1. November 2020

Wie Corona die Skepsis der Amerikaner in ihre Gesundheitsbehörden schürt

Das Missmanagement der Pandemie durch die Trump-Administration und Pannen im eigenen Haus haben die Autorität der Seuchenschutzbehörde und anderer Einrichtungen untergraben

Katja Ridderbusch aus Atlanta 

Nur noch ein paar Tage bis zur Präsidentschaftswahl, und parallel zum anschwellenden politischen Crescendo steigen auch die Corona-Infektionszahlen in den USA. Politische Beobachter sind sich einig: Wer auch immer die Wahl gewinnt, die Pandemie wird ein entscheidender Faktor sein.

Ich lebe in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia. In normalen Zeiten liegt Atlanta eher an der politischen Peripherie. Aber in diesem Jahr fühle ich mich manchmal wie im Auge des Sturms – in diesem Fall: des öffentlichen Gesundheitssturms. Nicht weil Georgia aktuell so viele Neuinfektionen hat, sondern weil sich in Atlanta das Hauptquartier der CDC (Centers for Disease Control and Prevention), der zentralen Gesundheits- und Seuchenschutzbehörde der USA, befindet.

Fahnenträger für Gesundheitsfürsorge

Die CDC, 1947 als Agentur zur Malariabekämpfung gegründet, war in den 1970er-Jahren führend in der globalen Impfkampagne zur Ausrottung der Pocken. Sie spielte eine Schlüsselrolle im Kampf gegen Infektionskrankheiten wie Masern, Zika und Ebola. Die CDC war nie nur eine amerikanische Behörde, sie war immer auch weltweiter Fahnenträger für Public Health, öffentliche Gesundheitsfürsorge.

Deshalb sei die CDC prädestiniert gewesen, auch bei der Eindämmung von Covid-19 eine globale Führungsrolle zu übernehmen, sagte mir Carlos del Rio, Professor für Public Health an der Emory University in Atlanta: "Denn die CDC hat große Autorität." Doch diesmal kam es anders. Die Behörde sei Opfer der politischen Ränke und ihres eigenen Versagens geworden.

Briefings eingestellt

Im Februar hatte eine CDC-Epidemiologin in einem öffentlichen Briefing betont, Amerika müsse sich "darauf einrichten, dass es schlimm werden könnte". Worte, die im eklatanten Widerspruch zu der Botschaft standen, die Präsident Donald Trump verbreiten wollte: Wir haben das Virus im Griff.

Die CDC stellte ihre Pressebriefings für eine Zeitlang ein; es gab Berichte, die Regierung habe der Behörde einen Maulkorb verpasst, sie de facto kaltgestellt. Hinzu kam: Die Covid-Tests, die die CDC im Februar entwickelte und verteilte, erwiesen sich als grob fehlerhaft – und trugen zur Verzögerung beim Aufbau einer landesweiten Test-Infrastruktur bei – eine Verzögerung, von der sich die USA bis heute nicht erholt hat. "Die CDC hat ihre Führungsrolle in der öffentlichen Gesundheitsfürsorge verloren", sagte del Rio – "mit schwerwiegenden Folgen."

Spielball der Politik

Zum Beispiel, dass ohne konsistente Leitlinien der CDC die Gesundheitsbehörden der Bundesstaaten und Kommunen, die für die Umsetzung der Maßnahmen zuständig sind, zum Spielball der Gouverneure und Lokalpolitiker wurden. Ausgerechnet in Georgia kam es im Sommer zum – mittlerweile berühmt-berüchtigten – Maskenstreit: Die demokratische Bürgermeisterin von Atlanta, Keisha Lance Bottoms, wollte für ihre Stadt eine Maskenpflicht durchsetzen; der republikanische Gouverneur Brian Kemp hob die Verordnung auf. Der Streit ließ die Machtlosigkeit der CDC im eigenen Revier krass zu Tage treten.

Epidemiologen wie Carlos del Rio und viele seiner Kollegen tun ihr Bestes, um über Sinn und Notwendigkeit öffentlicher Gesundheitsmaßnahmen aufzuklären. Sie twittern tapfer oder erklären geduldig als wissenschaftlicher Berater für Sport- oder Kulturveranstaltungen – so wie del Rio jüngst für die Atlanta Opera –, wie Zuschauer sich bei Outdoor-Events effektiv schützen können.

Weniger Impffreunde

Doch der Schaden ist angerichtet. Einer Pew-Umfrage zufolge wächst die Skepsis der Amerikaner gegenüber einem Corona-Impfstoff. Nur etwa die Hälfte der US-Bürger erklärte vor kurzem, dass sie sich gegen Covid-19 impfen lassen würden – 20 Prozent weniger als noch im Mai.

Doch nicht alle diese Leute sind Verschwörungstheoretiker oder "Anti-Vaxxers", eifernde Impfgegner. Das Misstrauen ist besonders in marginalisierten Bevölkerungsgruppen groß – bei Afroamerikanern oder Latinos beispielsweise, die anfällig für schwere Covid-Verläufe sind.

Das überrascht nur auf den ersten Blick. Vor allem bei Afroamerikanern klingt noch das Echo der menschenverachtenden Tuskegee-Studie nach. Zwischen 1932 und 1972 hatten Wissenschaftler 400 schwarzen Farmpächtern in Alabama, die an Syphilis erkrankt waren, Placebos verabreicht, um den Verlauf einer unbehandelten Infektion zu studieren. Durchgeführt wurde das Experiment von Behörden des US-Gesundheitsministeriums, unter anderem von der CDC. Kein Wunder also, dass das Misstrauen gegenüber staatlichen Gesundheitsagenturen groß ist.

Corona, so viel ist sicher, wird die Wahlnacht sowie die Monate danach überdauern. Und die Folgen des verpfuschten Pandemiemanagements werden lange Schatten werfen – nicht nur, aber auch in Atlanta. 

 

18. Oktober 2020

Nach 28 Jahren könnte Georgia zum Swing State werden

In dem traditionell republikanisch dominierten Südstaat liegt Biden Umfragen zufolge vor Trump. Der Grund: Die Hauptstadt Atlanta

Katja Ridderbusch aus Atlanta

"Georgia On My Mind" – das ist für mich mehr als ein großartiger Jazzstandard, vielmehr Alltag seit 15 Jahren, seit ich aus Europa in die USA ausgewandert bin – nach Atlanta, in die Hauptstadt des Bundesstaates im Süden, dessen Symbol der Pfirsich ist. Seither versuche ich Georgia jenseits der zahlreichen Klischees, der guten und der weniger guten, zu durchdringen.

Georgia – das ist die Heimat von Baumwolle und Blues, "Vom Winde Verweht", Martin Luther King und Jimmy Carter. Hier feierte der rassistische Ku-Klux-Klan 1915 seine Wiedergeburt, hier befinden sich die Firmensitze von Coca-Cola und CNN. 

Erst im Frühjahr machte Georgia internationale Schlagzeilen, als der republikanische Gouverneur Brian Kemp in einem Versuch, Präsident Donald Trumps laxes Corona-Management noch zu übertrumpfen, als erster US-Bundesstaat die Wirtschaft wieder öffnete – beginnend mit Friseur- und Massagesalons, Tattoo- und Fitnessstudios. Ich habe mich ein bisschen fremdgeschämt für meinen Heimatstaat – und in dem Zusammenhang gemerkt, dass es für das Wort Fremdschämen keine wirkliche Entsprechung im Englischen gibt.

Möglicher Swing State

Aber jetzt sorgt Georgia für Schlagzeilen der anderen Art. Nach 28 Jahren republikanischer Dominanz könnte Georgia bei den Wahlen am 3. November zum Swing State werden, also zum Staat, in dem die Machtverhältnisse kippen – in diesem Fall: zugunsten der Demokraten. Das letzte Mal, als Georgia für einen demokratischen Präsidenten gestimmt hatte, war 1992 – und zwar für den Südstaatler Bill Clinton. Georgia hat 16 Wahlmännerstimmen zu vergeben, und nach dem amerikanischen Wahlrecht gilt das Prinzip: The winner takes it all.

Bereits vor vier Jahren war das Rennen zwischen Donald Trump und Hillary Clinton in Georgia knapper ausgefallen als bei den Präsidentschaftswahlen davor – mit 50,4 zu 45,3 Prozent für Trump. Dieses Mal, da sind sich viele Wahlexperten einig, stehen die Chancen für die Demokraten und ihren Kandidaten Joe Biden besser. 

"Es gibt gute Gründe, im November genau auf Georgia zu schauen," sagt Andra Gillespie, Politikwissenschafterin an der Emory-Universität in Atlanta. Aktuelle Umfragen sehen Biden in Georgia mit einem leichten Vorsprung vor Trump – aber das war 2016 durchaus ähnlich für Hillary Clinton. Dann kam es anders, und deshalb halten zumindest demokratische Wähler ihre Erwartungen behutsam in Schach.

Rasches Wachstum

Es gibt jedoch einige Trends und Indikatoren, die auf eine Verschiebung der politischen Machtverhältnisse hindeuten. Zwar wählen die ländlichen Regionen in Georgia traditionell republikanisch, doch die Metropole Atlanta ist seit langem eine demokratische Insel. Die demokratische Bürgermeisterin von Atlanta, Keisha Lance Bottoms, wurde kurzzeitig als Vizepräsidentschaftskandidatin von Joe Biden gehandelt. In den vergangenen zehn Jahren ist die Metropolregion Atlanta nicht nur rasant gewachsen – von 5,3 auf 6 Millionen Einwohner. 

Viele der Zugezogenen, vor allem die Jüngeren, reflektieren auch die zunehmende ethnische Vielfalt des Landes. Auch in den Suburbs, den Vorstädten, die lange Zeit weitgehend in republikanischer Hand waren, ändert sich die demografische Zusammensetzung und damit auch das Wählerverhalten – ein Trend nicht nur in Atlanta, sondern in vielen amerikanischen Städten.

Hinzu kommt: Georgia hat einen starken schwarzen Bevölkerungsanteil. Afroamerikaner machen 54 Prozent der Bevölkerung in Atlanta aus und 32 Prozent in Georgia. Der Landesdurchschnitt liegt bei gut 13 Prozent. Schwarze Amerikaner stimmen mit 80 bis 90 Prozent für die Demokraten.

Hohe Beteiligung

Die Wahlbeteiligung dürfte in diesem Jahr höher sein als sonst, erwartet Gillespie. Die Briefwahl ist bereits in vollem Gang, und seit dem 12. Oktober kann man in Georgia auch zum early voting gehen, zur Frühwahl. Ich habe gleich am ersten Tag gewählt und hatte Glück, weil die Schlangen kurz waren – aber einige Freunde und Kollegen standen bis zu fünf Stunden an, um ihre Stimmen abzugeben.

Bereits die Gouverneurswahl in Georgia von 2018 gab einen Vorgeschmack darauf, dass sich der politische Wind in dem Bundesstaat drehen könnte. Die demokratische Kandidatin Stacey Abrams verlor mit einer hauchdünnen Mehrheit von knapp 55.000 Stimmen gegen den Republikaner Kemp. Schließlich stehen am 3. November auch die beiden bislang republikanisch besetzten Senatssitze von Georgia zur Abstimmung, und in beiden Fällen liegen die demokratischen Kandidaten nach Umfragen vorn. 

Georgia on our minds: Der Pfirsichstaat hat am 3. November jedenfalls einen Logenplatz auf dem Radar all derjenigen, die die Präsidentschaftswahl mit Interesse und Bangen beobachten. 

 

13. Oktober 2020

Trumps Corona-Management sät Zweifel unter Evangelikalen

Weiße konservative Protestanten gelten als treue Anhänger des US-Präsidenten. Doch sein Umgang mit dem Virus lässt die Zustimmung selbst unter seinen loyalsten Wählern sinken

Katja Ridderbusch aus Atlanta 

Als Covid-19 Donald Trump heimsuchte, nahm der amerikanische Präsident Gott in den Schwitzkasten. Gerade vom Krankenlager auferstanden, pries er das experimentelle Antikörpermedikament, das er erhielt, als einen "Segen Gottes" und ein "Wunder, wie von Gott gesandt". Gott zieht immer, dachte Trump vermutlich, und tatsächlich spielt Religion eine wichtige Rolle im Leben und im Alltag der Amerikaner – obwohl die Gesamtzahl der US-Bürger, die sich einer Glaubensgemeinschaft zugehörig fühlen, seit Jahren rückläufig ist.

In Atlanta, Georgia zum Beispiel, wo ich lebe, mitten im Bible Belt, dem Bibelgürtel des Landes. Hier stehen an einer Kreuzung in der Innenstadt nur wenige Meter voneinander entfernt eine Baptistenkirche und zwei Kathedralen, eine episkopale und eine katholische. "Amen Corner" heißt das fromme Eck im Volksmund. Und selbst im Fitnessstudio verabschiedet sich die Aerobic-Trainerin ganz selbstverständlich mit "God bless".

Sinkende Zustimmung

Doch Trumps aktuellste Verbrüderung mit Gott könnte zum Bumerang werden. Der Medikamentencocktail, den der Präsident bekam, wurde aus Zelllinien entwickelt, die dem Gewebe abgetriebener Föten entstammen. Das dürfte seiner treuesten Wählergruppe, den weißen konservativen Evangelikalen, nicht gefallen. Schließlich sind sie radikale Abtreibungsgegner. 2016 hatten sie noch mit 81 Prozent für Trump gestimmt.

Zufall oder nicht, dass die Trutzburg der gottesfürchtigen Trump-Getreuen zu bröckeln beginnt. Eine Umfrage des Public Religion Research Institute kam bereits im Juli zu dem Ergebnis, dass die Zustimmung der weißen Evangelikalen für Trump um sieben Prozentpunkte gesunken sei.

"Mangel an Anstand"

Der Trend könnte sich fortsetzen, nachdem sich vor wenigen Tagen 1.600 hochrangige Kirchenführer offen für Joe Biden ausgesprochen haben, darunter auch ehemalige Trump-Anhänger sowie Jerushah Duford, die Enkelin des 2018 verstorbenen evangelikalen Fernsehpredigers Billy Graham. In einer Erklärung geißeln die Kirchenführer Trumps "Mangel an Anstand und Demut" sowie seine "Grausamkeit und Korruption".

Dennoch: Viele Beobachter erwarten nicht, dass die Stellungnahme der Kirchenführer das Verhalten der weißen Evangelikalen – die etwa ein Viertel der amerikanischen Wählerschaft ausmachen – an der Urne grundsätzlich ändern wird. "Die Mehrheit wird für Trump stimmen, ganz egal was er tut", sagte mir David Gushee, Moraltheologe an der Mercer University in Atlanta. "Das ist wie ein Kult."

Drei Gründe für Trump

Wie aber können Menschen mit derart strikten Moralvorstellungen einen moralisch so fragwürdigen Präsidenten unterstützen? Das habe ich den Religionssoziologen Philip Gorski gefragt, der ein Buch dazu geschrieben hat, "Am Scheideweg".

Er nannte drei Gründe: Für viele Evangelikale sei das "eine Art Tauschgeschäft": Trump ernennt konservative Richter für den Supreme Court, die das liberale Abtreibungsrecht kippen könnten; dafür bekommt er evangelikale Stimmen. Andere wählen Trump, weil sie die Demokraten hassen. Vor allem, sagt Gorski, vereine Trump und seine evangelikalen Anhänger die Ideologie des weißen christlichen Nationalismus – "die Überzeugung, dass Amerika von weißen Christen aufgebaut wurde und dass deren Welt bedroht ist – durch Immigranten, Kommunisten, Atheisten". Für viele Evangelikale sei Trump der gottgesandte Retter.

Kein kohärenter Block

Doch Gorski ist optimistischer als sein Kollege Gushee. Er setzt darauf, dass evangelikale Christen in den USA noch nie ein kohärenter Block waren. Zwar ist die Mehrheit der Evangelikalen theologisch und politisch konservativ. Aber nicht alle. Da sind die schwarzen Evangelikalen. Der Baptistenprediger und Bürgerrechtsführer Martin Luther King Jr. war einer von ihnen. Raphael Warnock, ein Nachfolger Kings als Pastor der Ebenezer Baptist Church in Atlanta, tritt als Kandidat der Demokraten für den US-Senat an. Erklärte Linksevangelikale wie der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter verknüpfen ihren Glauben mit sozialem Engagement.

Vor allem unter jüngeren Evangelikalen wächst der Unmut über ihre Trump-treuen Glaubensgenossen, die das evangelikale Etikett, wie sie meinen, gekapert haben. Meine Nachbarin Ally, Reporterin für ein Lifestyle-Magazin und Mitglied einer modernen Baptistengemeinde, bedachte vor kurzem, nach dem zweiten Glas Wein in meinem Garten, den Präsidenten mit einem Satz, wie ihn nur der amerikanische Süden hervorbringen kann, zuckersüß und bitterbös': Bless his heart. Gott segne seine Seele. 

 

29. September 2020

Das Warten auf den großen Umsturz im Geburtsort von Martin Luther King

Atlanta ist Hort der Bürgerrechtsbewegung und Hochburg schwarzer Geschäftsleute und Künstler. Dennoch haben die Aktivisten von Black Lives Matter hier einen schweren Stand

Katja Ridderbusch aus Atlanta

Seit die Black-Lives-Matter-Bewegung in Amerikas Städten ihre Faust gegen Polizeigewalt und soziale Unterdrückung erhebt, meinen einige meiner Kollegen in Europa, ich säße im Auge des kommenden sozialen Umsturzes. Warum? Weil ich in Atlanta lebe: dem Hort der Bürgerrechtsbewegung, jener Metropole im Süden der USA, die den Beinamen Black Mekka trägt. Ein Missverständnis, das nach Aufklärung verlangt.

Tatsächlich ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung von Atlanta schwarz. Hier gibt es eine robuste schwarze Mittelklasse, eine beträchtliche Zahl schwarzer Millionäre, erfolgreiche schwarze Geschäftsleute und Künstler. Atlanta ist ein Zentrum des Hip-Hop; der schwarze Filmproduzent Tyler Perry hat in Atlanta sein Entertainment-Imperium errichtet. Hier gibt es schwarze Universitäten. Die Bürgermeister der Stadt sind seit Jahrzehnten schwarz.

Zugleich klafft in Atlanta die Einkommensschere weiter auseinander als in jeder anderen Metropole der USA, wie ein Bloomberg-Report feststellte. Soziale Ungleichheit schlägt tiefe Schneisen durch die Stadt. Weiße, Schwarze und Hispanics leben hier immer noch in weitgehend voneinander getrennten Wohngebieten.

Gespaltene afroamerikanische Community

Auch in Atlanta zogen im Frühsommer die Aktivisten von Black Lives Matter durch die Straßen. Im Juni starb der Afroamerikaner Rayshard Brooks durch die Kugeln eines Polizisten. Dennoch wurde Atlanta nicht zur Hochburg der Protestbewegung – und das, obwohl die Stadt mit dem Kampf für Bürgerrechte verbunden ist wie kaum eine andere: Hier wurde der Baptistenprediger Martin Luther King geboren, von hier aus organisierte er die Märsche, hier wurde er begraben. Obwohl – oder vielleicht gerade: weil?

Am Beispiel Atlanta wird deutlich: Nicht nur die amerikanische Gesellschaft als Ganzes ist tief gespalten; auch die afroamerikanische Community, die knapp 13 Prozent der US-Bevölkerung ausmacht, ist alles andere als ein monolithischer Block.

Das Schisma zwischen den schwarzen Eliten und unterprivilegierten Afroamerikanern ist tief in die Sozialgeschichte der Stadt eingewoben. Nach Ende des Sezessionskrieges, als Atlanta in Asche lag, entschieden sich viele ehemalige Sklaven, an dem wirtschaftlichen Boom, der häufig Krieg und Zerstörung folgt, teilzuhaben. Der Preis dafür war, dass die aufstrebenden Afroamerikaner das System der Rassentrennung akzeptierten, ein System, das die politische Macht der weißen Amerikaner zunächst weiter festschrieb.

Der "Atlanta-Kompromiss"

Es war die Geburt einer Strategie, die Historiker als den "Atlanta-Kompromiss" bezeichnen. Dazu passte der Slogan, mit dem die Stadt in den 1950er-Jahre warb – the city too busy to hate –, eine Business-orientierte Metropole, die ihre rassistische Vergangenheit hinter sich gelassen hat und einer prosperierenden Zukunft entgegenstrebt. Die Wirklichkeit sah anders aus.

Während der Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre setzten Martin Luther King und seine Mistreiter auf Gewaltfreiheit, Pragmatismus und Integration – eine Strategie, die nicht bei allen Afroamerikanern ankam: Malcolm X, der sich für einen radikalen und, wenn notwendig, gewaltsamen Widerstand aussprach, nannte King abfällig einen "Hausneger". Black Lives Matter steht eher in der Tradition von Malcolm X als Martin Luther King.

Auch Kings politische Erben in Atlanta lehnen radikale Lösungen ab. Andrew Young, Kings ehemaliger Weggefährte und späterer Bürgermeister von Atlanta, nannte die Black-Lives-Matter-Aktivisten "unsympathische, verzogene Gören". Nur sein hohes Alter und seine historische Rolle bewahrten ihn vor einem allzu üblen Shitstorm.

Die amtierende schwarze Bürgermeisterin von Atlanta, Keisha Lance Bottoms, richtete Ende Mai einen Appell an plündernde Demonstranten: "Wenn ihr eure Stadt liebt, geht nach Hause." Einige Aktivisten warfen der Bürgermeisterin vor, Black Lives Matter in den Rücken zu fallen. Bis der Umsturz nach Atlanta kommt, dürfte es also noch etwas dauern.

© Der Standard / Katja Ridderbusch