25. Januar 2020
Der jüdische Klimaaktivismus gewinnt an Fahrt. Auch in Amerika engagieren sich vor allem die Jungen.
Von Katja Ridderbusch
Es sei nicht so, dass es einen Mangel an Bedrohungen für Juden überall auf der Welt gebe, sagt Rabbinerin Katy Allen. Da ist allen voran der wachsende Antisemitismus – von rechts, von links, aus der bürgerlichen Mitte und vom radikalen Islam. Da ist die instabile politische Lage im Nahen Osten, die eine Gefahr für Israel darstellt. Und da ist die wachsende Armut in Teilen der jüdischen Diaspora, selbst in den USA, wo Allen lebt.
Doch die größte Bedrohung von allen sei eine, die nicht nur, aber auch Juden betreffe: die rasant eskalierende Klimakrise. »Wenn die jüdische Gemeinschaft sich nicht um die Zukunft unseres Planeten sorgt, können wir uns gleich vom Judentum verabschieden«, sagt Allen. Denn: »Es gibt keine Zukunft für das Judentum, wenn es keinen Planeten mehr gibt, auf dem wir leben können.«
Katy Allen ist Mitgründerin und Leiterin von JCAN – kurz für Jewish Climate Action Network –, einem losen Bündnis jüdischer Klimaaktivisten mit derzeit knapp 1000 Anhängern. Außerdem ist sie Rabbinerin von Ma’yan Tikvah (Quelle der Hoffnung), einer offenen, alternativen jüdischen Gemeinde in Boston. »Hier versammeln sich Familien, die bewusst keiner Synagoge angehören, aber dennoch die Erfahrung jüdischen Gemeindelebens und jüdischer Traditionen teilen wollen«, erklärt Allen.
GRASSROOT Der jüdische Klimaaktivismus in den USA hat seit einigen Jahren angezogen. Neben JCAN ist vor allem die Jewish Earth Alliance aktiv, eine Grassroots-Organisation, die nationale Lobbyarbeit in der Umwelt- und Klimapolitik betreibt. Und seit Neuestem »Dayenu – Genug!«, eine Organisation, die mit einer Million Dollar Startkapital ausgestattet ist und Klimaaktivismus mit dem Kampf für soziale Gerechtigkeit verbindet.
In den vergangenen Jahren haben auch viele Synagogen Arbeitsgruppen für Klima- und Umweltfragen gebildet, Reformgemeinden häufiger als konservative oder orthodoxe. Doch das Engagement verlaufe quer durch das religiöse Spektrum, betont Allen.
So gebe es zum Beispiel eine konservative Gemeinde nahe Boston – Temple Aliyah –, die auf dem Dach ihrer Synagoge eine der größten Solaranlagen der Region installiert habe, betont die Rabbinerin.
Nur in vielen Charedi-Gemeinden halte sich der Widerstand gegen Klimaaktivismus noch immer hartnäckig. Ähnlich wie evangelikale Christen betrachten viele Ultraorthodoxe das Engagement für den Klimaschutz als Eingriff in Gottes Plan.
UMFRAGE Wie stark jüdische Amerikaner tatsächlich im Klimakampf engagiert sind, ist zahlenmäßig schwer festzumachen. Laut einer Umfrage des renommierten Pew-Instituts nimmt die Zahl der Juden in den USA, die regelmäßig in die Synagoge gehen, ab.
Doch sind Synagogen und Gemeindezentren häufig der einzige Ort, um Juden als geschlossene Zielgruppe überhaupt zu erreichen. Deshalb arbeitet JCAN auch intensiv mit Synagogen zusammen – »ganz einfach, weil das der direkteste Weg ist, Juden zu finden«, sagt Allen.
Sie würde gerne auch mit anderen jüdischen und nichtjüdischen Organisationen und Lobbygruppen Verbindungen knüpfen, »aber dazu fehlt uns im Moment noch die Kapazität«. Fast alle Aktivisten bei JCAN sind Freiwillige.
Das Netzwerk, 2013 gegründet, verfolgt einen breiten Ansatz. Rabbinerin Allen nennt diesen Ansatz »holistische Nachhaltigkeit«, und die reicht von praxisorientierten Seminaren mit Tipps für einen klimafreundlichen Alltag – darunter Initiativen zur Ausstattung von Synagogen und Privathäusern mit LED-Beleuchtung, Reduzierung von Plastikmüll oder Einsparen von Wasser – bis hin zur politischen Lobbyarbeit für eine radikale Reduzierung des CO2-Ausstoßes.
Allen hat früher als Seelsorgerin in Krankenhäusern gearbeitet, betreute nach dem Anschlag auf den Boston-Marathon im Frühjahr 2013 traumatisierte Menschen. Heute bezeichnet sie sich selbst als »Eco Chaplain«, als Öko-Seelsorgerin. In ihrer offenen Gemeinde, Ma’yan Tikvah, hält sie regelmäßig Gottesdienste im Freien. »Wir gehen spazieren. Wir beten und meditieren. Wir sitzen zusammen und diskutieren über Passagen aus der Tora.«
So wie viele Reformjuden beruft sich auch Katy Allen auf das Prinzip Tikkun Olam – das Streben nach der Reparatur der Welt und des Kosmos. Doch ihre Verbindung zur Natur, zur Erde, zu Luft und Wasser gehe tiefer, sagt sie. Sie sei verankert in der jüdischen Theologie und in den Schriften, in Tanach und Talmud.
VORBILDER Eines ihrer Vorbilder ist Rabbiner David Mevorach Seidenberg, der im Jahr 2015 ein wegweisendes Buch zu dem Thema geschrieben hat: Kabbalah and Ecology. Wenn die Klimakrise einen kritischen Punkt erreiche, schreibt der Autor, dann »werden wir eine Schwelle überschreiten – von dem Gefühl, von der Natur umgeben und geschützt zu sein, hin zu der Erfahrung, dass Natur etwas Gewalttätiges und Grausames ist, die wörtliche Entsprechung des biblischen Fluches über die, die das Land nicht ruhen lassen«.
Und er zitiert aus dem 3. Buch Mose 26,19, wo Gott droht, »dass ich euren Stolz und Halsstarrigkeit breche; und will euren Himmel wie Eisen und eure Erde wie Erz machen«.
Fast alle biblischen Geschichten seien »tief in dem Land – konkret im Land Israel, aber tatsächlich überall auf der Erde und in der Natur verwurzelt«, sagt Allen, sei es jene Stelle, in der Stammvater Jakow seinen Kopf auf einen Stein bettet, in einen Traum gleitet und Gottes Stimme hört, oder die Passage über den brennenden Dornbusch, in dem Gott dem Propheten Mose erscheint und ihm aufträgt, das Volk Israel aus Ägypten zu führen.
In der Bibel ist die Natur ein Instrument, das Gott zur Strafe – wie die zehn Plagen, die Ägypten heimsuchen – oder zur Belohnung – das Heilige Land für das Volk Israel – einsetzt.
»Ich weiß schon, dass das ein Stereotyp ist: die Juden als Volk der Bücher«, sagt Jamie Margolin und lacht. »Aber mein Vater ist genauso ein typischer jüdischer Nerd.« Jamie Margolin ist 18 und besucht die Highschool in Seattle im US-Bundesstaat Washington. Sie ist Gründerin von Zero Hour, einer Gruppe von jugendlichen Klimaaktivisten in den USA, die mittlerweile rund 100.000 Anhänger hat.
Margolin ist das amerikanische Pendant zur schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg, mit der sie im September vergangenen Jahres gemeinsam vor dem US-Kongress zur Klimakrise sprach.
Durch all die Fernsehdokumentationen, Sachbücher und Wissenschaftsmagazine, die ihr Vater zu Hause neben seiner Arbeit als Maschinenbauingenieur anschaute, las und in sich aufsog, habe sie überhaupt erst erfahren, was mit dem Klima passiere, sagt Jamie Margolin. »Dieser Wunsch, immer mehr zu lernen und zu wissen – das war sehr prägend, sehr nachhaltig für mich.« Und so begann sie, als sie 14 war, sich als Klimaaktivistin zu engagieren.
Margolins Mutter stammt aus einer christlichen Familie in Kolumbien, doch die Tochter identifiziert sich als jüdisch, »reformjüdisch«, betont sie. Ihre Urgroßeltern väterlicherseits wanderten während der Pogromwelle zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Russland in die USA aus. »Ich habe als Kind ein bisschen Hebräisch gelernt, hatte Batmizwa, und ich gehe manchmal in die Synagoge.« Aber religiös sei sie nicht, eher eine Kulturjüdin.
Keine Frage, Tikkun Olam sei ein Motto, das sie bei ihrer Arbeit leite, sagt sie. Aber nicht auf eine abstrakte Weise. »Ich versuche, es zu leben.« Sie erinnert sich, dass sie als Kind einen jüdischen Feiertag ganz besonders mochte: Tu Bischwat, das Neujahrsfest der Bäume. Es wird in der jüdischen Tradition als Tag des Dankes für eine harmonische Beziehung zwischen Gott, dem Menschen und der Natur begangen.
KONFERENZEN In letzter Zeit ist Margolin viel und quer durchs Land gereist, hat vor dem Kongress in Washington gesprochen sowie auf Konferenzen in New York, Miami und im kanadischen Montreal. Sie hat ein Buch geschrieben, halb Autobiografie, halb Handbuch, das im Sommer erscheinen soll. Nebenbei arbeitet sie an ihrem Schulabschluss und bewirbt sich bei verschiedenen Colleges.
Sie will Politische Wissenschaft studieren, aber auch andere Fächer, Kreatives Schreiben oder Dokumentarfilm vielleicht. »Ich möchte so viele Fertigkeiten wie möglich erlernen«, sagt sie, um die Arbeit als Aktivistin gut und effizient zu machen.
Mit Greta Thunberg verbinde sie das gemeinsame Ziel, gegen die Klimakrise zu kämpfen. »Wir sind beide leidenschaftlich und zielstrebig«, sagt Margolin. Der Unterschied: »Ich bin mehr an politisch-strategischer Tätigkeit interessiert«, an Graswurzelarbeit im Kampf für Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit. Greta sei das Gesicht der Bewegung, setzt sie hinzu. »Ich bin eher eine Organisatorin hinter den Kulissen.«
Und Jamie Margolin hat noch eine andere Beobachtung gemacht: In der Debatte um die Klimakrise sei das Verhältnis zwischen den Generationen in Europa und den USA sehr verschieden. »Ich habe den Eindruck, dass bei uns der Ton der Jungen gegenüber den Älteren entspannter ist, nicht so anklagend oder feindselig.«
Von ihren Eltern bekomme sie viel Unterstützung bei ihrem Engagement. So hilft ihr Vater dabei, Termine zu managen. Klar gebe es mal Witze über die Erwachsenen, räumt sie ein, aber Ziel der Teenager-Aktivisten sei es, »so viele Menschen wie möglich für die Bewegung an Bord zu holen« – egal welchen Alters, Religion, Geschlecht oder Hautfarbe.« Sie würde sich gerne auch mehr mit jüdischen Organisationen vernetzen. »Aber ich bin noch nicht dazu gekommen.«
Da geht es Jamie Margolin ähnlich wie Katy Allen knapp 5000 Kilometer entfernt an der anderen Küste des Landes. Die meisten, die sich bei JCAN, dem Jüdischen Klimanetzwerk, engagieren, »sind eher älter«, räumt Allen ein. Sie würde sich freuen, wenn ihre Organisation in Zukunft auch eine größere Zahl von jungen Klimaaktivisten gewinnen könnte.
»Aber um ehrlich zu sein: Es gibt sehr viel mehr Arbeit bei den Älteren zu tun«, setzt sie hinzu. Es müsse viel Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit geleistet werden, um ihnen das Thema ins Bewusstsein zu rücken.
© Jüdische Allgemeine / Katja Ridderbusch