29. Oktober 2020
US-Präsident Trump genoss nach seiner Corona-Infektion die Spitzenmedizin des Landes. Anders sieht es für Millionen US-Bürger ohne Krankenversicherung aus. Eine Reform ist nötig, nur welche? Darüber entscheiden nun die Wähler.
Von Katja Ridderbusch
Die Wartelobby von Mercy Care in Atlanta im Süden der USA. Etwa zehn Patienten sitzen an diesem Vormittag auf bunten Stühlen, die weit auseinander stehen, wegen der Abstandsregeln. Einige lesen, andere starren auf das graue Holzparkett. Alle tragen Masken. Die Herbstsonne quillt durch die großen Fensterscheiben.
Mercy Care ist ein Community Health Center – ein teils vom Staat, teils von Spenden finanziertes medizinisches Versorgungszentrum für Menschen ohne oder mit unzureichender Krankenversicherung. Letztes Sicherheitsnetz in dem noch immer weitgehend privatwirtschaftlich organisierten Gesundheitssystem der USA.
Ortencía geht seit 2016 zu Mercy Care. Damals hatte die 57-jährige Latina einen schweren Unfall, ist die Treppe heruntergefallen. Ihren linken Arm kann sie kaum noch bewegen. Sie verlor ihren Job als Pflegeleiterin in einem Heim für behinderte Menschen. Und weil in den USA die Krankenkasse meist an den Arbeitsplatz gekoppelt ist, verlor sie auch ihre Versicherung.
Bei Mercy Care bekommt sie ihre Diabetesmedikamente, sagt sie, streicht über ihre blau gemusterte Bluse und lacht aus warmen Augen. Hier müsse sie nur vier Dollar im Monat zuzahlen, könne regelmäßig zum Zahnarzt gehen und habe sogar eine Brille bekommen.
Idee für Gesundheitszentren von Präsident Johnson
Die gemeinnützigen Gesundheitszentren sind ähnlich wie Polikliniken mit vielen Facharztabteilungen organisiert. Ihr Ursprung liegt in den „Great Society“-Sozialprogrammen. Sie sollten Armut bekämpfen und Minderheiten stärken. Aufgelegt hatte sie in den 1960er-Jahren Präsident Lyndon B. Johnson aus dem Lager der Demokraten.
Mercy Care selbst gibt es seit 1984, mittlerweile mit 13 Standorten in und um Atlanta. Hier arbeiten rund 60 Ärzte, Pfleger und Sozialarbeiter, einige angestellt, andere auf freiwilliger Basis. Die meisten Patienten, die hierherkommen, sind Afroamerikaner und Latinos.
Dr. Catherine Christie ist die medizinische Direktorin von Mercy Care: 90 Prozent unserer Gesundheit hängen mit dem sozialen Status zusammen, sagt die Internistin. Wir sprechen draußen vor der Klinik, wegen Corona. Sie verweist auf ihre 20-jährige Erfahrung mit Patienten aus unteren Einkommensgruppen.
„Es ist ein Teufelskreis. Da verlieren Leute ihren Job, ihr Einkommen, ihre Krankenversicherung. Sie können die Miete nicht mehr zahlen und verlieren vielleicht ihr Dach über dem Kopf. Sie können sich keine gesunden Lebensmittel mehr leisten, geben nicht mehr auf sich acht. All das beeinflusst die körperliche und die mentale Gesundheit der Menschen.“
In den USA, wo der Sozialstaat weniger ausgeprägt ist und die Löcher im sozialen Netz größer sind als in dem meisten Ländern Europas, sind die Folgen besonders drastisch.
Im Land der Spitzenmedizin ist der allgemeine Gesundheitszustand der Menschen schlechter als in fast jedem anderen entwickelten Staat. So liegt die Lebenserwartung in den USA auch nur bei 79 Jahren und damit drei bis vier Jahre niedriger als zum Beispiel in Kanada, Frankreich oder Schweden.
So gut es geht, versuchen gemeinnützige Dienste diese medizinischen Versorgungslücken zu schließen. Und das ist nötig, die Nachfrage steige über die Jahre, sagt Mercy-Care-Direktorin Christie.
„Die öffentlichen Gesundheitszentren sind als eine kleine soziale Initiative für unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen gestartet. Mittlerweile ist es eine der größten Organisationen zur medizinischen Grundversorgung in Land, wir haben nicht nur Allgemeinmediziner, sondern auch Hautärzte, Lungenärzte, Zahnärzte und Augenärzte. Wir haben eine Apotheke, wir haben Sozialarbeiter und einen psychiatrischen Dienst.“
Corona legt Schwachstellen des Gesundheitssystems offen
Obamacare, die Gesundheitsreform des ehemaligen US-Präsidenten, stockte die staatlichen Zuschüsse für die gemeinnützigen Gesundheitszentren deutlich auf. Aber für ein stabiles System reicht das nicht, das zeigt auch die Pandemie.
Die Schockwellen des Coronavirus trafen ab Mitte März Mercy Care mit voller Wucht, sagt Christie. Die Ambulanz hatte viele Patienten, die akut an Covid-19 erkrankt waren und zu den Risikogruppen zählten:
„Wir haben viele Patienten, die beim Ausbruch der Krise unter erhöhtem Blutdruck litten und übergewichtig waren. Übergewicht ist ein enormer Risikofaktor für Covid. Leider ist es so, dass Corona die Lücken in unserem Gesundheitssystem offengelegt hat – vor allem die Tatsache, dass viele Menschen noch immer keinen Zugang zu einer präventiven Versorgung haben.“
Und nun kommt der nächste Härtetest:
Auch in den USA rollt die zweite Welle von Corona-Infektionen heran. Rund 230.000 Menschen sind dort bereits mit oder an den Folgen von Covid-19 gestorben, so viele wie in keinem anderen Land.
Trump hat Obamas Pandemie-Pläne verworfen
Die Verantwortung für den extremen Verlauf der Pandemie in den USA liege vor allem beim Missmanagement der Regierung von Donald Trump, sagt John McDonough. Er ist Professor für „Public Health“ – also „Öffentliche Gesundheitspflege“ – an der Harvard University in Boston. Dort erreiche ich ihn per Videochat.
„Die Obama-Administration hatte zwei Pandemien erlebt, Ebola und die sogenannte Schweinegrippe. Aufgrund dieser Erfahrungen hatte sie einen ausgefeilten, abgestuften Plan zum Pandemie-Management hinterlassen. Doch die Trump-Regierung verwarf diesen Plan und betreibt seit Beginn der Krise eine Politik, die willkürlich, inkompetent und verantwortungslos ist.“
Die amtierende Regierung zerschlug nicht nur Obamas Pandemie-Taskforce. Unterstützt von den Republikanern im Kongress setzt Trump seit Jahren auch alles daran, um das Gesundheitsgesetz, das den Namen seines Vorgängers trägt, zu kippen.
Doch Obamacare ist noch immer in Kraft. Der „Patient Protection and Affordable Care Act“ – so der offizielle Name – wurde 2010 verabschiedet. Heute haben dadurch 20 Millionen mehr Amerikaner eine Krankenversicherung. Aber weiterhin sind knapp 13 Prozent der US-Bürger ohne Versicherungsschutz.
Republikanische Gouverneure verweigern Obamacare
Gesundheitsexperte John McDonough hat damals am Entwurf von Obamacare mitgearbeitet und erklärt die Schwachstellen:
„Obamacare ist nicht die umfassende Reform, die wir brauchen. Da ist noch Raum für Verbesserung. Das Gesetz versucht, die Versicherungslücke für Menschen zu schließen, die ihren Job und damit ihre Krankenkasse verlieren. Sie können entweder eine der neuen, subventionierten Krankenversicherungen auf einem Online-Marktplatz kaufen, oder sie bewerben sich für Medicaid, der staatlichen Krankenversicherung für Einkommensschwache.“
Obamacare hatte verfügt, dass alle 50 Bundesstaaten das Medicaid-Programm erweitern. Doch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs erklärte 2012 die Erweiterung für optional. Und so können sich einige Bundesstaaten weigern, mehr Menschen in die staatliche Medicaid-Versicherung aufzunehmen. 12 Staaten tun genau das – darunter Florida, Texas und Georgia. Deren Gouverneure sind Republikaner.
Auch deshalb erleben gemeinnützige Ambulanzen wie Mercy Care in Georgias Hauptstadt Atlanta eine steigende Nachfrage.
Und deshalb kommen Patienten wie Ortencía nach ihrem schlimmen Treppensturz hierher. Sie konnte sich keine Versicherung auf dem freien Markt leisten, war aber nach den Regeln des Staates Georgia nicht arm genug, um sich für Medicaid zu qualifizieren.
Eine Schwester ruft ihren Namen auf. Heute sei sie hier, weil sie Rezepte für all ihre Medikamente benötige, vor allem ihre Diabetesmittel. Sie wisse nicht, ob sie ohne die medizinische Versorgung bei Mercy Care überhaupt noch am Leben wäre.
Geheilter Krebspatient dank Versicherung
Ganz anders sieht die Situation für die Amerikaner aus, die über ihren Arbeitgeber krankenversichert sind – wie rund die Hälfte der Bevölkerung – oder die sich eine gute private Versicherung leisten könnten. Sie müssen sich keine Sorgen machen über die Kosten des Krankseins:
Bradley zum Beispiel. 48 Jahre, ein jungenhafter Typ. Er ist im Management eines Stromversorgers in Atlanta tätig. Vor fünf Jahren bekam er die Diagnose: Lymphdrüsenkrebs.
Nach der Diagnose sei alles sehr schnell gegangen, erinnert er sich. Sein Hirn habe auf einen Problemlösungsmodus geschaltet. Weil er so jung war, wählten die Ärzte einen aggressiven Behandlungsansatz.
„Ich habe einen Cocktail aus Chemotherapie und Immuntherapie bekommen, alle drei Wochen, sechs Runden. Danach folgte eine Art Wartungstherapie, eine Infusion alle zwei Monate, zwei Jahre lang. Das war’s.“
Heute ist er krebsfrei. Seine Behandlung kostete rund 300.000 Dollar. Die Versicherung zahlte – ohne Nachfragen oder Beanstandung.
„Meine medizinische Versorgung hätte nicht besser sein können. Ich hatte zu keinem Zeitpunkt Angst zu sterben. Und ich musste auch nicht fürchten, dass die Behandlungskosten mich oder meine Familie ruinieren würden. Ich konnte mich nur darauf konzentrieren, gesund zu werden.“
Das ist nicht selbstverständlich, denn noch immer sind in den USA Gesundheitskosten der Hauptgrund für Privatinsolvenz.
Bradley neigt politisch eher den Republikanern zu. Während seiner Krebsbehandlung habe er das erste Mal über die Kosten von medizinischer Versorgung nachgedacht, räumt er ein.
„Ich saß in diesem Raum mit Menschen, die alle Krebs hatten, jeder mit einer anderen Geschichte. Sie alle bekamen eine Behandlung, und ich habe mich gefragt: Wie bezahlen Leute dafür, wenn sie keine Versicherung haben oder keine gute Versicherung?“
Heute gilt Bradley als Patient mit einer „pre-existing condition“, einer Vorerkrankung. Bevor Obamacare zum Gesetz wurde, konnten Krankenkassen Patienten wie ihn – also potenziell teure Versicherte – abweisen oder Prämien in astronomischen Höhen verlangen. Das ist seit der Einführung von Obamacare untersagt.
Seine eigene Erfahrung habe ihm jedenfalls die Augen geöffnet, sagt Bradley und erklärt, was er sich für die Zukunft des US-Gesundheitssystems wünsche:
Jeder Mensch, egal welches Alter, Geschlecht oder Hautfarbe – müsse die Möglichkeit haben, eine medizinische Behandlung zu bekommen. Jeder, ohne Ausnahme.
Gesundheitspolitik von Trump und Biden
So wie Bradley denken offenbar viele Amerikaner. Gesundheitsversorgung steht Umfragen zufolge ganz oben auf der Prioritätenliste der Wähler, und das nicht erst seit Corona.
Unklar ist jedoch, welche Richtung die Gesundheitspolitik in den USA künftig einschlagen wird. Trump verspricht seit Jahren und jetzt wieder im Wahlkampf, er werde Obamacare mit einem – Zitat: „wundervollen, fantastischen neuen Plan“ – ersetzen. Doch wie der genau aussehen soll, hat er bislang nicht verraten. Gesundheitsexperte McDonough:
„Weil der Plan nicht existiert. Die Republikaner haben einen grundsätzlichen Konflikt: Auf der einen Seite wollen sie nichts lieber, als Obamacare in Trümmer zu legen, und wenn nur, weil sie den Namensgeber so sehr hassen. Aber sie haben sich auch nach all den Jahren auf keine Alternative geeinigt, die sie der amerikanischen Öffentlichkeit vorlegen könnten.“
Trumps demokratischer Herausforderer, Obamas ehemaliger Vizepräsident Joe Biden, will auf Obamacare aufbauen, die Reform vertiefen und um eine gesetzliche Versicherungsoption erweitern. Dabei will er den Bürgern die Wahl lassen, sich weiterhin über ihren Arbeitgeber oder auf dem freien Markt zu versichern. Ein Modell, das dem deutschen nicht unähnlich ist.
Bidens schärfster demokratischer Widersacher bei den Vorwahlen, der linksgerichtete Senator Bernie Sanders wollte dagegen die staatliche Krankenversicherung für Rentner auf alle ausweiten – mit dem Schlagwort „Medicare for All“, und zwar ohne private Option. Doch das sei Revolution statt Reform, sagt McDonough – und vielen Amerikanern zu radikal.
Urteil vom Obersten Gericht könnte Obamacare kippen
Und selbst wenn Biden die Wahlen für sich entscheidet, könnte sich kurz vor dem Amtswechsel noch eine andere Hürde auftun:
„Beim Supreme Court ist eine Klage gegen die Verfassungsmäßigkeit von Obamacare anhängig. Die Anhörung ist für den 10. November angesetzt, sieben Tage nach den Wahlen. Sollte das Oberste Gericht der Klage stattgeben, könnte das Urteil Obamacare komplett aus den Angeln heben. Die Zukunft des Gesetzes hängt also in der Luft.“
Kippt Obamacare, dann droht Millionen US-Bürgern der Versicherungsverlust. Und die gemeinnützigen Dienste wären dann noch gefragter.
Dr. Catherine Christie bei Mercy Care in Atlanta lässt sich von gerichtlichen oder politischen Entscheidungen nicht beunruhigen.
„Die öffentlichen Gesundheitszentren arbeiten seit den 1960er-Jahren an der vordersten Front der Gesundheitsversorgung. Wir werden nicht verschwinden. Es gibt verschiedene Finanzierungsströme, und ich bin sicher, dass wir auch weiterhin parteiübergreifende Unterstützung im Kongress haben werden. Das war schon immer der Fall.“
Schließlich sind Orte wie Mercy Care das letzte Sicherheitsnetz im amerikanischen Gesundheitssystem.
© Deutschlandradio | Katja Ridderbusch