4. Januar 2022

Bisher trainieren US-Polizisten, auf den Kopf und die Körpermitte zu schießen. Ein Polizeichef aus Georgia will das ändern. Und stößt auf Widerstand. 

Von Katja Ridderbusch

Wenn Sergeant Joshua Clower energisch in seine dunkelrote Trillerpfeife bläst, treten die Polizisten auf dem Schießstand, einer Lichtung inmitten eines Pinienwäldchens, einen Schritt vor, zielen mit ihren Neun-Millimeter-Dienstpistolen auf menschliche Silhouetten aus Pappe, deren Körperregionen nach Farben unterteilt sind – rot, gelb, grün – und feuern, bis Clower zum Stopp pfeift.

Ein feuchtkalter Wintertag im Industriegebiet von LaGrange, einer Kleinstadt gut 100 Kilometer südwestlich von Atlanta im US-Bundesstaat Georgia. Die Luft ist grauverhangen, der Waldboden mit nassem Laub bedeckt. Clower, 40, schlank, groß, messerscharfer Haarschnitt und gestärkte dunkle Uniform, ist Leiter der Trainingsabteilung bei der örtlichen Polizei. Er zieht fröstelnd die Schultern hoch, weist seine Kollegen an, näher an die Zielscheiben zu rücken, und die Übung beginnt von Neuem. An diesem Trainingstag bekommt die höchste Punktzahl nicht, wer möglichst präzise in Kopf und Brust getroffen hat. Sondern wer die meisten Schüsse in den Unterbauch, die Hüftgegend und die Oberschenkel platziert.

Hätte jemand Clower vor zwei Jahren gesagt – da war er noch Streifenpolizist –, dass er schon bald im Zentrum einer Debatte über ein progressives Polizeitraining stehen und nationale Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde – er hätte wohl gelacht.

Aber es ist viel passiert in den vergangenen zwei Jahren. Die öffentliche Empörung über Fälle von exzessiver Polizeigewalt gegen schwarze Amerikaner, kulminierte im Frühsommer 2020, als George Floyd in Minneapolis und wenige Wochen später Rayshard Brooks in Atlanta bei Polizeieinsätzen gewaltsam zu Tode kamen. Protestwellen rollten über das Land, immer lauter wurden Rufe, die Polizei abzuschaffen oder radikal zu verändern – vor allem die Regeln zur Gewaltanwendung und zum Einsatz von Schusswaffen.

Das Ziel: Weniger Todesfälle bei Polizeieinsätzen 

Da die Polizei in den USA weitgehend föderal und kommunal organisiert ist, kommen neue Konzepte vor allem aus den Polizeibehörden der Städte. Einige dieser Modelle sind schon länger im Einsatz, erscheinen aber jetzt in neuem Licht. Da ist zum Beispiel die Stadt Camden in New Jersey, die ihre Polizei auflöste und wieder aufbaute mit dem Ziel, sie zum Muster für community policing, bürgernahe Polizeiarbeit, zu machen. Einige Behörden in den USA trainieren ihre Polizisten in brasilianischem Jiu-Jitsu, einer Kampfsportart – und reduzieren damit nicht nur den Einsatz von Waffen, sondern auch den Stresslevel der Cops. 

All diese Konzepte dienen vor allem einem Ziel: die Zahl der Todesfälle bei Polizeieinsätzen zu verringern. Verschiedenen Erhebungen zufolge sterben in den USA jedes Jahr etwa 1000 Menschen bei Konfrontationen mit der Polizei. Knapp ein Drittel sind schwarz, etwa ein Viertel leidet an einer psychischen Krankheit.

Ausgerechnet die Polizeibehörde in der Kleinstadt LaGrange tief im republikanisch regierten Südstaat Georgia macht nun mit einem progressiven Schusswaffentraining landesweit Schlagzeilen. „Shoot to Incapacitate“ hat Polizeichef Louis Dekmar das Programm getauft – Schießen, um einen Angreifenden handlungsunfähig zu machen, aber möglichst nicht zu töten. „Ziel des Trainings ist es, eine Bedrohung auszuschalten, ohne ein Leben zu beenden“, sagt Dekmar.

Das Konzept bricht mit einem elementaren Standard des Schusswaffentrainings bei der US-Polizei: stets auf die Körpermitte – Brust und Oberbauch – sowie auf den Kopf zu zielen. Treffer in diesen Körperregionen, so die Argumentation, hätten die größte Chance, eine Bedrohung sicher und sofort zu stoppen. Aber sie enden häufig auch tödlich.

Immer wieder eskalieren in den USA Polizeieinsätze zu einer Spirale aus Aggression, Angst, Überreaktion. Lang ist die Liste häufig unbewaffneter Männer, die von Polizisten erschossen wurden. Unter ihnen Michael Brown in Ferguson, Missouri, 2014; Walter Scott in Charleston, South Carolina, 2015; Alton Sterling in Baton Rouge, Louisiana, 2016; Philando Castile in St. Paul, Minnesota, 2016; Andre Hill in Columbus, Ohio, 2020.

Dekmar, 66, drahtig, mit dichtem grauem Haar und prüfendem Blick, ist seit mehr als 40 Jahren im Polizeidienst tätig, 26 davon als Polizeichef von LaGrange. Er kam mit dem – aus US-Sicht – unkonventionellen Konzept zum Schusswaffentraining erstmals 2004 in Berührung, bei einem Polizeiaustausch in Israel. Bei späteren Besuchen in Europa, auch in Deutschland, lernte er, dass es dort die Norm ist, auf nicht-lebenswichtige Organe zu zielen. 

Die Polizeibehörde entschuldigte sich öffentlich 

Ein Schusswaffeneinsatz gegen einen Menschen diene generell „der Angriffs- oder Fluchtunfähigkeit“, sagt Hauptkommissar Michael Gassen von der Berliner Polizei. So seien „die Grundübungen im Schießen auf das Treffen der Arme oder Beine einer Person ausgelegt“. Nur in einer Notwehrsituation – und abhängig von den Umständen des Einzelfalls – sei es den Beamten erlaubt, auch auf den Oberkörperbereich zu zielen. In anderen deutschen Bundesländern gelten ähnliche Regeln.

Dekmars Neugier war geweckt. Als Polizeichef hatte er schon öfter mit unorthodoxen und neuen Konzepten Pionierarbeit geleistet. So war LaGrange eines der ersten Polizeireviere in den USA, das 2009 seine Einsatzkräfte mit Körperkameras ausstattete. Im Jahr 2017 machte Dekmar Schlagzeilen, als er sich öffentlich für die Rolle seiner Behörde beim Lynchmord an einem Afroamerikaner im Jahr 1940 entschuldigte.

Von dem Schusswaffentraining in Israel und Europa war Dekmar nicht sofort überzeugt. Doch die Idee arbeitete in ihm, mehr als zehn Jahre lang, bis er schließlich ein Protokoll entwickelte, das den Realitäten der USA und seiner Behörde angepasst war. „Es geht nicht darum, einem Angreifer die Waffe aus der Hand zu schießen“, sagt Dekmar. Er sitzt in seinem Büro in der Polizeiwache im Zentrum von LaGrange, einer Stadt mit gut 30.000 Einwohnern, die Hauptstraße ist von schmucken, klassizistischen Häusern mit Säulen aus weißem Gips gesäumt. 

Er hat die Beine übereinandergeschlagen, um seine Mundwinkel wandert ein achtsames Lächeln. Es gehe auch nicht darum, das Standard-Schusswaffentraining – Zielen auf Körpermitte und Kopf – zu ersetzen. „Wir wollen unseren Polizisten einfach eine weitere Option an die Hand geben, ein zusätzliches Instrument für ihren Werkzeuggürtel.“

Eine Option, die nur in eng definierten Situationen zum Tragen kommt: Wenn verbale Deeskalation gescheitert und der Einsatz von potenziell tödlicher Gewalt gerechtfertigt ist. Wenn eine Person Leib und Leben der Polizisten oder der Umstehenden mit einer Angriffswaffe bedroht, die keine Schusswaffe ist – Messer, Hammer, Schraubenzieher, Schlagring oder Baseballschläger. Die Zeit zum Zielen spielt eine Rolle, die Distanz zum Angreifer, der Feuerschutz durch Kollegen. Am Ende liege es im Ermessen des Polizisten oder der Polizistin, wie sie reagierten, sagt Dekmar. „Meine Leute sollen ihr Urteilsvermögen nutzen.“

Im Sommer 2019, ein Jahr vor George Floyds Tod, den Protesten und den Rufen nach Reformen, legte Dekmar seinem Team den Plan dar. Und stieß auf Unverständnis. Auch bei Joshua Clower. „Ganz ehrlich? Als der Chef uns die Idee zum ersten Mal vorstellte, dachte ich: Das ist total bescheuert“, sagt er. Das Konzept sei anders als alles gewesen, was er in seinen 17 Jahren als Cop gelernt und getan hatte.

Einer der Gründe für die Skepsis war und ist: Angst. In den USA sind die meisten Polizisten allein in ihren Streifenwagen unterwegs, vermeintlich banale Einsätze wie Verkehrskontrollen können schnell zu gewaltsamen Konfrontationen eskalieren. Mehr Menschen tragen Schusswaffen bei sich als in Europa, und in den USA werden mehr Polizisten im Einsatz getötet. Der Schuss auf die Körpermitte ist für viele Cops die letzte Rückversicherung.

Eher widerwillig machte sich Clower, der gerade zum Leiter der Trainingsabteilung befördert worden war, daran, Hintergründe und Daten zu recherchieren. Er fand heraus: Von den 1000 Menschen, die jedes Jahr bei Polizeieinsätzen getötet werden, tragen etwa 25 bis 30 Prozent eine Schlag- oder Stichwaffe, bis zu 300 Personen also. Eine Zahl, groß genug, um eine andere Taktik beim Schusswaffeneinsatz zu rechtfertigen, sagt Clower – und ein anderes Training.

Ferner studierte er Hunderte Videos von Situationen, in denen Polizisten ihre Dienstwaffe einsetzten. Dabei sei offensichtlich: „Die meisten Cops wollen nicht schießen“, sagt er – auch aus Angst, zu töten. Als er noch auf Straßen patrouillierte, habe er selbst bisweilen gezögert, seine Pistole zu ziehen, auch wenn deren Einsatz gerechtfertigt gewesen wäre. „Und dank der Gnade Gottes konnte ich jedes Mal unverletzt nach Hause gehen.“

Schließlich sprach Clower mit Ärzten. Ken Horlander, Notfallmediziner in LaGrange, sagt: „Jemanden, der mit einer Bein- oder Hüftverletzung ins Krankenhaus eingeliefert wird, können wir eher stabilisieren als jemanden, der von einer Kugel im Herzen oder der Lunge getroffen ist.“ Zwar können auch Schüsse in Hüftregion und Oberschenkel tödlich enden, sagt Horlander, der lange in Trauma-Kliniken in Chicago und Atlanta gearbeitet hat. Dennoch habe aus seiner Sicht als Arzt das „Shoot to Incapacitate“-Programm Sinn – „weil es in den größeren Trend passt, Polizeiarbeit sanfter zu gestalten – mit dem Schutz des Lebens als oberster Priorität“.

Polizisten sorgen sich um eigene Sicherheit 

Allerdings brauchte es eine Weile, bis sich Clowers Kollegen mit dem Konzept anfreundeten. Als Gruppe seien Polizisten eben schwer zufriedenzustellen, sagt der Ausbilder mit einem trockenen Lachen. „Wir beklagen uns ständig darüber, wie die Dinge sind – und meckern, wenn sich etwas ändert.“

Die meisten Polizeiverbände und Polizeibehörden in den USA lehnen die Idee ab, nur wenige wollen sich öffentlich äußern. Kern der Kritik: Der Zeitverzug, den das Zielen auf eine kleinere Trefferfläche wie die Hüftregion koste, setze das Leben der Polizisten und unschuldiger Umstehender aufs Spiel.

Kriminologen und Strafrechtsexperten sind gespalten. „Das Grundprinzip des Programms ist es, Leben zu schützen“, sagt William Lewinski, Verhaltenspsychologe und Direktor des Force Science Institute in Chicago, das Trainingsprogramme für Sicherheitskräfte entwickelt. „Und das ist löblich.“ Aber der Plan ignoriere die Realitäten amerikanischer Polizeiausbildung, insbesondere des Schießtrainings. Verschiedenen Studien zufolge liegt die Treffsicherheit von Polizisten unter Stress bei gerade einmal 20 bis 30 Prozent. „Wenn der Polizist ein sehr talentierter und gut ausgebildeter Schütze ist, kann das Konzept aufgehen“, sagt Lewinski. Doch Chief Dekmar lege die Messlatte für Schießfertigkeiten und Urteilsvermögen wesentlich höher, als sie der durchschnittliche Cop in den USA erreichen könne. 

„Shoot to Incapacitate“ sei „innovativ auf eine disruptive Weise“, findet Seth Stoughton, Ex-Polizist und Rechtsprofessor an der University of South Carolina. Der Ansatz möge in LaGrange gut funktionieren, lasse sich aber kaum auf andere Behörden übertragen. Die Polizei von LaGrange – mit knapp 100 Cops, geleitet von einem erfahrenen Polizeichef und ausgestattet mit einem komfortablen Budget – investiere seit langem in intensives Training, sagt Stoughton. Damit sei sie eine Ausnahme unter den 18.000 Polizeibehörden in den USA, von denen knapp die Hälfte weniger als zehn Mitarbeiter haben – und nicht die Ressourcen für ein spezielles Training zum abgestuften Schusswaffeneinsatz.

Die Kugeln trafen in den Unterbauch. Er überlebte

Das Konzept aus LaGrange sei „zu fremd, zu unorthodox“, stehe den „kulturellen Normen amerikanischer Polizeiarbeit radikal entgegen“. Dennoch – oder gerade deshalb – werde das Programm weiter Diskussionen anfachen und Interesse auf sich ziehen, sagt Stoughton.

Darauf setzt Chief Louis Dekmar. Rund 150 Besucher waren in den vergangenen Monaten in LaGrange und haben das Training beobachtet, darunter Vertreter von Polizeibehörden aus Georgia und anderen US-Bundesstaaten, Delegationen des US-Heimatschutzministeriums und der Staatsanwaltschaft von New York. Die Kritik vieler seiner Kollegen nimmt Dekmar gelassen. „Schließlich war meine Reaktion am Anfang ähnlich“, sagt er. „Außerdem habe ich einen Vorsprung von mehr als zehn Jahren.“

Die Polizei von LaGrange konnte das neue Training bereits anwenden. Im September stoppte ein Streifenpolizist einen Mann, der nachts mit einer Machete durch das Stadtzentrum lief. Der Mann reagierte nicht auf die Anweisungen des Cops und schwang die Waffe. Der Polizist feuerte seinen Taser, und als der nicht funktionierte, zog er seine Pistole. Die Kugeln trafen den Mann in den Unterbauch und die Beine. Er überlebte.

Joshua Clower inspiziert auf dem Schießstand die Einschusslöcher auf den Pappsilhouetten, markiert sie mit einem dicken schwarzen Filzstift. Eigentlich habe keiner seiner Kollegen Probleme, beim „Shoot to Incapacitate“-Training die gewünschten, grün markierten Flächen zu treffen, sagt Clower. Die Schießtechnik sei die gleiche wie sonst, „man muss halt nur etwas tiefer zielen.“ 

© Tagesspiegel / Katja Ridderbusch