13. November 2018

Die prominente Holocaustforscherin Deborah Lipstadt hat ein Buch über den „Neuen Antisemitismus“ in Amerika und Europa geschrieben – die Ursachen, die Richtungen, die Unterschiede. Im Gespräch wirft sie auch einen kritischen Blick auf die Rolle linksgerichteter Kirchengemeinden in den USA.

Von Katja Ridderbusch

Deborah Lipstadt hätte sich nicht träumen lassen, dass ihr neues Buch so schnell so brandaktuell sein würde.

„Little did I dream that they would be of such magnitude as what we saw in Pittsburgh.“

Knapp eine Woche, nachdem ein Rechtsextremist in einer Synagoge in Pittsburgh elf Menschen erschoss, kam in Deutschland das Buch der prominenten Holocaustforscherin auf den Markt: „Der Neue Antisemitismus“.

Lipstadt, die an der Emory-Universität in Atlanta lehrt, beginnt ihr Buch mit einem Exkurs zu den Ursprüngen des Antisemitismus.

Christlicher Antijudaismus und antisemitische Stereotype

„Die historische Schablone findet sich in den Beschreibungen von Jesu Tod im Neuen Testament. Generationen von Kirchenführern haben die Geschichte immer so erzählt, als hätten „die Juden“ Jesus getötet. Sie hätten es getan, weil er verlangt habe, dass die Geldwechsler aus dem Tempel vertrieben würden. Dieser christlichen Doktrin zufolge wurde Jesus gekreuzigt, weil er unter anderem die Macht der Juden und ihren Wohlstand bedrohte.“

Klassische antisemitische Klischees, sagt Lipstadt, die seither auch weit jenseits christlicher Einflusszonen wirksam sind.

„Certainly, when Marx writes about Jews it wasn't Christian.“

Etwa wenn Karl Marx über die Juden schreibt. Oder in der Eugenik und ihrer radikalen Form, der sogenannten Rassenlehre der Nationalsozialisten. Und auch von Muslimen sei christlicher Antijudaismus übernommen worden. Aber all diese Elemente gingen auf dieselben uralten Stereotype zurück, sagt Lipstadt: Juden sind schlau, Juden sind manipulativ, Juden sind reich.

„Jews and money, Jews are rich, the Jewish lobby, whatever it might be.“

Das neue Buch der Historikerin ist teils Analyse, teils Erfahrungsbericht, teils Handlungsanweisung. Lipstadt, Jahrgang 1947, hat die Öffentlichkeit – und das öffentliche Kreuzfeuer – noch nie gescheut. Ihr spektakulärer Prozess gegen Holocaust-Leugner David Irving im Jahr 2000 hat es sogar nach Hollywood geschafft. „Verleugnung“ heißt der Film.

Antisemitismus in den USA und Europa

Ihr neues Buch hat Lipstadt als fiktiven Email-Austausch angelegt – mit der jüdischen Studentin Abigail und dem nicht-jüdischen Kollegen Joe. Beide wollen das Wesen des sogenannten neuen Antisemitismus ergründen.

Seit 2017, so die Anti-Defamation League, hat sich die Zahl antisemitischer Vorfälle in den USA mehr als verdoppelt.

Auch wenn sich Judenhass in Europa und Amerika aus derselben Quelle speise, so gebe es doch auch eine Reihe von Unterschieden, betont die Autorin.

„Für Juden in Europa gab es eine Vorgeschichte: Die Wellen von Verfolgung. Das Leben im Ghetto. Das schrittweise Erlangen von bürgerlichen Rechten. Dieses „Vorher“ gab es in den USA so nicht.“

Aber auch das Wesen des Antisemitismus selbst trage in den USA tendenziell andere Züge als in Europa, sagt Lipstadt.

„In den USA reiht sich der Antisemitismus ein in eine Reihe von Diskriminierungen, vor allem Rassismus gegen Schwarze und gegen amerikanische Ureinwohner. Antisemitismus in den USA war immer Teil dieser toxischen Mischung. In Europa dagegen verlief der Antisemitismus über viele Jahrhunderte entlang der scharfen historischen Trennlinie zwischen Christen und Juden.“

Der Alltag für Juden in den USA wird sich ändern

Die USA gelten gemeinhin als das einzige Land außerhalb Israels, in dem sich Juden sicher und selbstverständlich bewegen können. Das habe sich auch nach dem Massaker von Pittsburgh nicht grundsätzlich geändert, meint Lipstadt.

„Juden fühlen sich in den USA noch immer sicher. Aber das alltägliche Leben wird sich ändern, es wird mehr sein wie in Europa, wie in Berlin, Brüssel oder Paris, wo die Synagogen von Polizisten bewacht werden und die Männer statt Kippot lieber Baseballkappen tragen. Das wird wohl auch bei uns die neue Normalität sein.“

Antisemitismus komme heute aus drei Richtungen, sagt die Forscherin. Von rechts – von Neonazis und weißen Nationalisten. Von links, wo Antisemitismus gerne als Israelkritik getarnt wird, und – vor allem in Europa – von islamischen Extremisten.

Besonders dem linken Antisemitismus widmet Lipstadt in ihrem Buch viel Raum. Sie verortet ihn vor allem in bürgerlich-intellektuellen Milieus. Im Zentrum stehen die Anhänger der als antisemitisch geltenden Boykott-Israel-Bewegung BDS.

Antisemitismus in linksliberalen US-Kirchen

In Deutschland trifft die BDS-Bewegung auch in kirchlichen Kreisen auf Sympathie, besonders in Organisationen, die der protestantischen Kirche nahestehen. Lipstadt – übrigens eine erklärte Linksliberale – hat Ähnliches in den USA beobachtet.

„Wir sehen das in den Kirchen, den linksgerichteten Kirchen. Da gibt es eine tiefsitzende Feindseligkeit gegenüber Israel, die sich in allen möglichen antisemitischen Klischees ausdrückt. Aber wenn man diesen Kirchenvertretern vorwirft, sie seien antisemitisch, wehren sie sich aufs Heftigste.“

Deren Argument sei stets das gleiche, sagt Lipstadt: Sie seien progressiv, sie kämpften gegen Rassismus, Diskriminierung und Unrecht. Und könnten somit gar nicht antisemitisch sein.

„Sie sehen die Welt durch ein Prisma, durch zwei Scheiben: Die eine ist ethnische Zugehörigkeit, und die andere ist Klasse. Diese Leute sehen also Juden, und sie sehen überwiegend weiße und wohlhabende Menschen, obwohl es natürlich in der Realität auch sehr viele arme oder nicht-weiße Juden gibt. Und sie sagen sich: Ihr seid weiß, ihr seid nicht unterprivilegiert, worüber beschwert ihr euch?“

Am anderen Ende des politisch-religiösen Spektrums in den USA stehen die evangelikalen Christen. Ihr Verhältnis zu Juden ist ambivalent, meint Lipstadt.

„Viele evangelikale Christen unterstützen aus theologischen Gründen den Staat Israel und das jüdische Volk. Weil sie in Israel die Wiederkehr Christi erwarten. Und viele fühlen sich dem Land ehrlich verbunden.“

Zugleich stehen die meisten Evangelikalen treu zu Präsident Trump. Aus politischem Kalkül, sagt Lipstadt. Weil Trump auf dem besten Weg sei, Kernanliegen evangelikaler Christen umzusetzen: Etwa, wenn er Richter für den Obersten Gerichtshof ernennt, die als stramme Abtreibungsgegner gelten.

„The price is those shady waters.“

Der Preis sei trübes politisches Fahrwasser. Auch wenn Trump selbst wohl kein Antisemit sei, sagt sie, so habe er doch Antisemiten, Rassisten und weißen Nationalisten eine Art präsidialen Freibrief zum Hassen gegeben.

„They have a stamp of approval from the highest levels.“

Der „Salon-Antisemit“

Lipstadt zeichnet in ihrem Buch eine Typologie der Antisemiten: Da sei der Extremist, der Steigbügelhalter, der Salon-Antisemit und der ahnungslose Antisemit. Sie alle machten ihr gleichermaßen Angst, schreibt Lipstadt. Aber als besonders hinterhältig empfindet sie den Salon-Antisemiten.

„Der Typus ‚höflicher Antisemit‘ sät die Verachtung unter jenen, die wirklich Schaden anrichten können. Und diese Leute tun es auf eine Weise, die es besonders schwer macht, ihrem Antisemitismus entgegenzutreten und ihn zu bekämpfen.“

Deborah Lipstadt wäre nicht Historikerin und nicht Hochschullehrerin, wenn sie ihr Buch – und unser Gespräch – nicht beenden würde mit einer Botschaft aus der Vergangenheit für die Gegenwart:

„Das ist eine der Lehren aus meinen Recherchen für das Buch: Beim Antisemitismus geht es nicht nur um Juden. Denjenigen, die Antisemitismus bekämpfen, möchte ich sagen: Bekämpft ihn nicht aus Mitgefühl für die Juden. Bekämpft ihn aus Eigeninteresse. Denn eine Gesellschaft, in der sich Antisemitismus und andere Vorurteile einnisten, ist keine gesunde Gesellschaft. Es beginnt häufig mit dem Juden, aber es endet nicht mit den Juden.“

Deborah Lipstadt: Der neue Antisemitismus. Aus dem Amerikanischen von Stephan Pauli. Berlin-Verlag, 2018, 304 Seiten, 24 Euro

© Deutschlandfunk / Katja Ridderbusch