine intersexuelle Person«, erklärt Stapel-Wax.
In Zusammenarbeit mit der Organisation »Trans Torah«, einem Netzwerk von Rabbinern, Kantoren und Toralehrern, stellt Sojourn in Seminaren und auch online außerdem die sechs Geschlechter vor, die in alten Texten, vor allem in Mischna und Talmud, immer wieder erwähnt werden.
Neben »sachar« (männlich) und »nekeva« (weiblich) nennen die Texte ferner »Androgynos« (mit männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen), Tumtum (von unbestimmtem Geschlecht), Aylonit (jemand, der bei der Geburt als weiblich identifiziert wird, aber später männliche Geschlechtsmerkmale entwickelt) und Saris (jemand, der bei der Geburt als männlich identifiziert wird und später weibliche Geschlechtsmerkmale entwickelt).
Sie und ihre Kollegen wollten niemandem ihre Interpretation aufdrängen, betont Stapel-Wax. »Es geht uns auch nicht darum, die Halacha zu ändern.« Im Gegenteil: »Wir wollen das jüdische Recht bekräftigen und stärken, die Tatsache, dass jedes Leben Respekt verdient.«
Mehr als 12.000 Menschen hat Sojourn in den vergangenen fünf Jahren geschult. Es gebe immer wieder Seminarteilnehmer, die ablehnend reagierten, sagt Stapel-Wax, »und zwar aus allen religiösen Lagern, nicht nur unter den Orthodoxen«. Aber den meisten helfe die Informations- und Aufklärungsarbeit, Skepsis und Furcht abzubauen.
Sie führt ihre persönliche Familiengeschichte als Beispiel an. Stapel-Wax wuchs in einem politisch liberalen und religiös konservativen Elternhaus in der Nähe von Boston auf. Als sie ihr Coming-out hatte, brach ihre Schwester den Kontakt weitgehend ab, aus religiösen Gründen.
THERAPEUTIN Rebecca Stapel-Wax heiratete (vor nunmehr 26 Jahren) und zog nach Atlanta, wo ihre Frau Jennifer ihr Psychologiestudium und die Ausbildung zur Therapeutin beendete. Das Paar hat zwei Söhne, 13 und 14 Jahre alt. Seit einigen Monaten nähern sich die Schwestern wieder an, es gab lange Gespräche und schließlich einen Besuch. Eine Geschichte mit gutem Ende. »Ich bin dankbar für das Geschenk der Zeit«, sagt Stapel-Wax.
Dieses Geschenk weiß sie auch in ihrer Arbeit zu schätzen. »Als ich bei Sojourn anfing, haben uns nur wenige Leute überhaupt zugehört«, erinnert sie sich. Das änderte sich schnell, ebenso wie die Haltung der Gesellschaft gegenüber der LGBT-Community. Nicht nur hören die Teilnehmer den Referenten der Sojourn-Seminare heute aufmerksam zu. »Sie stellen auch viele Fragen«, sagt Stapel-Wax.
Jahrelang seien sie und Jennifer auf dem Absprung gewesen, hätten unbedingt aus Atlanta wegziehen wollen. »Der Süden ist nicht gerade ein einladender Ort für LGBT-Personen«, sagt sie. Aber mittlerweile seien sie entschlossen zu bleiben. Wegen der großen und engagierten jüdischen Gemeinde in Atlanta. Wegen des warmen Wetters. »Aber vor allem, weil wir hier gute Arbeit tun können, wichtige Arbeit.« Und ein bisschen auch wegen der Zebrastreifen in Regenbogenfarben. www.sojourngsd.org
© Jüdische Allgemeine / Katja Ridderbusch