17. September 2023
Polizisten, Feuerwehrkräfte und andere Ersthelfer erleben bei der Arbeit Schreckliches. Was macht Hilfskräfte psychisch stark, und wie bleiben sie gesund?
Von Katja Ridderbusch
Die Einsätze mit Kindern sind die schlimmsten, sagt Anthony Scrimo. Wie der Autounfall, zu dem der US-amerikanische Polizist vor Kurzem gerufen wurde. Es war nachts, der Highway nass vom Regen. Die beiden Erwachsenen auf den Vordersitzen waren tot, auf der Rückbank des zerstörten Wagens lag ein Kindersitz. Leer. Scrimo und seine Kollegen begannen, nach dem Kind zu suchen, zwischen geborstenen Leitplanken, Splittern des Autos und Leichenteilen.
Scrimo ist 36 Jahre alt, sein Bart ist grau, seine Statur ist kompakt. Er arbeitet beim Cobb County Police Department nahe Atlanta im amerikanischen Bundesstaat Georgia. In den neun Jahren, die er schon als Streifenpolizist tätig ist, hat er viele vernachlässigte, verletzte und auch tote Kinder gesehen. Er wurde gerufen, wenn Männer ihre Frauen verprügelten und Frauen ihre Männer, nach Unfällen, Drogendeals, Schießereien. Über die Bilder, Geräusche, Gerüche spricht er nur selten mit seiner Familie. Er sagt: „Sie könnten nicht begreifen, was ich bei jeder Schicht erlebe.“
Viele Polizisten, Feuerwehrkräfte und andere Ersthelfer werden durch ihre Arbeit psychisch krank. Doch die Risiken von Rettungsberufen für die mentale Gesundheit werden erst seit einigen Jahren öffentlich diskutiert. In den USA, wo die Gewaltkriminalität, vor allem durch die Verbreitung von Schusswaffen, deutlich höher ist als in Europa, investieren Behörden nun stärker in Initiativen zur Hilfestellung.
Gewalt gegen Polizisten nimmt zu
Auch in Deutschland haben Gewaltakte gegen Polizistinnen und Polizisten nach Angaben des Bundeskriminalamts zugenommen. „Die Belastungen des Polizeiberufs und die Notwendigkeit der psychosozialen Betreuung rücken immer stärker in den Fokus“, sagt Uwe Marquardt, Vizepräsident der Deutschen Hochschule der Polizei, kurz DHPol, in Münster. Doch wie kann man den traumatisierten Ersthelfern helfen?
Polizisten erfahren bei ihrer Arbeit „einen hohen Grad an akkumuliertem Stress“, sagt Mark Kirschner, klinischer Polizeipsychologe nahe New Haven im US-Bundesstaat Connecticut. Häufig verarbeiten sie diese Erlebnisse nicht.
In den USA wird seit Längerem zur physischen und psychischen Gesundheit von Polizisten geforscht. Schon Mitte der Achtzigerjahre hat eine Studie der University of Buffalo in New York gezeigt: Polizisten haben ein höheres Risiko, in jüngerem Alter an Herzinfarkten zu sterben als die durchschnittliche Bevölkerung. Umfragen zufolge leiden Polizisten öfter an chronischer Schlaflosigkeit, Angststörungen, Depressionen und Burnout. Fünfmal mehr Polizisten sind von einer posttraumatischen Belastungsstörung betroffen als Zivilisten. Experten schätzen, dass drei von zehn Polizisten in den USA unter einer Suchterkrankung leiden. Alkoholabhängigkeit steht ganz oben auf der Liste. Seit Jahren sterben mehr Polizisten durch Suizid als im Einsatz.
Polizisten genießen in den USA traditionell hohes Ansehen, doch dieses Bild bröckelt spätestens seit dem Tod von George Floyd im Jahr 2020 und den darauffolgenden Protesten gegen Polizeigewalt. Das drückt zusätzlich die Moral. Polizisten, die in den USA keinen Beamtenstatus haben, kündigen seither in Scharen. Behörden in New York, Los Angeles und Atlanta arbeiten ein Viertel oder mehr unter ihrer Sollstärke.
Gute Polizisten treffen schlechte Entscheidungen
Das ist ein gefährlicher Teufelskreis, sagt Polizeipsychologe Kirschner. Die verbliebenen Polizisten schieben Doppelschichten und Überstunden. „Wir schicken ausgebrannte und frustrierte Polizisten auf die Straßen, patrouillierende Zombies.“ Das könne begünstigen, „dass normalerweise gute Polizisten schlechte Entscheidungen treffen“, sagt Kirschner. Unangemessene Gewalt will er nicht entschuldigen, sagt der Psychologe, der seit mehr als 25 Jahren mit Polizisten arbeitet. Doch Studien zeigen, dass Burnout und Depressionen mit aggressivem Verhalten zusammenhängen können. Kirschner sagt: „Wenn wir als Gesellschaft die Qualität der Polizeiarbeit verbessern wollen, brauchen wir gesündere Polizisten.“
Wie innerhalb der Polizei mit den psychischen Auswirkungen des Berufs umgegangen wird, variiert in den USA stark, entsprechend der hyperdezentralen Natur des amerikanischen Polizeiwesens. In den Vereinigten Staaten arbeiten rund 800.000 Polizisten in 18.000 unabhängigen kommunalen, regionalen, einzel- und bundesstaatlichen Behörden. Personalmangel, begrenzte Budgets und Polizeichefs der alten Schule, die Investitionen in mentale Gesundheit für Zeit- und Geldverschwendung halten, bremsen Fortschritt vor allem in ländlicheren Teilen des Landes häufig aus, sagt Kirschner.
Dabei gibt es viele Innovationen und Konzepte: So bieten immer mehr Behörden Polizisten nach potentiell traumatisierenden Einsätzen – Schusswaffengebrauch, Amokläufe, Autounfälle mit Toten und Schwerverletzten – ein Critical Incident Stress Debriefing an. Das ist ein strukturierter Prozess, in dem die Beteiligten das Erlebte unter professioneller Anleitung aufarbeiten.
Viele Behörden arbeiten mit Seelsorgern und Psychologen. Die Herausforderung ist, sagt Kirschner, dass es an kompetenten Therapeuten mangelt, die die Welt der Polizisten kennen, deren Sprache sprechen, Codes und Trigger verstehen.
Sonst kann die Therapiesitzung schiefgehen: Kirschner berichtet von einem Polizisten, der beim Sandy-Hook-Schulmassaker 2012 in Connecticut als einer der ersten Einsatzkräfte am Tatort war. 26 Menschen starben bei dem Amoklauf, darunter 20 Kinder. Auf Drängen seiner Vorgesetzten suchte der Polizist eine renommierte, aber in der Polizeiarbeit unerfahrene Traumatherapeutin auf. Als sie seine Geschichte hörte, begann sie heftig zu weinen. Letztlich musste der Polizist seine Therapeutin beruhigen.
Psychotrainings und ihre Wirkung
Jüngere Polizisten sind zwar eher bereit, sich seelischen Beistand zu suchen, als ihre älteren Kollegen. Doch immer noch stehen viele der Idee skeptisch gegenüber, sich einem Fremden zu offenbaren. „Nach einer schlechten Erfahrung machen viele Polizisten dann endgültig dicht“, sagt Kirschner.
Das kraftvollste Instrument im Werkzeugkasten der psychosozialen Betreuung ist der sogenannte Peer Support, berichtet Psychologe Kirschner – die Unterstützung durch Kollegen. Als eine der ersten Behörden in Georgia hat das Cobb County Police Department seit 2016 ein Peer Support Team. Es besteht aus 40 Polizisten, die alle ein einwöchiges Training mit staatlicher Zertifizierung durchlaufen.
Anthony Scrimo war von Beginn an dabei. „Wir sind keine Therapeuten“, sagt er. „Was wir anbieten können, ist unsere persönliche Erfahrung im Umgang mit traumatischen Erlebnissen.“
Bevor er Polizist wurde, war Scrimo Soldat bei den US-Marines, kämpfte im Irak. Nach seiner Rückkehr wurde bei ihm eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert.
Die Gespräche im Peer Support würden streng vertraulich behandelt. Meist gehe es um Beziehungsprobleme, um finanzielle Sorgen, um schwere Einsätze, um Alpträume und Alkoholkonsum und manchmal um Gedanken an Suizid. „Ich mache keine Notizen“, sagt Scrimo. „Ich erinnere mich nicht mal genau, mit wem und über was ich vor ein paar Tagen gesprochen habe.“
Aber manchmal reichen die Gespräche mit Kollegen nicht aus. So ist in den USA ein kleines Netzwerk aus Kliniken für Ersthelfer mit einem Fokus auf Sucht- und Traumatherapie entstanden. Die Ärzte, Therapeuten und Pfleger hier waren früher selbst im Einsatz, etwa bei der Feuerwehr, Polizei oder dem Militär.
Sogar Therapiehunde werden eingesetzt
Vorbild für viele Polizeibehörden, die ihre Angestellten seelisch unterstützen wollen, ist das Indianapolis Metropolitan Police Department. Die Behörde mit 1500 Polizisten im Bundesstaat Indiana führte 2010 eine Wellness Unit ein, eine Einheit zum psychischen Wohlergehen. Hier arbeiten hauptamtlich fünf Polizisten und zwei Seelsorger, unterstützt von einem Netzwerk aus polizeipsychologisch geschulten Therapeuten. Das Wellness Unit bündelt Maßnahmen zur mentalen Fürsorge, Resilienz und Krisenbetreuung – von Training und Mentoring über Peer Support bis zu Yogakursen und Ernährungsberatung.
Viele der Angebote können Polizisten während der Dienstzeit wahrnehmen oder auch unentgeltlich in ihrer Freizeit, gemeinsam mit ihren Familien. Außerdem hat die Behörde zwei Therapiehunde, Labradoodle Gus und Labrador Allie, die den verschiedenen Polizeirevieren regelmäßig Besuche abstatten.
Auch kleinere Behörden werden kreativ. Die Polizei in Marietta, einer Kleinstadt im Nordwesten von Atlanta, richtete für ihre 140 Mitarbeiter vor Kurzem einen Entspannungsraum ein – mit Massagesessel, Meditationsmusik und ätherischen Ölen. Hier können Cops während oder nach einer belastenden Schicht eine Pause einlegen.
In Deutschland verfolgen die Polizeibehörden einen strukturierteren Ansatz, doch man orientiert sich mitunter an den USA. Die Polizei in Nordrhein-Westfalen ist mit 50.000 Mitarbeitern die größte Länderpolizei in Deutschland. Hier gibt es schon seit rund 30 Jahren ein Betreuungsteam zur psychosozialen Unterstützung. Auch hier finden Critical Incident Debriefings nach dem amerikanischen Modell statt. Bei Bedarf stehen Polizeiseelsorger und Psychologen zur Verfügung. Es gibt ein Peer-Support-System, das derzeit weiter ausgebaut wird. Die Polizeibehörden anderer Bundesländer verfolgen ähnliche Konzepte.
Personalmangel ist ein kritischer Faktor
In der Aus- und Weiterbildung von Polizisten in Deutschland ist mentale Gesundheit zunehmend fest verankert, sagt Uwe Marquardt von der DHPol. Die Hochschule bildet in einem zweijährigen Master-Studiengang Führungskräfte der Polizei aus. Es geht um ethische Aspekte – um den Umgang mit Tod, Trauma und Elend –, aber auch um Verantwortung und Schuld. Es geht um persönliche Resilienz. Im Polizeijargon heißt das: seelische Eigensicherung. Und es geht um die Fürsorgepflicht von Führungskräften gegenüber Mitarbeitenden.
„Fürsorge ist ein unabdingbares moralisches Gebot“, sagt Marquardt. „Fürsorge ist aber auch ökonomisch sinnvoll.“ Das heißt: Wer sich gut behandelt fühlt, leistet effizientere Arbeit. Deshalb müsse Resilienz auch intern ansetzen, bei der Zusammenarbeit innerhalb der Teams. Eine im Frühjahr veröffentlichte Studie über „Motivation, Einstellung und Gewalt im Alltag von Polizeivollzugsbeamten“, vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegeben und von der DHPol durchgeführt, ergab, dass Bürokratie und Personalmangel neben belastenden Einsätzen zu den größten Stressfaktoren zählen.
Ob Gespräche mit Psychologen, Resilienztraining, Yoga und Therapiehunde die mentale Gesundheit von Einsatzkräften langfristig schützen können, ist noch unklar. Die Wirksamkeit solcher Maßnahmen sei schwer zu messen, sagt Kirschner. Tatsache aber sei: Die Zahl von Programmen zur psychologischen Betreuung in US-Polizeibehörden nimmt zu, das Stigma bröckelt, die Akzeptanz steigt. „Initiativen wie Peer Support waren vor zehn Jahren noch eine Ausnahme“, sagt Kirschner.
In Georgia suchten der Polizist Anthony Scrimo und seine Kollegen bei ihrem nächtlichen Einsatz nach dem Autounfall übrigens vergeblich nach dem Kind. Es stellte sich heraus, dass das Kind nicht im Auto gesessen hatte und zu Hause in Sicherheit war. „Wir waren sehr erleichtert“, sagt Scrimo. Doch der leere Kindersitz im Wrack wird ihm im Gedächtnis bleiben, sich einreihen in eine Galerie der vielen anderen verstörenden Bilder. „Aber es ist gut zu wissen: Ich bin nicht allein damit.“
© F.A.S. / Katja Ridderbusch