28. November 2019

Die gefährlichste Seuche der Menschheit ist zwar ausgerottet. Restbestände schlummern aber noch immer in zwei Laboren. Eine Explosion in Russland befeuert jetzt die Debatte der vollständigen Vernichtung 

Von Katja Ridderbusch

Irgendwo hier lagern sie, die letzten Erreger einer der gefährlichsten Seuchen aller Zeiten. In einem der vielen verschachtelten Gebäude aus Beton, Glas und Stahl. Irgendwo auf dem 60.000-Quadratmeter großen Gelände der amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC in Atlanta.

Umgeben von einem Metallzaun und bewacht von bewaffnetem Sicherheitspersonal ist dies einer von zwei Orten weltweit, an dem sich die letzten offiziellen Bestände lebender Pockenviren befinden.

Die CDC lehnte eine Interviewanfrage ab, erklärt aber auf ihrer Website: Die Restbestände der Variola-Viren, so der wissenschaftliche Name der Pockenerreger, werden durch ein mehrstufiges Sicherheitssystem geschützt.

Dazu gehöre, dass der genaue Aufenthaltsort der Viren nur wenigen bekannt sei, sagt Jeffrey Koplan von der Emory-Universität in Atlanta, ehemaliger Leiter der CDC: „Selbst unter Androhung von Waffengewalt hätte ich nicht sagen können, wo sich die Viren gerade befinden.“

Vollständige Sicherheit kann es nicht geben

Die Forschung an den Erregern findet in S4-Laboren statt, das sind Labore mit der höchsten Sicherheitsstufe. Hier untersuchen Wissenschaftler neben Pocken auch Erreger wie Ebola-, Marburg- und Lassa-Viren. S4-Labore besitzen eine autonome Luft-, Strom- und Wasserversorgung.

Doch vollständige Sicherheit gibt es nicht. Daran erinnerte vor kurzem eine Explosion im Vector-Labor für Virologie in der Nähe von Nowosibirsk in Westsibirien. Vector ist der zweite Ort, an dem die verbliebenen Variola-Bestände lagern.

Die Pockenerreger seien von der Explosion nicht betroffen gewesen, versicherte das Labor. Dennoch hat der Vorfall eine alte Diskussion unter Wissenschaftlern neu entfacht: Sollen die Restbestände der Pockenviren erhalten oder vernichtet werden?

„Das ist eine Grundsatzdebatte, die wir seit mehr als 20 Jahren führen und noch weitere 20 Jahre führen können“, sagt Koplan. Beide Seiten hätten gute Argumente und er können nicht sagen, „welcher Weg der sicherste ist“.

Nachdem die Weltgesundheitsorganisation WHO vor 40 Jahren die Pocken für ausgerottet erklärt hatte, wurde der Großteil der weltweit registrierten Virenproben zerstört. Der Plan war, nach einer Übergangszeit auch die Restbestände in den USA und Russland zu vernichten. Doch die WHO verschob die Entscheidung immer wieder, bis heute.

Der prominenteste Verfechter dafür, die Erreger komplett zu zerstören, war Donald Henderson. „Die Pocken sind die schlimmste Seuche, die man sich nur vorstellen kann“, so der 2016 verstorbene amerikanische Mediziner. Er leitete in den 1960er- und 70er-Jahren die globale Impfkampagne zur Ausrottung der Krankheit. „Die Frage ist also, warum behalten wir die Erreger?“

Es gebe schließlich einen wirksamen Impfstoff. Auch hatten Wissenschaftler die DNA des Variola-Virus entschlüsselt, können es also im Notfall nachbauen. Zu Forschungszwecken bieten sich genetisch nahe, aber weniger tödliche Verwandte des Erregers an: Affen- und Kuhpockenviren zum Beispiel.

Pockenvirus könnten als Biowaffe missbraucht werden

Und eine weitere Furcht treibt Wissenschaftler wie Henderson um: „So sicher ein Labor auch sein mag, es gibt immer ein Risiko, dass die Viren das Labor verlassen. Wenn man keine Bestände mehr hat, verringert man dieses Risiko zumindest theoretisch auf null.“

Allerdings gehen die meisten Forscher davon aus, dass es auch außerhalb der beiden offiziellen Lagerstätten noch lebende Variola-Viren gibt.

Terroristen könnten aus diesen schwarzen Beständen Biowaffen herstellen. Wahrscheinlicher, aber nicht weniger gefährlich sei noch ein anderes Szenario: Längst vergessene Proben des Pockenvirus schlummern in schlecht gesicherten Laboren, sagt der frühere CDC-Chef Jeffrey Koplan. Tickende Zeitbomben.

Ein solcher Fall machte 2014 Schlagzeilen, als Wissenschaftler der US-Pharmaaufsicht FDA in einem Labor nahe Washington zufällig mehrere Reagenzgläser mit Pockenviren fanden – verstaut in einer Pappschachtel in einem Abstellraum. Die Proben aus den 50er-Jahren wurden vernichtet.

Virenbestände sind wertvoll für die Forschung

Trotz dieser Vorfälle plädieren heute immer mehr Wissenschaftler dafür, die beiden offiziellen Restbestände für Forschungszwecke zu erhalten. Etwa, um einen besser verträglichen Impfstoff zu entwickeln. Forscher arbeiteten ferner an verbesserten Therapien und an Methoden zur schnellen Diagnostik, so Koplan.

„Nehmen wir an, da ist ein Kind irgendwo in einem fernen Winkel der Welt mit einem Ausschlag, der an die Pockeninfektion erinnert.“ Es wäre dann enorm wertvoll einen Test zu haben, der binnen weniger Stunden den Verdacht bestätigen könnte. Das sei keine sterile Wissenschaft für eine Fachzeitschrift, sondern „praktische, nützliche Forschung“.

Koplan war lange davon überzeugt, dass das Kapitel der Pockenseuche abgeschlossen ist. Doch mit den Jahren habe er seine Meinung geändert, sagt er. Weil die Forschung an Pockenerregern auch dabei helfe, das Wesen anderer Viren genauer zu verstehen. Aber vor allem, weil er eine Seuche niemals unterschätzen würde. Auch eine vermeintlich ausgerottete.

Copyright: Deutschlandfunk / Katja Ridderbusch