10. April 2024
Wie der Hamas-Terror in Israel die Identität jüdischer Amerikaner verändert. Ein Ortsbesuch in Atlanta
Von Katja Ridderbusch
Für Talia Segal gab es in den vergangenen Monaten keinen Mangel an surrealen Momenten. Momenten, die sich in ihr Erinnerungsgewebe eingebrannt haben.
Es begann am 8. Oktober 2023, als die 22-jährige Studentin allein mit der blau-weißen Flagge auf dem Bürgersteig gegenüber dem israelischen Konsulat in Atlanta stand. Auf der anderen Seite der belebten Straße feierte eine Gruppe jubelnder propalästinensischer Demonstranten das Massaker der Hamas vom Vortag – die Morde, den Terror, die entfesselte Gewalt.»Ich wollte, ich musste einfach für Israel stehen«, sagt Segal. Und das tat sie, mehrere Stunden lang, allein. Sie hatte einige Freunde angerufen, aber es waren Herbstferien, und niemand hatte Zeit. Zwei Fremde stoppten und sprachen ihr Mut zu. Einige Demonstranten schrien sie an, nach Hause zu gehen. Angst habe sie nicht gehabt.
Knapp sechs Monate später. Segal – schlaksig, kurze, dunkle Locken und ernstes Gesicht – sitzt in der Mensa von Georgia Tech, der Technischen Universität in Atlanta. Es ist ein kühler, sonniger Frühjahrsmorgen, der Campus ist leer.
Sie sei müde, sagt sie. Müde vom Aktivismus – die Studentin der Biomedizinischen Technik ist Präsidentin von Hillel, der internationalen jüdischen Studentenorganisation, bei Georgia Tech. Müde, sich ständig rechtfertigen zu müssen, für Israel, für Israels Politik – und dafür, Jüdin zu sein.
Das Massaker der Hamas, der Krieg in Gaza, der grassierende Antisemitismus und die ambivalente Haltung der politischen Eliten in der westlichen Welt haben Spuren auch bei Juden in der Diaspora hinterlassen – vor allem in den USA, wo die meisten Juden außerhalb Israels leben. Hier habe der 7. Oktober »zu einem Erwachen der jüdischen Identität geführt«, sagt Steven Windmueller, Professor für Jüdische Studien am Hebrew Union College in Los Angeles.
Das manifestiere sich in verschiedenen Formen und verlaufe in unterschiedlichen Phasen: Nach Schock, Trauer und Solidarität kämen jetzt zunehmend Unsicherheit, Fragen und Zweifel auf – Zweifel an den eigenen Werten, an der Treue der Verbündeten, an den humanitären Konsequenzen des Krieges in Gaza. »Dies ist ein unebener Pfad, und je länger der 7. Oktober zurückliegt, desto komplexer wird der Prozess der Selbstverortung bei jüdischen Amerikanern«, sagt Windmueller.
So vielfältig wie die jüdischen Lebenswelten in den Vereinigten Staaten – säkular oder religiös, reformorientiert oder orthodox, politisch progressiv oder konservativ –, so vielstimmig gestaltet sich auch die Neubestimmung der jüdisch-amerikanischen Identität. Zum Beispiel in der Metropolregion Atlanta im Süden der USA.
Dilemma für jüdische Polizisten
Lieutenant David Roskind ist Polizist in Sandy Springs, einer Kleinstadt 25 Kilometer nördlich von Atlanta mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil. Seit 36 Jahren arbeitet er bei der Polizei, derzeit leitet er die Trainingseinheit seiner Behörde und dient als Verbindungsperson in Sicherheitsfragen für Synagogen, jüdische Gemeindezentren und Schulen. Er ist selbst jüdisch, durch und durch, sagt er. »Das verlässt einen nicht, niemals.« Er ist Mitglied einer Reformsynagoge in Atlanta und verheiratet mit einer Christin.
Roskind, ein großer Mann mit bulliger Statur und kurz geschorenem Haar, bewegt sich schnell durch die Flure der Polizeiwache, eilt von seinem Büro in das Trainingsgebäude. Seit dem 7. Oktober sei der Grad der Wachsamkeit – ohnehin hoch in seinem Job – weiter gestiegen, ob er zu einem Einsatz gerufen werde, den Schutz einer jüdischen Einrichtung organisiere oder privat mit seiner Familie unterwegs sei. Prävention oder Paranoia? Roskind lacht, tief aus dem Bauch. Er wolle es lieber nicht darauf ankommen lassen, sagt er.
Zugleich gebiete es seine Arbeit als Polizist, »auch die Rechte derer zu beschützen, die gegen all das, wofür ich stehe, protestieren« – die Rechte von Neonazis, Pro-Hamas-Aktivisten, Anti-Polizei-Demonstranten. Wie viele seiner Kollegen hat er eine emotionale Mauer aufgebaut, schon lange. All dies seien keine neuen Fragen, sagt er, aber seit dem 7. Oktober sind sie stärker auf seinen Radar gerückt.
Er denkt in diesen Tagen auch oft an seine Großmutter, deren Familie in Auschwitz ermordet wurde. Er erinnert sich an die Tätowierung auf ihrem Arm und an ihre Berichte vom Leben in den Baracken, von den Stockbetten und dass die neuen, noch gesunden Häftlinge oben schliefen und die von Ruhr und Cholera geschwächten unten.
Zweimal war Roskind im Rahmen eines internationalen Polizeiaustauschs in Israel, zuletzt im vergangenen September, einen Monat vor dem Massaker. Er will, sobald es geht, wieder nach Israel reisen. Aber zuerst möchte er nach Polen, nach Auschwitz, vielleicht mit einer Schülergruppe aus Sandy Springs.
Für viele jüdische Amerikaner, auch in seiner Stadt, sei der 7. Oktober ein Weckruf gewesen. Seit dem Massaker der Hamas haben die Waffenkäufe bei jüdischen Amerikanern massiv angezogen, teilweise um mehr als das Vierfache. Roskind sieht das positiv. Die Polizei informiere die jüdischen Gemeindemitglieder über Waffengesetze, Waffenbesitz und den Umgang mit Waffen. »Damit die Menschen sich sicherer fühlen, auch wenn keine Polizei und keine Wachleute da sind.«
Doch Waffenbesitz hilft nicht allen gegen ihre tiefe Verunsicherung. Während Vertreter des konservativen Lagers auf der einen sowie des progressiven Lagers auf der anderen Seite einen Platz in der neu gemischten jüdisch-amerikanischen Gesellschaftsordnung finden dürften, »suchen die Menschen in der breiten linksliberalen Mitte nach einem Ort, an dem sie sich zugehörig fühlen«, sagt Windmueller.
Nach Erhebungen des Pew-Instituts wählten in den vergangenen fünf Jahrzehnten gut 70 Prozent der jüdischen Amerikaner demokratisch. Doch gerade sie erleben seit einigen Jahren, wie an den Elite-Universitäten des Landes – Harvard, Columbia oder Berkeley – ein Klima von Antisemitismus und Antizionismus um sich greift. Sie fühlen sich alleingelassen von ihren ehemaligen Verbündeten, deren Agenda für soziale Gerechtigkeit sie stets unterstützt haben, von der Bürgerrechtsbewegung bis zu »Black Lives Matter«. »Viele linksliberale amerikanische Juden erfahren seit dem 7. Oktober ein tiefes Gefühl der Heimatlosigkeit«, sagt Windmueller.
Antisemitismus kommt nicht nur von Randgruppen
Heimatlosigkeit, das treffe es gut, findet Roz Engelhardt Harris. Die 57-Jährige schreibt Förderanträge für eine staatliche Behörde und arbeitet im Nebenjob als Fitnesstrainerin in einem großen jüdischen Gemeindezentrum. Das ist der Ort, an dem sie sich in diesen Tagen aufgehoben und sicher fühlt. Hier, in der weiten Lobby zwischen Schwimmbad und Sporthallen, mit Kunst an den Wänden und Pflanzenbeeten im Gang, spricht sie in den ruhigen Mittagsstunden über ihre Erfahrungen und Gedanken seit dem 7. Oktober.
»Ich habe mich immer sehr jüdisch gefühlt«, sagt Harris – drahtig, mit wilden grauen Locken und skeptischem Blick. »Das hat sich nicht geändert.« Ihre Großeltern und ihre Eltern sprachen zu Hause manchmal Jiddisch. Mit ihrem Mann und drei erwachsenen Töchtern begeht sie die jüdischen Feiertage und geht ab und zu in die Synagoge.
Der 7. Oktober habe sie gezwungen, Worte zu finden für vieles, was sie lange wusste, aber vielleicht nicht sehen wollte. Jetzt habe sie begriffen: Antisemitismus in den USA im 21. Jahrhundert – »das ist nicht nur Ignoranz, das kommt nicht nur von Randgruppen. Das ist tiefer, breiter, systemischer«.
Die Erkenntnis spülte auch Erinnerungen an ihre Kindheit hoch. Harris stammt aus New York, wuchs in Savannah auf, im tiefen Süden der USA. Sie erinnert sich an Witze in der Highschool über vermeintlichen jüdischen Geiz und jüdisches Feilschen. Sie erinnert sich, wie Kinder ihre Schwester mit einer Handvoll Münzen bewarfen – aus Spaß.
Seit dem 7. Oktober ist sie zunehmend verunsichert über ihre eigene Verortung und ihre Werte. Soziale Gerechtigkeit war ihr stets wichtig, doch jetzt erlebe sie bei privaten Gesprächen – aber auch in Statements ihrer einstigen politischen Leitfiguren wie dem früheren US-Präsidenten Barack Obama –, wie vermeintlich Gleichgesinnte das Recht Israels auf Selbstverteidigung infrage stellen, die Verbrechen der Hamas relativieren.
»Das ist sehr, sehr schmerzhaft«, sagt Harris. Sie dreht gedankenverloren die Wasserflasche in der Hand, sucht nach Worten. »Wenn wir unseren Freunden nicht mehr trauen können, bei wem können wir uns dann noch sicher fühlen?«
Viele jüdische Amerikaner fühlen sich hin- und hergerissen
Besonders schwierig sei die Frage der Identität für jüngere jüdische Amerikaner, sagt Windmueller. Viele der heute 20- bis 35-Jährigen seien »im Kosmos der jüdischen Camps aufgewachsen, wo das Konzept von ›Tikkun Olam‹ – die Reparatur der Welt – allgegenwärtig ist«, sagt der Forscher. Ein Begriff, der einhergeht mit progressiven, humanitären und universalistischen Werten und einem großen, bisweilen naiven Herz für die Unterdrückten der Welt.
Jetzt fühlten sich viele hin- und hergerissen zwischen den propalästinensischen und antizionistischen Haltungen ihrer Freunde und ihrer Peers – und der Loyalität zu ihren jüdischen Familien und zum Staat Israel, sagt Windmueller.
Talia Segal ist vertraut mit dem Dilemma, aber Zweifel an ihrer Haltung zu Israel hatte sie nie. Sie bezeichnet sich selbst als progressive Zionistin. »Israel, das ist ein Zuhause für mich«, sagt sie. Die Familie ihres Vaters emigrierte aus Südafrika. Großmutter, Tante, Onkel und drei Cousins leben in Israel, in der Stadt Modi’in zwischen Jerusalem und Tel Aviv.
Segal war viele Male in Israel, zuletzt im Dezember, zwei Monate nach dem Massaker. Sie sprach als Vertreterin von Hillel vor der Knesset und besuchte mit dem israelischen Militär den Kibbuz Kfar Aza – Schauplatz der schrecklichen Verbrechen vom 7. Oktober.
Modi’in sei dagegen wie eine Blase gewesen, sagt sie. Ein paar Mal gingen die Sirenen, ansonsten lief das Leben weiter, eine Freundin heiratete, einer ihrer Cousins begann ein Medizinstudium. Surreale Momente allesamt – dennoch sei sie in Israel ganz bei sich selbst, sagt sie. »Weil wir dort als Juden nicht permanent daran denken müssen, wie andere uns wahrnehmen.«
Diese Freiheit ist ihr in den USA, in Atlanta, auf dem Campus, abhandengekommen. Während des Gesprächs schaut sie mehrfach über die Schulter, zuckt zusammen, als ein Mann eine leere Glasflasche in einen Container wirft. Aber es sei nicht nur die physische Sicherheit, setzt Segal hinzu. »Es ist vor allem der Mangel an emotionaler Sicherheit.«
Ihre beste Freundin, eine arabische Libanesin aus Kentucky, wandte sich von ihr ab, als sie von Segals Aktivismus für Hillel erfuhr. Immer wieder erlebe sie, dass sie aus progressiven Zirkeln ausgeschlossen sei, sagt Segal. Sie identifiziert sich als queer, aber viele Profile auf queeren Dating-Apps propagieren den Slogan »Free Palestine« – »da bin ich als Zionistin nicht willkommen«.
Ein Gefühl von Heimatlosigkeit
Heimatlosigkeit, auch hier. Doch entmutigt fühlt sich Segal nicht. »Zu erleben, dass wir stark sind – allein und in der Gemeinschaft –, macht mich stolz, jüdisch zu sein«, sagt sie und lacht, zum ersten Mal.
Eine aktuelle Umfrage der Lobbyorganisation American Jewish Committee (AJC) kam zu dem Ergebnis, dass sich 78 Prozent der jüdischen Amerikaner seit dem 7. Oktober weniger sicher fühlen.
Das Gefühl schwindender Sicherheit könnte auch Auswirkungen auf die Präsidentschaftswahlen im November haben, sagt Politikwissenschaftler Windmueller – sei es eine Abwanderung jüdischer Wähler von den Demokraten zu den Republikanern oder eine größere Zahl von Nichtwählern. Eines sei indes klar: Israel »wird auf der Prioritätenskala jüdisch-amerikanischer Wähler weit nach oben rücken«.
Bei aller Verunsicherung, Sorge und Heimatlosigkeit haben Roz Harris, David Roskind und Talia Segal, drei jüdische Amerikaner in Atlanta, keinerlei Zweifel, dass der Staat Israel weiterexistieren werde. Vielleicht gebe sie sich ja einer Illusion hin, sagt Harris und schüttelt den Kopf. »Ich habe Angst um die Menschen in Israel. Aber ich habe keine Angst, dass es den Staat nicht mehr gibt.«
Wenn Israel um sein Überleben kämpfen müsse, würden viele amerikanische Juden ins Land kommen und helfen, sagt Roskind – als Soldaten, Farmer, Buchhalter oder Bauarbeiter. »Ich würde sofort aufbrechen und viele meiner Freunde auch.«
Talia Segal wird im Mai ihr Studium abschließen. Vielleicht macht sie Alija, sucht sich in Israel Arbeit in einem der innovativen Medizintechnik-Unternehmen. Schon vor dem 7. Oktober hatte sie mit dem Gedanken gespielt. Aber noch ist sie unentschieden. Die Lage in ihrem Land halte sie nicht davon ab. »Auf keinen Fall«, sagt sie und lacht, zum zweiten Mal.
© Jüdische Allgemeine / Katja Ridderbusch